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Madrid (Meyer’s Universum)

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CX. Die Ruinen von Petrah (Edom) in Arabien Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band (1836) von Joseph Meyer
CXI. Madrid
CXII. Smyrna
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MADRID

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CXI. Madrid.




Gern überläßt sich der Menschenfreund den Träumen, die seine Wünsche ihm vorgaukeln; unaufhörlich aber ruft ihn eine grausame Wirklichkeit zum Leiden und Elend zurück. Durch die Kraft seines Geistes überschaut er eines Blickes die Welt; aber gerade auf den schönsten Ländern ruht sein Auge mit Wehmuth. Er sieht die Nationen durch Unwissenheit, Tyrannei und Aberglauben mit Blindheit geschlagen und (denn es steht nicht in der Völker Macht, anders zu empfinden, als lange Zeiträume hindurch ihnen gelehrt worden ist,) durch ihre Vorurtheile und ihre Befangenheit sie selbst des natürlichen Gefühls für Glück und Wahrheit verlustig. So fanden wir auf unsern Wanderungen in dem schönen Hesperien den Italiener, ausgestattet mit glücklichen Anlagen, aber herabgewürdigt als Mensch, ohne Hülfe immerwährender Knechtschaft geweiht. So finden wir jetzt im herrlichen Spanien ein Volk, das begabt ist von der Natur mit ritterlichem Sinn, mit Muth, Beharrlichkeit, Geist, Vaterlandsliebe und Heroismus; aber dieß Volk sehen wir, dumm und geduldig, sich hergeben zum grausamsten Gladiatorenspiel, welches Parteien, von denen keine sein Wohl will, und jede blos ihren Privatvortheil sucht, aufführen; – aufführen vor der civilisirten Welt, welche, zu ihrer und des Jahrhunderts ewiger Schande! herzlos es duldet und niederträchtig es nährt. Geröthet sehen wir den Himmel Spaniens; aber wehe! der Brand der Kirchen und der Städte ist kein Morgenroth! Brautbettleuchten ist’s nach der Vermählung der Anarchie mit der Barbarei!

Oder sollte ich irren? Sollte es doch möglich seyn, daß die wahre, volkbeglückende Freiheit, die das Recht bei Jedem und ohne Unterschied ehrt, urplötzlich dem Schooße der Tyrannei und der Unwissenheit sich entwinde? [51] Wollte man das zugeben, dann müßte man auch voraussetzen, daß ein Volk, seit vielen Jahrhunderten aufgezogen in der tiefsten Unwissenheit und in Unterwürfigkeit gegen seine weltlichen und geistlichen Treiber, ein Volk, das gewöhnt ist, alle Macht und allen Besitz im Staate als rechtmäßiges Erbtheil gewisser Stände zu betrachten, daß ein solches Volk, sage ich, vollkommen würdig sey zur Empfängniß und zum Genusse der Freiheit. Es müßten dann die Spanier, der großen Mehrzahl nach, nicht nur ihre Fesseln zersprengen wollen, man müßte auch urplötzlich geheilt sie denken von allem Wahnsinn des Aberglaubens, und unzugänglich den Eingebungen des Fanatismus. Von dem Joch einer von Grund aus verfälschten und betrügerisch gemißbrauchten Lehre, von den Ketten des Beichtstuhls und seinen Schrecken befreit müßte sich die spanische Nation selbst die reinen Lehren der Moral und Vernunft, wie sie Christus der Welt hinterlassen hat, wiedergeben können; Schöpfer ihrer Regeneration müßte sie sich frei halten vom Geiste des Schwindels, der Habsucht, der Ungerechtigkeit, der Rache; sie müßte gelernt haben, ihre Obrigkeit zu gleicher Zeit zu richten und zu ehren. Bei der plötzlichen Reform eines in Mißbräuchen so alt gewordenen Staats müßte Jeder seinem gewohnten Platz entrückte Einzelne Entbehrungen und das Unbequeme des Neuen geduldig hinnehmen: mit einem Worte, das spanische Volk müßte muthig und einmüthig seyn, seine Freiheit zu erobern, einsichtsvoll genug, um sie zu befestigen, kaltblütig und bescheiden genug, um sie zu ertragen, mächtig genug, um sie zu vertheidigen, und großmüthig genug, um sie zu theilen: Bedingungen, welche ein ungebildetes Volk niemals erfüllen kann. Nein! der wahren Freiheit goldene Frucht reift keiner Nation am vorübergehenden Phrasenfeuer einiger Redner; sie bedingt frühe, gesunde Aussaat voraus und in günstigem Boden, sorgsame Pflege, langsames Wachsen bei warmem Sonnenscheine und befruchtendem Regen; zur Reife, und nur zur Reife – Gewitter. Seht auf Nordamerika! Erst nach eines vollen Jahrhunderts Aussaat und Wartung hat es geärntet. Ein volles Jahrhundert lang arbeitete das Volk beständig an seiner politischen Durchbildung, und erst als sie vollendet war, nachdem schon zwei Generationen großgezogen worden in den reinen Grundsätzen des Republikanismus, nachdem das Volk die Beweise seiner Mündigkeit vor aller Welt abgelegt hatte, stand es auf, ein Herz und eine Seele, und erklärte sich – männlich, ernst und ruhig – für frei. Und was es erklärt hatte, verfocht es, mit ausdauernder Begeisterung, acht Jahre lang siegreich gegen die größte Uebermacht, mit der jemals ein aufgestandenes Volk zu kämpfen gehabt hat. Sein Weg war bestimmt der längste und beschwerlichste; aber er führte zum Ziele. Jeder andere wird immer mehr oder weniger fern von demselben bleiben; eine Wahrheit, für welche es keine warnendere Beweise geben kann, als die Geschichte der Revolutionen unserer Tage.




[52] Madrid gewährt von jeder Seite her eine imponirende Fernsicht. Die spanische Hauptstadt liegt sehr hoch (2200 Fuß über die Meeresfläche), auf einem unebnen, steilen Plateau, eine Art Campagna, die, rauhen Klimas und allen Winden ausgesetzt, fast baumlos, überall einen freien Blick auf die große, compakte Häusermasse zuläßt. Zahlreiche Thürme und Kuppeln, hohe Kirchen und Palläste überragen diese, und erwecken in weiter Entfernung schon die Vorstellung von der Pracht und dem Reichthum der Metropole eines großen Reichs. Je näher man kömmt, je mehr streckt die Häusermasse sich aus, je mehr nimmt die Vorstellung ihrer Größe zu; aber um so störender fällt dann auch der Contrast des Oeden, des Eintönigen und Unmalerischen der Gegend auf. Rechts und links vom Wege sieht das Auge, so weit es reicht, nur dürftige Weizenfelder, – keine lachenden Landsitze, keine aus Orangenhainen schimmernden Quinta’s, die gewöhnlichen und so aufheiternden Zeugen von dem Wohlstande und der Sinnigkeit der Bevölkerung der großen Städte des Südens. Nicht einmal in der unmittelbaren Nähe der Residenz gewahrt man etwas von jenen zahllosen, kleinen, freundlichen Wohnungen mit Gärten, welche während der schönen Jahreszeit[WS 1] einen immer blühenden und duftenden Gürtel um die europäischen Hauptstädte bilden, und die dürren Weizenfelder verlassen den Reisenden kaum eher, als bis er Madrid selbst betritt. Auch nicht früher sieht man etwas von der Hauptstadt Bevölkerung. Ein paar hundert Schritte EXTRA MUROS ist’s schon so stille und einsam, daß man sich mitten in der Sierra, hundert Meilen von dem Orte denken könnte, in dem 160,000 Menschen wohnen, und welcher der Centralpunkt für die Macht und den Glanz des Reichs, und der gewöhnliche Aufenthalt des Hofes ist.

Madrid, modernen Ursprungs, hat gegen 8000 Häuser, die in ein unregelmäßiges Viereck von vierstündigem Umfang zusammengebaut sind. Vor Karl V. Zeit war es eine kleine Landstadt; die Laune dieses Monarchen erhob sie, um ihrer Lage im Mittelpunkt des Reichs willen, zur Hauptstadt, und unter seiner und seines Sohnes Philipp II. Regierung erreichte sie schnell ihre jetzige Größe. Darum gehören die meisten Gebäude jener Zeit an, und tragen ihr Gepräge: Schwerfälligkeit und Dauer. Die alte königliche Residenz brannte 1733 ab, und wurde seitdem in neuitalienischem Style wieder aufgebaut. Sie ist ein nobles Viereck, 500 Fuß lang auf jeder Seite, und macht, frei auf einer Anhöhe stehend, eine große Wirkung. Ihr gegenüber ist das Sommerschloß BUEN RETIRO, mit verfallenen Gartenanlagen. Ein aus großen Alleen bestehender, reich mit Springbrunnen gezierter Spaziergang – der Prado – macht den Lieblingsort der Madrider aus, und ist für sie das, was der Prater für Wien, oder der Regents- und Hydepark für London ist. Hier versammelt sich an heitern Tagen die Madrider Welt, ohne Unterschied der Stände, zum Genuß der freien Luft, und um zu sehen, oder sich sehen zu lassen. Nahe dabei ist das Amphitheater zu den Stiergefechten. – Entfernter prangen die königlichen Lustschlösser Pardo und Casa del’ Campo, mit schönen Gartenanlagen. – Madrid hat eine Universität, seit 1770 gegründet, und trotz sehr mangelhafter [53] Einrichtung, gegenwärtig die besuchteste Spaniens. 13 Academien für alle Zweige der Kunst und der Wissenschaft verzehren reiche Dotationen; aber von ihrem praktischen Nutzen hört man noch weniger, als von dem so vieler andern außerspanischen ihrer Gattung. Das königliche Museum ist an Gemälden der größten Meister eines der reichsten der Welt; und die königliche Bibliothek, früher schon an Handschriften und alten Drucken so bedeutend, hat durch die Aufhebung der spanischen Klöster einen unermeßlichen, aber noch ungeordneten Zuwachs literarischer Schätze erworben, die in ruhigern, künftigen Tagen der gelehrten Welt kostbare Ausbeute versprechen. Gewerbe und Handel beschränken sich, bei der ungünstigen Lage von Spaniens Hauptstadt, fern von schiffbaren Strömen, auf die Consumtion.

Zu den politischen Veränderungen, welche Spanien seit einem Viertel-Jahrhundert so häufig heimsuchen, gab die bewegliche Bevölkerung von Madrid meistens den ersten Anstoß. Ihr von der Geistlichkeit geleiteter Aufstand gegen die Franzosen am 2. Mai 1808 war das Signal zur Schilderhebung der ganzen Nation, an der sich zuerst Napoleons Glück und seine Macht gebrochen hat. Auch an der neuesten Veränderung in der spanischen Politik haben die Madrider großen Antheil, und welche Hauptrolle die Hauptstadt in der Revolution, an deren Abgrund Spanien hingedrängt ist, spielen wird, ist leicht zu ermessen. Madrid ist für Spanien der Heerd des wilden, unächten Freiheitsschwindels, wie Paris für Frankreich es war, und seine Aeußerungen werden dort nicht weniger furchtbar seyn.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jaherszeit