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Vereinigung der Gattungen zum Hauptbegrif des Epigramms

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Vereinigung der Gattungen zum Hauptbegrif des Epigramms
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aus: Zerstreute Blätter (Zweite Sammlung) S. 139–155
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Erscheinungsdatum: 1786
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Googleund Commons
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[139]
4. Vereinigung der Gattungen zum Hauptbegrif des Epigramms.


Sieben Gattungen des Sinngedichts nahmen wir bisher wahr; wir wollen sie jetzt unter einander ordnen und sehen, was wir in ihnen zu Einem gemeinschaftlichen Hauptbegrif fanden.

Die erste war die einfache darstellende Gattung. Sie ist nur Exposition des Gegenstandes und trauet es diesem zu, daß er durch sich selbst belehre oder rühre. Erreicht sie diese Wirkung nicht: so ist sie blos eine historische Anzeige, Epigraphe.

Die zweite fügte der Exposition eine schlichte Anwendung hinzu, die wir also das Exempel-Epigramm nannten. Ihr Werth beruhte auf der Merkwürdigkeit des Objects und seiner glücklichen Anwendung.

Die dritte mahlte ein Kunstbild in und zu einem lichten Sehepunct aus, die wir also die schildernde nannten und als eine Schwester [140] der vierten, der leidenschaftlichen betrachteten, die gleichfalls Einen Gegenstand der Empfindung bis zu Einem höchsten Punct des anschauenden Genußes oder der gegenwärtigen Situation erhöhen wollte.

Die fünfte bemerkte in dem Einen ein Mehreres und wendete also den Gegenstand, bis sie mit einer Art von Befriedigung schloß; die wir also die künstlich-gewandte nennen möchten. Sie war die Schwester einer andern Gattung, die diese Wendung bis zu einer Art Täuschung trieb, von der sie uns nachher meistens schnell und in einem Augenblick entzaubert.

Die siebende endlich ging rasch und kurz. Sie vereinigt Contraste oder bemerkt, lehrt und strafet mit der Schnelle des Pfeils, oft in einem einzigen Worte.

Ich bilde mir nicht ein, jede epigrammatische Schönheit mit diesen Abtheilungen gefesselt zu haben: denn selbst die sieben Farben des Lichtstrals haben ihre vielen Schattierungen und Zwischenfarben. Wer mag die unzähliche Menge [141] der Gegenstände claßificiren, die eine Beute des Epigramms seyn können? und wer die unzählichen Wendungen bestimmen, mit der ein neuer Gegenstand von einem neuen Dichter erbeutet werden mag? Indessen dünkt michs, daß die schönsten Stücke der berühmtesten Meister sich ziemlich hiernach ordnen ließen, ja daß man auch nach dieser Claßification die Ursachen angeben könne, warum einige Gegenstände mehr in die Eine als in die andre Claße gehören. Die Grabschriften der Griechen z. B. die von so verschiedner Art sind, erzählen entweder bloß das rührende Factum selbst und so sind sie von der ersten Gattung. Oder sie machen zugleich eine Anwendung davon und so gehören sie zur zweiten. Oder sie sind Klage, ein Elegie auf dem Leichenstein, eine Einsegnung des Grabes u. f. mithin gehören sie zur vierten Gattung. Oder sie schildern das Leichen-Monument und seine bedeutenden Bilder, so sind sie aus der dritten Claße. Oder es steht ein kurzer fliegender Sinnspruch auf dem Grabe: dieser mag sich in die [142] letzte Ordnung fügen. Künstlich gewendete aber, oder gar täuschende Epigramme wird man auf der Stela nicht suchen, auf welche ein solches Spiel nicht gehöret.

Ein gleiches ists mit den moralischen Sinnsprüchen, die so oft unter die Epigramme laufen. Führen sie ihre Veranlaßung mit sich: so gehören sie zur zweiten Gattung. Stehn sie allein da und zeichnen sich blos durch die epigrammatische Wendung aus: so mögen sie sich unter die fünfte oder siebende ordnen: denn warum sollte nicht auch eine allgemeine Wahrheit als ein gegenwärtiges Object behandelt und epigrammatisch gewandt werden können? Oder endlich es ist ein mangelhaftes Epigramm, dem seine Veranlassung fehlet. Und da lassen sich historisch die Ursachen leicht angeben, warum so viel Sinn- und Denksprüche unter die Epigramme kamen? Alle Völker im Jugendalter und Morgenländer schrieben sie an Tempel und Wände, an Landhäuser und öffentliche Plätze. Zuerst kurz; nachher [143] bildeten die Dichter sie aus, streueten sie ihren Werken ein; oder man nahm sie aus den Werken der Dichter und die Sammler trugen ganze Gnomoligieen zusammen, die zuletzt mit andern kleinen Gedichten in Einen Kranz kamen. Da nun bei den Griechen die elegischen und gnomischen Dichter mit den epigrammatischen gar Einerlei Sylbenmaas hatten; wie konnte es anders seyn, als daß alle drei sich einander halfen, sich auf einander bezogen und endlich auch ziemlich mit einander vermischt wurden. Bei den Sinnspüchen kam viel darauf an, wer sie gesagt hatte? und wenn er sie sagte? Die Umstände ihrer Veranlaßung vertraten gleichsam die Stelle der Exposition; diese ward vergessen und nur der Spruch, gleichsam der Ausgang des Epigramms, blieb im Gedächtniß? So auch mit dem Ort, der sie darstellte. Oft war dieses ein Grab und auf berühmte Gräber z. E. Gardanapals, Cyrus, Alexanders u. a. wurden späterhin Sprüche zu Inschriften gedichtet, die nie darauf gewesen waren; das Grab vertrat die Stelle der Exposition, [144] der Spruch selbst war die Anwendung. Bei welchem Volk der Erde ist es anders gewesen? Wir Deutschen sind vorzüglich reich an Sinnsprüchen, die uns statt wahrer Epigramme gelten: unter den 3000 Sinngedichten, die Logau gedichtet hat, werden sich wahrscheinlich drittehalb tausend Sinnsprüche finden, die vom wahren Epigramm wohl nichts als etwa die Kürze und den scharfsinnigen Ausdruck haben dörften.

Rücken wir also die angeführten Gattungen zusammen: mich dünkt, so breitet sich das Epigramm mit seinen känntlichsten Farben auseinander. Von der historischen Exposition erhebt es sich zum Sinngedicht mit Schilderung. Wendung und Täuschung; neiget sich endlich auf der andern Seite zum sinnreichen Spruch hinunter. Die Eintheilung der alten Theoristen, da sie die Epigramme in einfache und zusammengesetzte claßificirten, bekommt hiemit Bestimmung und Wahrheit: Denn die erste, oft auch die zweite, dritte und vierte Gattung wird sich zum Namen des einfachen, die fünfte, sechste, [145] meistens auch die siebende zur Classe zusammengesetzter Epigramme fügen, weil jenes einfach fortgeht, diese sich durch das Zwiefache, das in ihnen anschaubar gemacht wird, mehr oder minder entfalten und sondern. Durch alle Classen und Gattungen aber wird der Eine Hauptbegrif merkbar, daß das Epigramm ein gegenwärtiges Object zu einem einzelnen festbestimmten Punct der Lehre oder der Empfindung poetisch darstelle oder wende und deute, mithin ist der Name Sinngedicht zumal für die schönsten Gattungen sehr glücklich. Dem gegenwärtigen Object wird gleichsam Sinn gegeben, Sinn angedichtet und dieser in der kürzesten, angenehmsten, lebendigsten Sprache uns zum Sinne gemacht d. i. in unsre Seele geschrieben. Die gewöhnlichen Regeln des Epigramms lassen sich aus dieser Erklärung nicht nur finden; sondern sie nehmen auch aus ihr Grund und Ursache her.

Man pflegt z. B. vom Epigramm Kürze, Anmuth, und Scharfsinn brevitatem, venustalem, [146] acumen)) zu fodern und giebt zuweilen sehr unbefriedigende Ursachen an, warum man sie fodre? Ueber die Kürze sagt man: „Die Aufschrift sei für den Wandrer gemacht und ein Wandrer müsse kurz abgefertigt werden.“ Wie aber, wenn der Wandrer ein müßiger Spatziergänger wäre und gern verweilte? Zudem sind ja die wenigsten Epigramme Aufschriften für die Landstraßen und wenn sie es wären, so müßte wer die lesen wollte, sich Zeit nehmen, sie zu lesen, sobald ihre innere Natur Weitläuftigkeit foderte. Diese aber selbst fodert Kürze und das ist der Grund der Regel. Ein Gegenstand nämlich soll zu einem einzigen Punct der Wirkung vorgezeigt werden; wie kann dies anders geschehen, als mit strenge gehaltner Einheit, mit Sparsamkeit sowohl als mit weisem Verhältniß der Züge gegen einander und auf den letzten Punct des Ausgangs? Da Worte nicht wie Farben schildern, da sie nur nach einander uns die Züge, wie Tropfen, zuzählen und der Vorige vorbei ist, wenn der folgende erscheinet: so [147] muß das kleine Gedicht, das uns den ganzen Anblick, den Sinn eines Objects geben will, nothwendig das Hinderniß des Mediums, wodurch es wirkt, d. i. die Unvollkommenheit der successiven Sprache, so viel möglich, zu überwinden suchen und das Meiste im Wenigsten, das Ganze im kleinsten Maas, mit der bestimmtesten Absicht auf seine Wirkung geben. Die Regel über die Kürze des Epigramms löset sich also in Begrif seiner Einheit auf: denn sobald Kürze die Klarheit der Exposition oder gar die Wirkung des Ausgangs hindern würde: so ist sie kein Erforderniß mehr. Eine Reihe zu wenig kann dem Epigramm eben so wohl, als eine Reihe zu viel, schaden, wie so manche Beispiele unsrer ältern dunkeln Epigrammatisten zeigen.

Eben so ist es mit der Anmuth (venustas) sie ist keine allgemeine erste Eigenschaft des Epigramms und kommt ihm nicht mehr zu, als jedem andern Gedichte. Nicht alle Gegenstände wollen anmuthig vorgetragen seyn: einige machen auf etwas Höheres, auf Würde und Rührung Anspruch; [148] andre wollen stechen, nicht streicheln und salben. Was aber jedes Epigramm haben muß, ist lebendige Gegenwart und fortgehende Darstellung derselben, Energie auf den letzten Punct der Wirkung. Das schöne Kleistische Epigramm: z. B. Arria und Pätus verliert sogleich etwas von seiner Wirkung, da es nicht mit lebendiger Gegenwart auftritt, sondern aus alten Zeiten anhebt:

„Als Pätus auf Befehl des Kaisers sterben sollte.“

Der Ausgang ist hohes Epigramm; der Anfang eine versificirte Geschichte.

Endlich nimmt aus unsrer Erklärung das am meisten Aufschluß, was man die Pointe (acumen) des Epigramms nennt und meistens als ein tiefes Geheimniß behandelt hat. Aus dem Begrif der Aufschrift folget sie nicht: denn will jeder gestochen seyn, der eine Aufschrift lieset? leiden alle Gegenstände einen solchen Stachel? und wäre überhaupt der grobe Begrif eines Stichs der Sinn dieses Wortes und aller [149] Epigramme Wirkung? Mit nichten; der Ausdruck selbst will etwas viel Edleres sagen. Jeder Gegenstand nämlich, der vorgezeigt werden soll, bedarf Licht damit er gesehen werde; der Künstler also, der fürs Auge arbeitet, muß auf Einen Gesichtspunct arbeiten und für ihn das Moment seines Subjects wählen. Was dem Künstler dieser Gesichtspunct von innen ist; das ist dem Epigramm die Pointe. Der lichte Gesichtspunct nämlich, aus dem der Gegenstand gesehen werden soll, auf welchen also das Epigramm vom Anfange bis zum Ende arbeitet oder wenn es Epigramm für die Empfindung ist, das Moment seiner Energie, der letzte scharfgenommene Punct seiner Wirkung (ογκος.)

Aus diesem leichten und natürlichen Begrif, den die erste Idee eines darstellenden kurzen Gedichts selbst mit sich führet, läßt sich sogleich beurtheilen, wiefern ein’ oder die andre Gattung des Epigramms auch einen schärfern oder linderen Ausgang haben könne und haben werde: denn nicht jede Kunst arbeitet für ein gleiches scharfes [501 (sic!)] Licht und noch weniger ist jeder Gegenstand für dasselbe tauglich. Die Statue des Bildhauers soll von allen Seiten gesehen werden; er arbeitet also für alle diese und bestimmt durch die Stellung und Wendung, die er dem Bilde giebt, nur leise, aus welchem Punct er am liebsten gesehen zu werden wünschet. So ists mit den Epigrammen, die blos Geschichte oder Exposition sind; die Erzählung selbst muß den Punct bestimmen, aus dem sie gesehen, sammt dem Moment, das in ihr gefühlt werden soll; jede hinzugesetzt Pointe vernichtet des Werks Wirkung. Das edle Wort der Arria; Pätus, es schmerzet nicht! das Wort der sterbenden Tochter: Vater, ich bin nicht mehr! a)[1] Der verachtende Ausruf Leonidas: ich geh wie ein Spartaner hinab! b)[2] sie sind, in welcher Zeile des Epigramms sie auch stehen mögen, der Punct, darauf gearbeitet wird, das Moment seiner Wirkung. Wer ein scharfsinnigeres [151] und feineres begehrt, für den ist diese Gattung der Sinngedichte, voll großen Sinnes, nicht da. So wenig die Bildsäule bekleidet und mit Farben geschmückt werden kann, so wenig paßt für erhabne, durch ihre Einfalt rührende Expositionen ein zu zugespitzter Witz oder etwa gar in jedem Distichon eine neue Pointe. Anders ists mit den gewandten Gattungen und mit jeder nach dem Maas ihrer Wendung; in ihnen wird nothwendig auch der Lichtpunct schneidender und feiner, der das Object erhellet und ordnet, der seine Theile sondert und sie aufs schönste zu Einem Ganzen verbindet. Man entkäme also dem meisten Mißverstande dieser Regeln, wenn man statt Kürze, Einheit, statt Anmuth lebendige Gegenwart und statt der Pointe den Punkt der Wirkung verlangte, der das Ganze energisch vollendet.

Leicht abzusehen ists, daß nach der gegebnen Erklärung das Epigramm sich von allen kleinen Gedichten unterscheiden lasse, die ihm am nächsten zu liegen scheinen. Wenn z. B. Anakreon singt:

[152]

Dieser Stier o Knabe scheinet
mir ein Jupiter zu seyn:
denn er trägt auf seinem Rücken
freundlich die Sidonerinn
und durchschwimmt das weite Weltmeer,
das er mit den Hufen theilt;
wohl kein andrer Stier der Heerde,
schiffete, wie dieser Stier.

Sind diese Verse ein Epigramm? Und doch sind sie Exposition eines gegenwärtigen Objects, Beschreibung eines Kunstgemähldes, in Versen; was fehlt ihnen also? Die Richtung auf einen epigrammatischen Punct der Lehre oder der Empfindung fehlt ihnen von Anfange bis zu Ende; die Verse sind nichts als eine historische Epigraphe. Nun aber setze man den Endpunct fest; es sei daß dieser auf Jupiter oder die Europa angelegt werde, sogleich rücken sich alle Züge anders:

Siehe den schwimmenden Stier, o Knabe. Mit glänzenden Augen
blickt er umher und küßt seiner Getragenen Fuß,

[153]

Eilt durchs wogige Meer, das mit den Hufen er theilet,
trägt voll sehnender Glut hin zum Gestade den Raub.
Ach es ist Jupiter selbst! Die Liebe wandelt der Götter
Gott zum Thiere; wie oft hat sie es Menschen gethan!

Der Gesichtspunct möge noch feiner und unerwarteter angelegt werden; für diesen Ort fällt der Unterschied ins Auge. – Ein Lied der Anthologie heißt:

Ich flocht ein Rosenkränzchen
und fand im Röschen Amor.
Schnell faßt’ ich seine Flügel
und warf ihn in den Becher
und trank im Wein ihn nieder.
Nun sitzt er mir im Herzen
und schwirret mit den Flügeln.

Das Lied ist kein Epigramm, ob es sich ihm gleich sehr nahet. Wie aber? wenn die kleine Reihe der Begebenheiten, die hier auseinander [154] fallend erzählt wird, auf Einen Gesichtspunct gerichtet und aus solchem das ganze kindische Bild behandelt würde? – Wir wollen den Gegensatz zur Spitze nehmen:

Find’ ich in Blumen dich hier, du goldgeflügelter Amor?
In der Rose, die heut kränzen den Becher mir soll;
Böser, du hast sie gewiß mit süßem Gifte durchhauchet
und ich tränke das Gift mir in mein ruhiges Herz?
Nein o Listiger nein! ich flieh' auch in Rosen den Amor?
könntest, Rose, du mir heilen mein brennendes Herz?

So verhält sichs mit mehreren Idyllen, die beinah Epigramme scheinen, auch mit mehreren anakreontischen Liedern. Zu einigen derselben liefert die Anthologie selbst schöne Gegenstücke und mehr als Ein Ausleger hat die Parallele bemerket [155] a)[3] Ich füge dieser Abhandlung eine Sammlung kleiner griechischer Gedichte hinzu und überlasse dem Leser, sich selbst den Unterschied, zu entwickeln. Denn welcher Verständige wollte, daß ihm alles vorgesagt werde?


  1. a) Zerstr. Blätt. Th. 1. S. 39.
  2. b) Th. 1. S. 97.
  3. a) Longepierre z. B. in seinen Noten zum Anakreon und der Sappho, Paris 1692. Schneider in seinen Anmerkungen über den Anakreon, Leipz. 1770. ein Gelehrter, der sich auf mehr als Eine Weise um die griechische Anthologie verdient gemacht hat.