Mehrere Gattungen des Epigramms

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Mehrere Gattungen des Epigramms
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aus: Zerstreute Blätter (Zweite Sammlung) S. 125-138
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Erscheinungsdatum: 1786
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[125]
3. Mehrere Gattungen des Epigramms.


Aber nicht alle Gegenstände sind von der Art, daß sie nur vorgezeigt werden dürfen, um auf den Verstand oder auf das Herz zu wirken; bei andern müssen erklärende oder anwendende Worte hinzukommen, die der Sache eine Richtung geben oder ihren Sinn entwickeln. Und so nähern wir uns allmälich den künstlichern epigrammatischen Formen, wenn wir die, die wir bisher betrachteten, die einfache oder darstellende nennen möchten.

Die nächste nach ihr ist ohne Zweifel die, die ohne weitere Bindung, der Exposition des Gegenstandes seine Anwendung platt und plan hinzufügt; sie ist wenig künstlich, aber auch wenig reizend.

Auf die Erschlagnen bei Thermopylä.

Die das Vaterland einst vom Joch der traurigen Knechtschaft
retteten; dunkel zwar liegen im Staube sie hier;

[126]

Aber sie glänzen an Ruhm. Wer unter den Bürgern sie anschaut.
lern’ an ihnen, mit Muth sterben fürs Vaterland.

Man vergleiche diese Aufschrift mit jener dumpfen Stimme der Todten:

Wanderer, sag’s zu Sparta, daß, seinen Gesetzen gehorchend,
wir erschlagen hier liegen. –

und es wird keine Frage seyn, welchem Epigramm mehrere Würde und Wirkung gebühre. Muß es dem Wanderer erst zugeruffen werden, daß er Liebe fürs Vaterland lerne? und wie lernte er sie hier am Grabe? an einem Grabe, dessen Exposition ihm nichts sagt, als daß die hier Verscharreten anderswo im glänzenden Ruhm leben. - Ueberdem läuft ein Epigramm dieser Art immer Gefahr, in zwei Theile, die Exposition und Nutzanwendung zu zerfallen und also, wenn beide Stücke nicht außerordentlich neu und schön sind, ein moralischer Gemeinplatz oder gar eine Fabel, ein Emblem, ein Geschichtchen, [127] mit einer nützlichen Lehre besetzt, zu werden; Dinge, die von den wahren Eigenschaften des Epigramms, von seiner lebendigen Gegenwart, Einheit und Energie fern abführen.


Also hat man wenigstens einige Hülfsmittel dazu genommen, dem Epigramm auch in dieser Gattung seine bessern Eigenschaften zu erhalten. Man giebt z. B. die Lehre, auf die es angelegt ist, dem Gegenstande selbst in den Mund und macht ihn dadurch gleichsam zu einem sprechenden Emblem, zu einem durch sich selbst unterrichtenden Wesen. a)[1] Oder es wird ein Gespräch zwischen dem Wandrer und ihm gedichtet. b)[2] Oder man zog wenigstens die Lehre aus einem seltnern Fall, den man epigrammatisch erzählte; die Lehre selbst aber war kurz, ausgesucht, annehmlich vorgetragen und mit dem Gepräg’ einer menschlichen [128] Empfindung bezeichnet. a)[3] Finden sich eins oder mehrere dieser Stücke in einer glücklichen Anwendung; warum solte man nicht eine kleine epigrammatische Fabel, eine lehrende Geschichte, ein niedliches Emblem, das uns in wenigen Reihen mit seinem Sinnspruch gegenwärtig gemacht wird, gern lesen? Ich hätte also Lust, diese Gattung des paradigmatische oder Exempel-Epigramm zu nennen: denn ein Beispiel mit seiner Lehre ists doch immer, worauf es hinausläuft. Nur muß dies Beispiel d. f. der erzählte Fall oder das lehrende Bild uns gegenwärtig gemacht werden: denn heißt es blos: „es war einmal“ so ists eigentlich kein Epigramm mehr, sondern eine Fabel und wenn die Erzählung gar keine Lehre in sich faßt, ein müßiges Mährchen. So ists auch mit dem Emblem, dem Bilde und Gleichniß. Wird dies blos erzählt, z. B. „wie die Schiffahrt auf dem Meer, so das Leben der Menschen“ so ists, Trotz aller epigrammatischen [129] Wendung nur ein Gleichniß; stehet das Bild aber vor uns und spricht zu uns mit seiner Lehre oder Empfindung, so fort ist das Gleichniß oder Emblem Epigramm worden.


Da jeder das Unvollkommene dieser Gattung fühlt, indem sie ihren Gegenstand selten zu der lichten Spitze zu bringen weiß, auf welcher Er mit seiner Anwendung gleichsam Eins wird und sich in sie verlieret: so hatte der menschliche Geist allerdings noch ein Feld schönerer Epigramme vor sich und ich zweifle nicht, daß Kunstwerke ihn auf dies schönere Feld führten. Im Kunstwerk nemlich hatte der Künstler selbst schon auf Einen Gesichtspunct gearbeitet und dieser galt nicht nur dem Auge, sondern auch der Seele. Das Moment Eines Affects, Einer Situation wollte er lebendig machen; dies durfte der empfindende Dichter nur bemerken, es zum lichten Punct seiner Beschreibung auszeichnen und das schildernde Epigramm war ihm vom Künstler [130] selbst gegeben. Siehe da die schönen Sinngedichte der Griechen auf ihre vortreflichen Kunstwerke. Bei dem leidenden Philoklet a)[4] z. B. steigt der Dichter von Zuge zu Zuge, von Stuffe zu Stuffe, um endlich im vollesten Anblick geistiger Gegenwart von allen Zügen sagen zu können:

– sie zeigen ach! seinen unendlichen Schmerz. Ja hätte er dieses auch nicht gesagt, hätte er blos wie bei Herkules und Antäus Bilde b)[5] Zug auf Zug geschildert, um uns die Gewalt und Macht beider Ringenden des Siegers und des Besiegten, bis zum höchsten Punkt des Ausgangs in die Seele zu prägen: so hätte damit das Epigramm nichts verlohren. Aus dem schildernden wäre ein darstellendes worden, in welchem der Eindruck des Ganzen immer der letzte Punct blieb, auf den es der Dichter anlegte. So die Epigramme auf das Gemählde [131] der Iphigenia, der Polyxena, der Medea. c)[6] Der Epigrammatist bemerkte den hellesten oder rührendsten Punct des Moments, den uns der Künstler gegenwärtig machen wollte und zeichnet ihn, nachahmend seiner Weisheit und Wahrheit, aus der ganzen Masse von Zügen, ja gleichsam aus des Künstlers Seele aus. Diese schildernde Epigramme sind also sehr belehrend: sie zeigen, worauf der Grieche arbeitete und wie er fühlte; mithin schärfen sie unser Auge für die Kunst und unsre Seele für die wahre Kunstempfindung: denn meistens ist der Gesichtspunct des Dichters wie des Künstlers menschlich und zart oder erhaben und edel.


Von diesem Kunstanblick ging das Sinngedicht auch auf Gegenstände der Natur aus, um sie mit eben der Schärfe eines goldnen Lichtstrals dem Geist oder dem Herzen zu zeigen. Ich will [132] von den Epigrammen nicht reden, die die Liebe eingab und in denen sie auch selbst den zeichnenden Griffel führte. Sie stellte die Züge des geliebten Objects auf den Punct zusammen, der dem Herzen genug thun sollte und der zuletzt oft in eine lichte Flamme auflodert. Ob es mir gleich nicht geziemte, viele Stücke dieser Art, an welchen die sinnlichen Griechen sehr reich sind, in meine Sammlung aufzunehmen: so werden doch auch unter den Gesammleten einige Proben Meleagers u. a. d)[7] die oft bis zum Liebestrunknen Wahnsinn hinaufsteigen, diese Gattung genugsam erklären. – Gleichergestalt ergiesset sich das griechische Epigramm oft beim Anschauen schöner Gegenden in eine Art von Göttergenuß, in welchem der Dichter alle Gegenstände der Natur zuletzt belebt fühlet und rings um ihn her Göttinnen und Nymphen, Dryaden und Hamadryaden in entzückendem Tanz schweben. e)[8] Auf [133] den größten Theil unsrer Leser mögen diese Epigramme weniger Wirkung haben, theils weil uns solche belebende Personificationen bloße Namen sind, theils weil uns die Lebhaftigkeit des griechischen Organs in manchen Empfindungen zu fehlen scheint.


Künstlicher wird des Epigramm bei Gegenständen, in denen sich eine Art von Zwiefachem darbeut, das, unter Einen Gesichtspunkt gebracht, dem Gedicht Wendung giebt und gleichsam eine Art von Handlung verleihet. Eine Biene z. B. stört den Kuß des Liebenden; a)[9] warum stört sie ihn? was will sie sumsend dem Küssenden sagen? Der Dichter erklärt es uns und sein Epigramm wird eben dadurch um so schöner, je unerwarteter der Gedanke ist, der aus zwei disparaten Dingen gleichsam vor unsern Augen entsprießet. Und noch war das eben [134] genannte Epigramm den Griechen schöner als uns, weil ihnen der Mittelbegrif „Amor als Biene“ geläufiger war und ihnen also auch die Entwicklung natürlicher als uns scheinen mußte. So die weinende Rose. b)[10] Der Sänger jauchzet in seinem Freudenkranze; siehe da weint unter den Blumen desselben die Blume der Liebe: der Affect wendet sich und der Ausgang des Epigramms überrascht uns lieblich. Bei den meisten Epigrammen von der schönsten Wendung wird man dies Zwiefache im Object nicht verkennen, entweder daß zwei wirklich getrennte Gegenstände im Gesichtspunct des Dichters verbunden werden oder in dem Einen Gegenstande etwa eine neue Eigenschaft, also ein Doppeltes erscheint, das dem Ganzen eine unerwartete Wendung verschaffet. Von jener Art sind z. B. die Schwalbe, die auf dem Bilde der Medea nistet; die Nachtigal, die eine Cicada ins Nest trägt; c)[11] [135] von dieser die Vertraute, die weinende Rose d)[12] u. f. Ohne Zweifel ist die letzte Art, die in Einem und demselben Gegenstande ein Zwiefaches entwickelt, feiner als die andre, bei der das Epigramm gleich von Anfang an auf den doppelten Gegenstand gerichtet werden mußte, denn da sich hier die neue Eigenschaft nur in der Mitte oder gegen das Ende entwickelt, so tritt sie ungesuchter hervor und führet einen Ausgang herbei, der eben so unerwartet, lieblich befriedigt. Die Pointe dieser Art wird kein reizender Stachel, kein Funke, der aus hartem Stahl springt, wie Werneke die Pointe seiner Ueberschriften nannte; vielmehr windet sich das Epigramm wie ein Kränzchen umher, in dem uns der Dichter zuletzt eine vor unsern Augen hervorsprießende Rose zeiget; oder es nähert sich sogar, wenn es Empfindung zu sagen hat, dem erquickenden Ton eines Liedes.

[136] Wird die Wendung des Sinngedichts, von der wir reden, weit fortgeführt: so entsteht die Art Epigramme daraus, die man die Täuschenden nennen könnte. Sie sind um so angenehmer, je ungesuchter die Täuschung war, je schöner die letzte Zeile, vielleicht nur das letzte Wort uns entzaubert. Hier z. B. scheint Venus zu baden und es ist Rhodoklea: a)[13] hier steht ein zweiter Paris vor drei Göttinen, um die Schönste derselben zu krönen und er krönt sie alle drei: b)[14] dort fliegt Amor einer Sterblichen in den Schoos und glaubt, sie sei seine Mutter u. f. Dergleichen Spiele, die auch von den Neuern mit vieler Anmuth nachgeahmt sind, waren bei den Griechen zu Hause und ihre Mythologie bot ihnen darinn den schönsten Vorrath verhüllender oder verwandelnder Zierrathen dar. Im Spott und im Ernst, beim Lobe und Tadel, überhaupt bei jeder unerwarteten Lehre und Bemerkung [137] giebt eine dergleichen fein-fortgeführte und schöne aufgelöste Täuschung treffende Epigramme, ja manche derselben werden beim ersten Lesen unvergeßlich.


Die letzte Gattung des Sinngedichts endlich mag die rasche oder flüchtige heißen. Unerwartet treffen zwei Gedanken zusammen und lösen einander auf; zwo Materien brausen in einander und es sprühet ein Funke. Diese Gattung liebt Kürze und einen leichten Vortrag; hier Frag’ und Antwort, dort einen Spott und lachenden Ausruf. Auch die Griechen haben schöne Stücke dieser Art, die Neuern noch mehr und unter unserm Epigrammatisten sind, dünkt mich, Leßing und Kästner in dieser wie in der vorigen Art, Meister. Hier ist der Ausgang des Epigramms eigentliche Spitze oder Pointe; welchen Namen die Franzosen, deren Sprache und gesellschaftlichen Witz diese Gattung vorzüglich liebet, meistens auch für sie erfanden, da sie die vorhergehenden Arten lieber in ein Lied, [138] in eine Stanze, in ein Sonnet oder Madrigal kleiden wollten. Nichts ist der Wirkung dieser leichten und losen Schaar von Einfällen mehr zuwider, als wenn sie langweilig vorgetragen werden: denn wer wird eine Alpenreise unternehmen, um den Schwärmer zu sehen, der einem Zuschauer leichtfertig vor die Stirn fährt? oder wer wird die Biene artig finden, die statt des Stachels mit einem Feuerhacken auf uns zukommt? Die griechischen Epigramme dieser Art sind also auch die kürzesten und leichsten und es ist angenehm wahrzunehmen, wie mancher Neuere griechischen Witz sagte, ohne daß er die Griechen kannte. Der wahre Witz nämlich ist überall derselbe; auch die Art, wie er am besten gesagt wird, wiederholt sich in allen Zeiten und unter allen Völkern. Da überdem ein großer Theil dieser Gattung die Narren und Thoren unsres Geschlechts angeht; so ists ja gut, daß diese in allen Jahrhunderten so ziemlich dieselben bleiben und das älteste sowohl als das neueste Epigramm ihnen denselben Helleborus bereitet.


  1. a) Beispiele siehe zersteute Blätter. Th. 1. S. 74. 32. Th. 2 S. 8. 24.
  2. b) Zerstr. Blätt. Th. 1. S. 18. 24. Th. 2. S. 61.
  3. a) Zerstr. Blätt. Th. 1. S. 33. 67. Th. 2. S. 24. 26.
  4. a) Zerstr. Blätt. Th. 2. S. 97.
  5. b) Th. 2. S. 98.
  6. c) Th. 2. S. 85. 86. 87.
  7. d) Th. 1. S. 62. 65. Th. 2. S. 66.
  8. e) Th. 1. S. 84. Th. 2. S. 13. 60. 80.
  9. a) Th. 1. S. 5.
  10. b) Th. 1. S. 63.
  11. c) Th. 1. S. 6. Th. 2. S. 5.
  12. d) Th. 1. S. 42. 63.
  13. a) Zerstr. Bl. Th. 1. S. 64
  14. b) Th 1. S. 46.