MKL1888:Schutzeinrichtungen

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Schutzeinrichtungen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 669670
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Schutzeinrichtungen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 669–670. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Schutzeinrichtungen (Version vom 22.11.2023)

[669] Schutzeinrichtungen,[WS 1] in der Biologie die sehr mannigfachen Vorkehrungen und Verteidigungsmittel, durch welche sich gewisse in ihrem Bestehen gefährdete Pflanzen und Tiere im Daseinskampf erhalten. Die S. der Pflanzen wenden sich gegen ungünstige Einflüsse von Klima und Wetter, dann aber auch gegen schädliche Besucher und gegen Gefressenwerden durch Tiere aller Art. So besitzen Wüsten- und Strandpflanzen weniger Spaltöffnungen auf den Blättern und schützen diese noch durch Einsenkung in Gruben, Haarbildungen etc. gegen übermäßige Wasserabgabe. Manche von ihnen, wie die Rose von Jericho, ballen sich bei der Fruchtreife zusammen, um die Samen besser vor Ausstreuung in der trocknen Jahreszeit zu schützen. In den nassen Ländern bedecken sich viele Pflanzen mit Wachsausscheidungen, und in den tropischen Strichen falten manche Gewächse ihre Blätter sowohl beim Anprall der Regentropfen als in den Strahlen der Mittagssonne und in den kalten Nächten zusammen. Brennhaare, Dornen und Stacheln dienen als S. gegen den nackten Mund laubfressender Tiere, wobei z. B. die Stechpalme die lehrreiche Einrichtung zeigt, daß die Blätter an den Stämmen nur so hoch hinauf Stacheln entwickeln, als das Gebiß der Huftiere reicht, in der obern Krone aber stachellos werden. Gegen das Hinaufkriechen von Raupen und Schnecken sind niedere Pflanzen vielfach durch drüsige Behaarung des Stengels geschützt. Als Abschreckungsmittel gegen das Gefressenwerden scheinen auch die stark riechenden ätherischen Öle und giftigen Alkaloide zu dienen, welche sich vorwiegend in den am stärksten den Angriffen ausgesetzten Teilen (Rinde, Blätter und Wurzeln) anhäufen, wie schon Erasmus Darwin hervorhob. Derselbe Forscher wies auch bereits darauf hin, daß die Zwiebeln der Steppen- und Strandpflanzen häufig ein spezifisches Nagergift, wie z. B. die Meerzwiebeln, enthalten, wodurch sie im Winter vor den Angriffen der Steppennager bewahrt werden. Besonderer S. gegen die Besuche und Plünderungen honigliebender ungeflügelter Insekten, die nichts zur Verbreitung des Blumenstaubs beitragen, erfreuen sich viele Pflanzen an den Blütenteilen; ihre Blütenstiele, -Hüllen, -Kelche und -Kronen sind mit Drüsenhaaren, Dornen und Kragenbildungen versehen, welche kriechende Insekten nicht überschreiten können; andre Blüten, wie z. B. Schneeglöckchen, sind durch abschüssige Flächen oder durch Schuppen- und Reusenbildungen über den Honigdrüsen, wie die Borragineen und Gentianeen, geschützt. Wieder andre, wie die Pechnelken, umgeben ihre Blütenstengel mit Leimringen, und bei noch andern, wie den Weberkarden und gewissen auf Bäumen schmarotzenden Bromeliaceen, bilden die Wurzel- oder Stengelblätter kleine Sammelbehälter von Regenwasser um den Stengel, über welche die ungebetenen (flügellosen) Gäste nicht hinweg können. Vgl. Kerner, Schutzmittel der Blüten gegen unberufene Gäste (2. Aufl., Innsbr. 1879); Kuntze, Die Schutzmittel der Pflanzen gegen Tiere und Wetterungunst (Leipz. 1877); Seidlitz, Die chromatische Funktion als natürliches Schutzmittel (in den „Beiträgen zur Deszendenz-Theorie“, das. 1876); Stahl, Pflanzen und Schnecken, über die Schutzmittel der Pflanzen gegen Schneckenfraß (Jena 1888).

Viel mannigfaltiger als bei den Pflanzen sind die S. bei den Tieren. Mit der festen Panzerung verbindet sich bei Schildkröten und Rüsselkäfern die Einrichtung, die gefährdeten Extremitäten ganz in den Panzer zu ziehen oder in tiefe Rinnen hineinlegen zu können; andre Tiere (Igel) sind durch spitze Stacheln geschützt, und nicht wenige Wirbeltiere, Käferschnecken, Krebstiere und Käfer besitzen das Vermögen, sich in der Gefahr zu einer nirgends faßbaren, wohlverwahrten Kugel zusammenzurollen oder wenigstens alle Glieder an den Leib zu ziehen und sich nach der gewöhnlichen Auffassung totzustellen (s. Kataplexie). Bei einigen kommen zu den weitverbreiteten Schutzwaffen der Zähne, Hörner und Zangen noch verborgene Schutzwaffen, sofern sie den Gegner mit einer ätzenden oder höchst übelriechenden Flüssigkeit besprengen, wie die Tonnenschnecke (Dolium Galea), deren Spritzsaft 21/2 Proz. wasserfreie Schwefelsäure enthält, oder die Stinktiere und Bombardierkäfer, welche nicht so leicht einen Angriff von Tieren, die ihre Eigentümlichkeit kennen, erfahren. Verschiedene Mollusken (Tintenfische und Flossenfüßer) trüben in der Gefahr das Wasser durch tintenartige oder milchige Ausscheidungen. Eine große Anzahl von Tieren ist durch Stacheln, Nesselorgane, widrigen Geschmack und Geruch vor Angriffen und Gefressenwerden geschützt; die letztere Schutzeinrichtung ist namentlich vielen Insekten eigen, die durch ganze Klassen von Insektenfressern unter den Reptilien, den Vögeln und Säugetieren gefährdet werden. Solche gemiedene Tiere zeichnen sich meist durch lebhafte, als Widrigkeitszeichen dienende sogen. Trutzfarben oder Trutzzeichnungen aus. Zu ihnen gehören ganze Familien, wie unter den Schmetterlingen die Danaiden, Ithomiiden und Helikoniden, unter den Käfern die Lampyriden und andre Malakodermen, welche sämtlich die Eigentümlichkeit haben, sich dreist und langsam vor aller Augen zu bewegen oder gar durch nächtliches Leuchten ihre Gegenwart kundzuthun. Sie werden nach Farbe, Zeichnung und Gebaren vielfach von andern Insekten ihrer Gegend kopiert, die dadurch derselben Sicherheit teilhaftig werden (s. Mimikry). Ebenso darf man bei denjenigen Tieren, welche sich durch sogen. sympathische Färbung, durch Schutzfärbung oder Schutzzeichnung dem allgemeinen Charakter ihrer bevorzugten Umgebung annähern oder zur bessern Verbergung die Formen und Farben der Baumrinde, flechtenbewachsener Steine, welker Blätter etc. aufweisen, vermuten, daß sie entweder selbst in ihrer Existenz gefährdet sind, oder als Raubtiere andre in dieser Vermummung beschleichen. So sind die Polartiere vorwiegend weiß, die Wüstentiere sandgelb, viele Laubtiere, z. B. auch die schmackhaftern Raupen, grün oder bräunlich gefärbt, viele Wassertiere sind entweder glasdurchsichtig oder bläulich angehaucht, und viele Landtiere sind durch Sprenkelung oder Streifung am Boden und im Laub äußerst schwer erkennbar. Viele Vögel und Fische, z. B. die Flunder und Rochen, sind auf der Oberseite dunkel [670] wie der Boden und auf der Unterseite hell gefärbt, so daß sie den über und unter ihnen fliegenden oder schwimmenden Räubern gleich schwer erkennbar sind. Einige Tiere bedecken den Rücken mit Schmutz, Algen, Meerschwämmen und Korallenpolypen etc., um sich unkenntlich zu machen (s. Maskieren). Manche Krebsarten, Kopffüßer, Fische, Amphibien und Reptilien (Chamäleon) vermögen durch Zusammenziehung oder Ausdehnung sternförmiger, mit flüssigen Pigmenten gefüllter Zellen, die dicht unter der durchscheinenden Haut liegen, sich ihrer jeweiligen Umgebung durch hellere oder dunklere Färbung ähnlich zu machen. Diese sogen. chromatische Funktion wird durch den auf die Augen wirkenden Helligkeitsreiz in Bewegung gesetzt, und derartige Fische färben sich nach einseitiger Blendung auf der entsprechenden (entgegengesetzten) Körperhälfte dauernd dunkel. Auch viele Schmetterlingspuppen und Kokons sollen nach neuern Untersuchungen die allgemeine Färbung ihrer Umgebung erhalten. Manche Tiere entfalten besondere Schreckzeichnungen, wie gewisse Nachtschmetterlinge mit lebhaft gezeichneten und gefärbten Unterflügeln, die bei Tage nur bei plötzlicher Aufstörung sichtbar werden und von andern als Ablenkungsfarben, welche die Bisse der Insektenfresser nach ungefährlichen Stellen ableiten, gedeutet werden. Andre, wie die Raupen des kleinen und großen Weinvogels, des Buchenspinners u. a., nehmen eine sogen. Schreckstellung an. Eine sehr merkwürdige, in vielen Tierklassen verbreitete Schutzeinrichtung besteht in dem automatischen Fahrenlassen gefährdeter Gliedmaßen (sogen. Selbstverstümmelung), wie der Beine bei Krebstieren und Spinnen, der Arme bei den Seesternen, des Schwanzes bei den Eidechsen und ganzer Leibesstücke bei den Holothurien, Seeschnecken und manchen Würmern. Diese Selbstverstümmelung kommt nur bei solchen Tieren vor, denen die abgestoßenen Teile durch sogen. Regeneration leicht wieder wachsen, und das Abwerfen erfolgt vielfach an einer ganz bestimmten Stelle durch eine vom Wissen und Wollen des Tiers unabhängige, durch allerlei Reize in Thätigkeit versetzte reflektorische Muskelspannung. Sehr merkwürdig sind ferner die Schutz- und Trutzbündnisse mit Tieren, die sich einer gefürchteten Schutzwaffe erfreuen und die gegen Verabreichung von Wohnung und Nahrung Pflanzen und Tieren als Schutzwachen dienen (s. Symbiose). Alle diese S. werden von der neuern Weltanschauung als Züchtungsergebnisse der natürlichen Auslese betrachtet, welche von gewissen Gattungen nur diejenigen Arten am Leben ließ, welche sich durch derartige Abänderungen der Gestalt, Färbung, Zeichnung, Lebensweise etc. behaupten konnten (s. Darwinismus, S. 566).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe auch Schutzeinrichtungen der Pflanzen im Supplement.