Melpomene/Band 1/022 Bey dem Grabe zweier Kinder, die Gift gegessen hatten
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22. Bey dem Grabe zweier Kinder, die Gift gegessen hatten.
Melod. XIV. Melod. XVI.
1. Als in der schönsten Blumenzeit
Zwei Kinder sich erquickten,
Und sich in unschuldvoller Freud
Die schönsten Blumen pflückten;
Da fanden sie im Wiesengrund
Der Herbstzeitlose Samen,
Wo sie, entzückt bei diesem Fund,
In höchster Wonne schwamen.
2. Sie öffneten den Samenkelch
Worin sie Körnchen fanden
Von blühend weisser Farb; und welch
Entzücken sie empfanden!
Das müßen Zuckerkörnchen seyn,
So sprachen sie, und nahmen,
Betrogen von dem falschen Schein,
Für Zucker diesen Samen.
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3. Zum Unglück war kein Mensch dabei
Sie weislich zu belehren:
Daß dieser Samen giftig sey
Wie viele schöne Beeren;
Auch waren sie zum Schulbesuch
Zu jung, und nicht verpflichtet,
Sonst hätte sie sogleich ein Buch
Von Giften unterrichtet.
4. Sie assen nun mit Lüsternheit
Den giftgefüllten Samen,
Wovon sie schon in kurzer Zeit
Die größte Qual bekamen;
Sie eilten zu den Eltern heim,
Und klagten über Schmerzen,
Und trugen schon den Todeskeim
In ihren bangen Herzen.
5. Die Schmerzen nahmen überhand
Im aufgebäumten Magen,
Daß jedes wie ein Wurm sich wand,
In grenzenlosen Plagen.
Man rief sogleich den Arzt herbei:
Was doch den Kindern fehle,
Und was es für ein Übel sey,
Das sie so grausam quäle.
6. Der Arzt erschien, und sagte: daß
Sie Gift bekommen haben,
Gab ihnen ohne Unterlaß
Die allerbeßten Gaben;
Allein die Hülfe kam zu spat,
[102] Dem Gift zu widerstehen,
Und ach! sie mußten ohne Gnad
Dem Tod ins Auge sehen.
7. Denn bald erschien des Todes Farb
Auf ihren Angesichtern,
Es brach ihr armes Herz, und starb
In Zuckungen und Gichtern.
Da lagen sie im Todesarm
Die starren Kinderleichen,
Und ihrer Eltern Gram und Harm
Ist keiner zu vergleichen.
8. Sie werfen auf die Leichen sich,
Befeuchten sie mit Thränen
Und ihr Geheul ist fürchterlich
Und lößt sich auf in Stöhnen;
Sie möchten bei der Kinder Tod
Auch sich zu Grabe stürtzen,
Und ach! ihr grosser Jammer droht
Ihr Leben abzukürtzen.
9. Und sicher wird es beim Gericht
Den Eltern beigemessen,
Wenn sie bei ihrem Unterricht
Die weise Lehr vergessen:
Die Kinder möchten ja doch nie
Was Unbekanntes essen,
Es sey ja öfter schon für sie
Der Tod darin gesessen.
10. Und o ihr Kinder! lasset euch
Durch diesen Fall belehren,
[103] Und euch das Naschen doch sogleich
Von euren Eltern wehren,
Und esset ja doch nichts, als wenn
Die Eltern es erlauben,
Es könnte, wärs auch noch so schön,
Euch doch das Leben rauben.
11. Nun ruhet sanft im Erdenschoos,
Ihr unschuldvollen Kinder!
Denn glücklicher ist euer Loos
Als das verstockter Sünder.
Zwar hat des Todes Hand gepflückt
Euch schon in zarter Blüthe,
Hingegen ewig euch beglückt
Des Allerhöchsten Güte.