Med. Topographie Gmuend:039
Franz Joseph Werfer Versuch einer medizinischen Topographie der Stadt Gmünd | |
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[74] und weiser, als jene, welche noch an strenge Sitten, und altes wenn schon löbliches Herkommen halten; sieht in ihrer Denk- und Handlungsweise nur Vorurtheile und Aberglauben, und weiß nicht bald genug denselben, und damit auch des Löblichen und Guten in solchen los zu werden; denn solchen Menschen heißt – sich über Sitten, über Anstand und Wohlverhalten wegsetzen, alles Geistliche und Religiöse belächeln – Aufklärung, feine Bildung und Welt haben. Vieles mag zu dergleichen Sinnesänderungen auch die in unsern Tagen so allgemein herrschend gewordene, und bey uns unter beiden Geschlechtern gar nicht ungewöhnliche Lesesucht, besonders der beliebten Romane, Mode- und andern oft leicht mißverstandenen Schriften und Bücher statt des sonst mehr gebräuchlichen Gebeth- und Sittenbuches und der freylich alternden, aber immerhin schöne Muster hoher Tugend vorhaltenden Legende, mehr noch aber der Vernachläßigung einer nie zu frühen religiösen Bildung in so manchen väterlichen Hause, beygetragen haben und noch beytragen. Ferne aber, recht ferne wolle bleiben die verderbliche Sitte der großen Welt – Geringschätzung oder Nichtachtung der bey allen gesitteten Völkern geheiligten Bande der Ehe – möge sie nie herrschend werden, wie sie hie und da zu werden scheint; Armuth, Verachtung, und was noch das ärgste ist, Verderbniß der Kinder sind unausbleibliche Folgen dieser unnatürlichen Gewohnheit, und schwer wird dereinst die Verantwortung auf der Eltern Seele lasten! Möchten wir nie erfahren müßen die Gewalt des herrschenden, immer mehr um sich greifenden und in seinen Folgen so verderblichen [75] Zeitgeistes! denn er ist wahrhaft kein guter Geist, wie ihn uns eine schon frühere und hier angezogene Schilderung desselben von einem der besten Schriftsteller[1] Deutschlands auf eine nicht tröstliche Weise bezeichnet, deren Richtigkeit und Wahres aber gewiß ein jeder fühlt, der die Menschen mit Aufmerksamkeit und unpartheyisch beobachtet. „In der niedern und zahlreichern Klasse stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelößtem Bande der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wuth zu ihrer thierischen Befriedigung eilen. – Auf der andern Seite geben uns die civilisirten Klassen den noch widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist. Ich weiß nicht, welcher ältere oder neuere Philosoph die Bemerkung gemacht hat: daß das Edlere in seiner Zerstörung das Abscheulichere sey, aber man wird sie auch in moralischen wahr finden. Aus dem Natursohne wird, wenn er ausschweift, ein Rasender, aus dem Zögling der Kunst ein Nichtswürdiger. Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbniß durch Maximen befestiget. Wir verläugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem Moralischen ihre Tyranney zu erfahren, und in dem wir ihren Eindrücken widerstreben, nehmen wir ihre Grundsätze von ihr an. Die affectirte Decenz unsrer Sitten verweigert ihr die verzeihliche erste Stelle, um ihr
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