Med. Topographie Gmuend:040

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Franz Joseph Werfer
Versuch einer medizinischen Topographie der Stadt Gmünd
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in unsrer materialistischen Sittenlehre die entscheidende Letzte einzuräumen. Mitten im Schooße der raffinirtesten Geselligkeit hat der Egoismus sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit herauszubringen, erfahren wir alle Ansteckung und alle Drangsale der Gesellschaft. Unser freies Urtheil unterwerfen wir ihrer despotischen Meinung, unser Gefühl ihren bizarren Gebräuchen, unsern Willen ihren Verführungen. Nur unsre Willkühr behaupten wir gegen ihre heilige Rechte. Stolze Selbstgenügsamkeit zieht das Herz des Weltmanns zusammen, das in dem rohen Naturmenschen noch oft sympathetisch schlägt, und wie aus einer brennenden Stadt sucht jeder nur sein elendes Eigenthum zu retten. Nur in einer völligen Abschwörung der Empfindsamkeit glaubt man gegen ihre Verwirrungen Schutz zu finden, und der Spott, der den Schwärmer oft heilsam züchtiget, lästert mit gleich wenig Schonung das edelste Gefühl. Die Kultur, weit entfernt, uns in Freyheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft die sie in uns ausbildet, ein neues Bedürfniß. Die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender zu, so daß die Furcht zu verlieren, selbst den feurigsten Trieb nach Verbesserung erstickt, und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt. So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischen Unglauben schwanken, und es ist blos das Gleichgewicht des Schlimmern, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.“[1]

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In Hinsicht der Sitten und Gebräuche unter hiesigen Einwohnern hat sich seit dem letzten Dezennium vieles verändert, zumal bey den manchen neu eingetretenen politischen Staatsveränderungen, in der sie sich übrigens als gute Bürger und treue Unterthanen jederzeit leicht zu schicken wissen; manche derselben litten mit diesen gleichzeitigen Veränderungen, und noch mehrere kamen als den Zeitumständen nicht ferner angemessen und anpassend auch ganz außer Gang und Uebung; so wie selbst die Lebensart so mancher bey verminderten Wohlstand, nach dem nicht wenige Quellen unsers Handels im Auslande und des daherigen Erwerbes derzeit versiegten, auch manche Beschränkung und Veränderung erleiden mußte. Oeffentliche Vergnügungen und Ergötzlichkeiten, wozu der sonst joviale Gmünder schon seines Temperaments und der frühern Angewöhnung wegen so gerne gestimmt ist, sieht man jetzt weniger und sparsamer besuchen, als vor dem, was wohl größtentheils den drangvollen Zeitumständen bey gegenwärtiger Stockung des Handels und unsrer Gewerbe zuzuschreiben ist. Unser Manufakturist, sonst gewohnt ein gutes Glas Wein in unterhaltender Gesellschaft zu trinken, und auch gerne etwas dabey zu verzehren, muß sich jetzt im allgemeinen mit einer Flasche weisen oder braunen Biers, welches letztere in neuer Zeit überhaupt häufiger als sonst bey uns getrunken wird, begnügen. Der gesellschaftliche Ton, sonst mehr frey und ungezwungen, ist etwas gespannter und zurückhaltender. Unter der Woche besucht der gemeine Mann das Wirthshaus seltner, wo im Winter ein Kartenspiel oder Gespräche über häußliche und andere Gegenstände


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hier: 5. Brief; Entstanden 1793-94, Erstdruck in: Die Horen (Tübingen), 1. Jg., 1795, Heft 1, 2 und 6.