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MKL1888:Spinnfasern

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Spinnfasern“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Spinnfasern“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 15 (1889), Seite 155156
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Spinnfasern. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 155–156. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Spinnfasern (Version vom 07.12.2024)

[155] Spinnfasern (hierzu Tafel „Spinnfaserpflanzen“), vegetabilische oder animalische Gebilde, die sich zur Verarbeitung auf Gespinste und Gewebe eignen und daher fest, geschmeidig und womöglich bleichbar sein müssen. Die Zahl der tierischen S. ist verhältnismäßig gering. Von größerer Bedeutung sind nur Wolle, Seide und die Haare einiger Ziegen, des Alpako u. der Vicunna, das Kamelhaar und Pferdehaar. Viel größer ist die Zahl der vegetabilischen S., welche auch in ihrer Natur und Beschaffenheit viel mehr voneinander abweichen. Wir finden darunter Haargebilde, Gefäßbündel und Gefäßbündelbestandteile. Die erstern sind fast ausschließlich Samenhaare, wie die Baumwolle, die Wolle der Wollbäume und die vegetabilische Seide; viele S. setzen sich aus den Gefäßbündeln der Blätter, Stämme oder Wurzeln monokotyler Pflanzen zusammen, wie der neuseeländische Flachs, die Agavefaser, die Aloefaser und die Ananasfaser, der Manilahanf und die Tillandsiafaser. Am häufigsten werden aber Gefäßbündelbestandteile dikotyler Pflanzen als S. benutzt. Hanf, Flachs, Jute, Sunn etc. sind Bastbündel oder Fragmente von solchen aus den Gefäßbündeln der Stengel der betreffenden Stammpflanzen. Die Farbe der S. ist sehr verschieden: Schwarz, Braun, bei den vegetabilischen ins Gelbe, Grüne, Graue geneigt, auch Weiß; sie sind glanzlos bis seidenglänzend, zum Teil sehr hygroskopisch, so daß wenigstens bei den animalischen (Seide, Wolle) im Handel der Wassergehalt der Ware in besondern Anstalten (Konditionierungsanstalten) festgestellt zu werden pflegt. Aber auch Baumwolle, welche lufttrocken 6,5 Proz. Feuchtigkeit enthält, kann über 20 Proz., Manilahanf sogar über 40 Proz. Wasser aufnehmen. Die Hygroskopizität der S. wechselt bei den Kulturvarietäten einer und derselben Pflanze und steigt bisweilen bei derselben Faser, wenn diese beim Lagern an der Luft dunkler wird. Über die Festigkeit der S. liegen vergleichbare Angaben bis jetzt nicht vor; weitaus am festesten ist Seide, die übrigen zeigen die mannigfachsten Abstufungen der Zerreißbarkeit. Die chemische Zusammensetzung der vegetabilischen S. ist eine sehr gleichartige; die Hauptsubstanz bildet überall Cellulose, und die Fasern, welche nur aus letzterer bestehen, sind biegsam, geschmeidig und fest, während diejenigen, bei denen außer Cellulose noch Holzsubstanz oder ähnliche Stoffe auftreten, spröde und brüchig erscheinen und erst nach Entfernung derselben weicher und biegsamer werden. Eine solche Vervollkommnung der Fasern wird z. B. durch den Prozeß des Bleichens erreicht; doch ist die weiße Farbe einer Faser keineswegs ein Beweis, daß sie frei von Holzfaser sei. Selbst sehr geringe Mengen von letzterer kann man durch Betupfen mit einer Lösung von schwefelsaurem Anilin nachweisen, welche die Holzsubstanz bräunt. Alle S., die der Hauptmasse nach aus Cellulose bestehen, werden durch Jod und Schwefelsäure blau gefärbt und durch Kupferoxydammoniak aufgelöst; die übrigen, denen größere Mengen von Holzsubstanz oder andern organischen Stoffen anhaften, werden durch ersteres Reagens gelb oder braun oder grün bis blaugrün gefärbt und durch Kupferoxydammoniak entweder nicht verändert, oder nur unter mehr oder minder deutlicher Quellung gebläut. Alle S. enthalten mineralische Stoffe und lassen daher beim Verbrennen Asche zurück. Die tierischen S. weichen in ihrer Zusammensetzung vollständig von den vegetabilischen ab: sie enthalten sämtlich Stickstoff und unterscheiden sich sehr bestimmt von den vegetabilischen durch ihr Verhalten beim Verbrennen, indem sie vor der Flamme gleichsam schmelzen und unter Verbreitung eines übeln Geruchs eine schwammige Kohle hinterlassen, während die Pflanzenfasern

[Beilage]

[Ξ]

Spinnfaserpflanzen.
[oben:] Cannabis sativa (Hanf), a Weibliche und b männliche Pflanze. (Art. Hanf.) – Hibiscus cannabinus (Gambohanf). (Art. Hibiscus.)
[unten:] Corchorus capsularis (Jute). (Art. Corchorus.) – Boehmeria nivea (Chinagras). (Art. Boehmeria.) – Agave americana. (Art. Agave.) – Attalea funifera. (Piassava). (Art. Attalea.) – Phormium tenax (Neuseeländischer Flachs). (Art. Phormium.) – Gossypium herbaceum (Baumwolle). (Art. Baumwolle.) – Linum usitatissimum (Flachs). (Art. Flachs.)

[156] bis auf die Asche vollständig und ohne Geruch verbrennen. Eine Unterscheidung der einzelnen tierischen und vegetabilischen S. ist nur durch methodische Prüfung mittels des Mikroskops und chemischer Reagenzien möglich; letztere aber leisten im allgemeinen für die rohen Fasern nicht viel und für die gebleichten, welche sämtlich aus reiner Cellulose bestehen, naturgemäß sehr wenig oder nichts.

Pflanzen, welche zur Darstellung von Gespinsten taugliche Fasern liefern, finden sich in zahlreichen Familien und bilden, soweit sie größere Wichtigkeit besitzen, den Gegenstand ausgedehnter Kulturen. Die wichtigsten Spinnfaserpflanzen (vgl. beifolgende Tafel) gehören zu den Malvaceen (Gossypium-Arten liefern die Baumwolle, Hibiscus-Arten den Gambohanf; auch sind Abelmoschus tetraphyllus, Sida retusa, Thespesia lampas und Urena sinuata zu erwähnen), den Kannabineen (Hanf von Cannabis sativa), Lineen (Flachs, Linum usitatissimum), Tiliaceen (Jute von Corchorus-Arten), den Urtikaceen (Chinagras und Ramé von Boehmeria-Arten, Nesselfasern von Urtica-Arten), den Palmen (Arenga, Caryota, Piassava von Attalea funifera, Kokosfaser von Cocos nucifera etc.), den Musaceen (Manilahanf von Musa-Arten), den Bromeliaceen (Agavefasern von Agave-Arten, Ananasfaser von Ananassa sativa, Silkgras von Bromelia karatas, Tillandsiafaser von Tillandsia usneoides), den Asphodeleen (neuseeländischer Flachs von Phormium tenax), den Papilionaceen (Sunn von Crotalaria juncea, auch Spartium-Arten). Erwähnung verdienen ferner: die Bombaceen mit den Bombax-Arten Eriodendron anfractuosum und Ochroma Lagopus, die Datisceen mit Datisca cannabina, die Kordiaceen mit Cordia latifolia, die Asklepiadeen mit Beaumontia grandiflora, Calotropis gigantea, Asclepias-Arten etc., welche sämtlich vegetabilische Seide liefern, die Moreen mit Broussonetia-Arten, die Pandaneen mit Pandanus odoratissimus und die Gramineen mit dem Espartogras (Stipa tenacissima). Weitaus die größte Bedeutung von allen haben aber Baumwolle, Flachs und Hanf, welchen sich noch die Jute anschließt. Die übrigen Spinnfaserpflanzen, zum Teil seit alter Zeit in Gebrauch, haben in der neuern Industrie doch erst angefangen, einen Platz sich zu erobern, was der Jute, in gewissem Grad auch dem Chinagras, Ramé, der Piassava, der Agavefaser, dem Manilahanf, der Kokosfaser und einigen andern bereits gelungen ist und voraussichtlich noch weiter gelingen wird. Beherrscht Nordamerika durch seine Baumwolle das ganze Gebiet, so wird es doch an Mannigfaltigkeit der dargebotenen Fasern weit übertroffen von Asien, speziell von Indien, woher wir wohl die wichtigsten Bereicherungen auch ferner noch zu erwarten haben. Vgl. Royle, The fibrous plants of India (Lond. 1855); Wiesner, Beiträge zur Kenntnis der indischen Faserpflanzen (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Bd. 62); Derselbe, Rohstoffe des Pflanzenreichs (Leipz. 1873); Richard, Die Gewinnung der Gespinstfasern (Braunschw. 1881).