MKL1888:Tiersage
[704] Tiersage, eine Gattung der Sage (s. d.), welche von dem Leben und Treiben der Tiere und zwar vorzugsweise der ungezähmten Tiere des Waldes handelt, die man sich mit Sprache und Vernunft ausgestattet denkt. Die Wurzeln der T. liegen in der Natureinfalt der ältesten Geschlechter, die noch in unbefangenem, sei’s freundlichem oder feindlichem, immer nahem Verkehr mit den Tieren standen: aus der harmlosen Freude des Naturmenschen an dem Treiben der Tiere, seiner Beobachtung ihrer besondern Art und „Heimlichkeit“ entsprang die einfache Erzählung dessen, was er an und mit den Tieren erfuhr und erlebte, und sie eben bildet das charakteristische Merkmal dieser Art Naturpoesie, die teils in einzelnen konkret gewordenen Erscheinungen als Tiermärchen, teils in Verknüpfung und Verschmelzung derselben zu einem dichterischen Ganzen als Tierepos auftritt. Wohl zu unterscheiden ist dieses Tierepos von der gewöhnlichen (Äsopischen oder Lessingschen) Tierfabel, die rein didaktischer Natur ist, indem sie nach kurzer Erzählung des Thatsächlichen eine nüchterne Verstandeslehre mit epigrammatischer Schärfe ausspricht (s. Fabel). Das Tierepos ist dagegen von aller lehrhaften und satirischen Tendenz frei; sein Wesen beruht auf der poetischen Auffassung und naturgetreuen Darstellung des Tierlebens als eines in seiner geheimnisvollen Eigentümlichkeit abgeschlossenen, aber zugleich in den Bereich des Menschlichen erhobenen Daseins. Die Tiere, welche diese Dichtung vorführt, sind nicht nackte, außer aller psychischen Gemeinschaft mit dem Menschen stehende Tiere, noch weniger allegorische Figuren oder in Tiergestalt verkleidete Menschen: es sind die Tiere in ihrem wirklichen Leben, jedoch mit Gedanken und Sprache ausgestattet und von Trieben geleitet, denen Absicht und Bedeutung geliehen sind. In dieser Verschmelzung des menschlichen und tierischen Elements liegt die Bedingung und zugleich der höchste Reiz der T. Daß bei solcher Schilderung der Tierwelt zugleich das gewöhnliche Treiben der Menschen abgespiegelt wird, ist unleugbar, aber keineswegs die beabsichtigte Wirkung der Dichtung, die vielmehr, wie das Heldenepos, in ruhiger Breite dahinfließt, ohne weitere Tendenz, als in ungestörter Gemütlichkeit sich auszusprechen. Gelegenheit freilich, satirische Nebenbeziehungen auf bestimmte menschliche Zustände anzubringen, bietet die T. nur allzu reichlich, und sie wurde auch schon frühzeitig von den Bearbeitern benutzt. Spuren der T. sind schon bei den ältesten Völkern nachzuweisen, aber diese ließen sie frühzeitig wieder fallen oder wandten sich der didaktischen Tierfabel (s. oben) zu; eine vollständige epische Durchbildung erhielt die T. nur bei den mit hervorragendem Natursinn ausgestatteten Deutschen und zwar vorzugsweise bei den Franken. Mit diesen wanderte sie im 5. Jahrh. über den Rhein, wo sie in Flandern und Nordfrankreich Wurzel faßte und gepflegt wurde, bis sie später nach Deutschland zurückkehrte, um hier im 15. Jahrh. in der niederdeutschen Dichtung „Reineke Vos“ ihre endgültige Gestalt zu erhalten (s. Reineke Fuchs). Die älteste und echteste T. kennt nur einheimische Tierhelden (mit treffenden, echt deutschen Namen), und der Bär, der König der deutschen Wälder, war auch im Gedicht der König der Tiere; erst später (im 12. Jahrh.) trat statt seiner der orientalische Löwe an die Spitze des Tierstaats, in den nun auch Affen und andre fremdländische Geschöpfe eingeführt wurden. Die besten, vollkommen befriedigenden Aufschlüsse über den Charakter der T. gab J. Grimm in einer Einleitung zu „Reinhart Fuchs“ (1843).