MKL1888:Schopenhauer
[605] Schopenhauer, 1) Johanna, Romanschriftstellerin, geboren im Juli 1770 zu Danzig, Tochter des Senators Trosina, wurde früh an den Bankier S. verheiratet und unternahm mit demselben mehrere größere Reisen durch einen großen Teil Europas. Nach dem Tod ihres Gemahls wandte sie sich 1806 nach Weimar, wo sich bald ein geselliger Kreis um sie bildete, in dem auch Goethe vielfach verkehrte. Von 1832 bis 1837 lebte sie in Bonn, dann in Jena, wo sie 18. April 1838 starb. Sie lieferte Reisebeschreibungen, Romane und Charakteristiken, die durch feine Beobachtung und anziehende Darstellung den Beifall der Lesewelt fanden. Ihre „Sämtlichen Schriften“ erschienen in 24 Bänden (Leipz. u. Frankf. 1830–31), ihr litterarischer Nachlaß unter dem Titel: „Jugendleben und Wanderbilder“ (Braunschw. 1839, 2 Bde.; neu hrsg. von Cosack, Danz. 1884). Vgl. Düntzer, Goethes erste Beziehungen zu Johanna S. (im 1. Bd. der „Abhandlungen zu Goethes Leben“, Leipz. 1885). – Ihre Tochter Adele S., geb. 1796 zu Hamburg, gest. 25. Aug. 1849 in Bonn, erwies sich in „Haus-, Wald- u. Feldmärchen“ (Leipz. 1844) und in den Romanen „Anna“ (das. 1845), „Eine dänische Geschichte“ (Braunschw. 1848) als gewandte Erzählerin.
2) Arthur, berühmter deutscher Philosoph, Sohn der vorigen, geb. 22. Febr. 1788 zu Danzig in reicher Handelsfamilie, bildete sich auf Reisen sowie in England und Frankreich für den Kaufmannsstand, entschied sich nach dem Tod seines Vaters für die Gelehrtenlaufbahn, ließ sich in Göttingen, 21 Jahre alt, als „Philosoph“ immatrikulieren, studierte daselbst, in Berlin, wo Fichte ihn abstieß, und in Jena, ging nach Vollendung seines Hauptwerks: „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Leipz. 1819), nach Italien, habilitierte sich dann an der Universität Berlin ohne Erfolg und zog sich, dadurch gegen die „Philosophieprofessoren“ erbittert, seit 1831 nach Frankfurt a. M. ins Privatleben zurück, wo er ausschließlich seiner philosophischen Schriftstellerei lebte und 21. Sept. 1860 am Lungenschlag starb. Seine Hauptschriften sind außer dem oben genannten Hauptwerk, das bei der 2. Auflage (1844; 6. Aufl. 1887, 2 Bde.) um einen zweiten „unentbehrlichen“ Band vermehrt erschien: seine Promotionsschrift „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund“ (Rudolst. 1813; 4. Aufl., Leipz. 1875), welche das Fundament seiner Logik, „Über den Willen in der Natur“ (Frankf. 1836; 3. Aufl., Leipz. 1867), welche seine Naturphilosophie enthält, und „Die beiden Grundprobleme der Ethik“ (Frankf. 1841; 3. Aufl., Leipz. 1881), zwei Abhandlungen, deren eine über das Mitleid als Fundament der Ethik, die andre über seine (deterministische) Ansicht von der Willensfreiheit handelt; ferner „Über das Sehen und die Farben“ (das. 1816, 3. Aufl. 1870); „Über den Willen in der Natur“ (Frankf. 1836; 4. Aufl., Leipz. 1878). Die größte Verbreitung haben seine unter dem Titel: „Parerga und Paralipomena“ (Berl. 1851; 6. Aufl. 1888, 2 Bde.) gesammelten kleinern geistreich-barocken Schriften gefunden, unter denen der Aufsatz gegen die „Philosophieprofessoren“ durch seine maßlose Heftigkeit, jener „Über das Geistersehen“ durch die darin sich offenbarende Neigung zur Mystik berühmt geworden ist. Als Sonderausgaben erschienen: „Aphorismen zur Lebensweisheit“ (aus „Parerga und Paralipomena“, 1886, 2 Bdchn.) und „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsres Wesens an sich“; „Leben der Gattung“; „Erblichkeit der Eigenschaften“ (aus seinem Hauptwerk, 1886). Die „Sämtlichen Werke“ des sich selbst mit Stolz so bezeichnenden „Oligographen“ sind von Frauenstädt nach Schopenhauers Tod in 6 Bänden (Leipz. 1873–74, 2. Aufl. 1877 u. 1888) herausgegeben worden. Schopenhauers Philosophie knüpft an Kants (s. d.) Vernunftkritik an und zwar, wie die Fichtes (s. d.), an deren idealistisches, statt, wie die Herbarts (s. d.), an deren realistisches Element; dieselbe erklärt nämlich, wie Kant, die in Raum und Zeit gegebenen Dinge für bloße Erscheinungen, den Raum und die Zeit, wie dieser, für subjektive (reine, apriorische) Anschauungsformen, verwirft aber, wie Fichte, im Gegensatz zu Kant den (realistischen) Rückschluß von dem Vorhandensein der Erscheinung auf die Existenz eines hinter derselben vorhandenen und dieselbe verursachenden (übrigens seiner Qualität nach unbekannt bleibenden) Dinges an sich als Selbstwiderspruch, weil Kant den Schluß von der Wirkung auf die Ursache für eine dem urteilenden Subjekt als solchem anhaftende (subjektive) Urteilsform (ohne objektive Geltung) erklärt habe. Die vom [606] vorstellenden Subjekt (dem Intellekt) auf Grund (subjektiver) räumlicher und zeitlicher Anschauungsform im Raum und in der Zeit angeschaute und auf Grund der (gleichfalls subjektiven) Kausalitätsform, welche zu jeder Erscheinung eine (reale) Ursache hinzuzudenken nötigt, (fälschlich) als real (objektiv) vorgestellte Welt ist daher (wie bei Fichte) in Wahrheit bloße „Welt als Vorstellung“, Erscheinung ohne derselben zu Grunde liegendes Ding an sich, Fiktion des Intellekts oder des (nach S.) mit diesem identischen Gehirns, leeres „Hirngespinst“. Geht aber S. (wie Fichte) in dieser (idealistischen) Richtung weit über Kant hinaus, so geht er in der andern (realistischen) Richtung weit hinter denselben zurück, indem er (allerdings auf anderm Weg) nicht nur, wie dieser, die Existenz eines „Dinges an sich“, eines Realen, ausdrücklich anerkennt, sondern, was Kant für unmöglich erklärte, die Qualität desselben erkannt zu haben behauptet. Dasselbe wird, sowohl seiner Existenz als seiner Qualität nach, zwar nicht durch den Intellekt, das (nach Kant einzige) Erkenntnisorgan, aber doch und zwar „unmittelbar“ als „Wille“ erkannt und daher die (reale) „Welt als Wille“ von der (imaginären) „Welt als Vorstellung“ unterschieden. Während die letztere als „Gehirnphänomen“ im und für den Intellekt, also nur im „Bewußtsein“ ist, existiert die erstere, das „Ding an sich“, ursprünglich ohne Intelligenz und ohne Bewußtsein, als zugleich „dummer“ und „blinder“ rastloser „Wille zu leben“. Dumm ist derselbe, weil (wie S. unabhängig von seinem philosophischen System aus der Erfahrung darzuthun unternimmt) diese Welt (im Gegensatz zu Leibniz’ „bester unter den möglichen“: Optimismus) die „schlechteste unter den möglichen Welten“ (Pessimismus) ist; weil das Leben keinen Wert hat; weil die Summe der durch dasselbe aufgedrungenen Schmerzen weit beträchtlicher ist als jene der durch dasselbe ermöglichten Genüsse; blind ist derselbe, weil das Licht der Intelligenz erst auf der höchsten und letzten Entwickelungsstufe des Willens im menschlichen Gehirn als Bewußtseinsträger entzündet wird. Mit dem Erwachen des Bewußtseins ist aber auch das Mittel gegeben, die „Dummheit“ des Willens wieder gutzumachen. Indem der Intellekt zur Einsicht gelangt, daß der unerträgliche Zustand überwiegenden Leidens nur durch den unaufhörlichen Willen zu leben hervorgebracht wird, gewahrt er zugleich, daß eine Heilung desselben (nach buddhistischem Vorbild) durch Lebensflucht, d. h. durch die Verneinung des Willens zu leben, erreicht werden kann. Die Durchführung der letztern, das „Quietiv des Willens“, das mit dem Übergang ins buddhistische Nirwâna, in die schmerzlose Stille des Nichtseins, verglichen werden kann, ist jedoch, wie S. ausdrücklich betont, keineswegs mit dem Selbstmord gleichbedeutend.
Seinen (späten) Erfolg als Philosoph hat S. weniger seinem widerspruchsvollen, die ausschließenden Gegensätze eines extremen Idealismus und eines naiven Realismus unbefangen nebeneinander umfassenden System als seiner mit glänzender Eloquenz durchgeführten Verteidigung einer pessimistischen Weltansicht, seinem zur Schau getragenen Haß gegen die „Schulphilosophie“ und seiner (besonders in den kleinern Schriften) von philosophischer Kunstsprache freien, geistreich-populären Darstellungsgabe zu verdanken, wodurch er (wie die von ihm sehr hoch gestellten englischen und französischen Popularphilosophen) vorzugsweise der Philosoph für die „Weltleute“ geworden ist. Als solcher hat S. zwar viele dilettantische Anhänger, aber nur wenige systematische Fortbildner gefunden, also im wissenschaftlichen Sinn keine Schule gemacht. Die Zahl der erstern ist Legion, unter den letztern stehen E. v. Hartmann (s. d. 12), der aber kein Pessimist sein will, Bahnsen, Lindner u. a. obenan. Um die Verbreitung, Erläuterung und Herausgabe seiner Werke hat sich vor allen Frauenstädt („Briefe über die Schopenhauersche Philosophie“, Leipz. 1854; „Neue Briefe“, das. 1876, und „Schopenhauer-Lexikon“, das. 1871, 2 Bde.), um seine Biographie haben sich außer Frauenstädt, der auch „Memorabilien“ (bei Lindner, s. unten), „Aus Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß“ (das. 1864) und „Lichtstrahlen“ aus Schopenhauers Werken (6. Aufl., das. 1888) herausgab, E. O. Lindner („S. Von ihm. Über ihn, Memorabilien etc.“, Berl. 1863) und vor allen Gwinner („S. aus persönlichem Umgang“, Leipz. 1862; 2. Aufl. als „Schopenhauers Leben“, 1878) verdient gemacht. Neuerlich erschien der „Briefwechsel zwischen S. und J. A. Becker“ (Leipz. 1883). In Frankreich ist S. durch Foucher de Careil („Hegel et S.“, Par. 1862; deutsch, Wien 1888), Ribot („La philosophie de S.“, 1874) und neuestens durch die Übersetzungen seiner Hauptschriften von Kantakuzenos, Reinach u. a., in England durch H. Zimmern („A. S., his life and his philosophy“, Lond. 1877) und seitdem durch die Übersetzung seines Hauptwerkes von Haldane und Kemp (das. 1883–86, 3 Bde.) eingeführt worden. Über seine Philosophie vergleiche außer der noch unübertroffenen Rezension Herbarts über die erste Auflage des Schopenhauerschen Hauptwerkes (im 12. Band seiner „Sämtlichen Werke“, S. 377 ff.): Haym, Arthur S. (Berl. 1864); Busch, Arthur S. (2. Aufl., Münch. 1878); R. v. Koeber, Die Philosophie A. Schopenhauers (Heidelb. 1888). Die umfangreiche S.-Litteratur stellten Laban („Die S.-Litteratur“, Leipz. 1880) und Grisebach („Edita und Inedita Schopenhaueriana“, das. 1888) zusammen.