Zum Inhalt springen

Miß Unverzagt

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Walther Kabel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Miß Unverzagt
Untertitel:
aus: Laibacher Zeitung, 130. Jahrgang (1911), Ausgabe 35–46.
Herausgeber: Ignaz Alois Edler v. Kleinmayr
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Vorlage:none
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Laibach (Ljubljana)
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Eine Liebesgeschichte in Deutsch-Südwestafrika zur Zeit des Herero-Aufstands.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[Nr.35]
Miß Unverzagt.
Erzählung von Walther Kabel.
(Nachdruck verboten.)

Auf der etwa fünf Meilen von der Station Wohambahe entfernten Farm Reiwitztal wurde am Sonntag, den 18. Dezember 1903, der Geburtstag der Gattin des Besitzers festlich begangen. Zu dieser Feier waren außer den beiden benachbarten Farmern mit ihren Angehörigen auch die in Wohambahe stationierten Offiziere, Oberleutnant von Otting und Leutnant Röder, erschienen, die ihre dienstfreien Tage zumeist bei der ebenso gastfreien wie liebenswürdigen Familie Reiwitz zuzubringen pflegten, was leicht zu verstehen war, da die Herren auf ihrem verlorenen Posten im Norden der südwestafrikanischen Kolonie den Reiz einer gemütlichen, von zarter Frauenhand geleiteten Häuslichkeit vollständig entbehren mußten.

Die Geburtstagsgesellschaft hatte sich nach dem Mittagessen durch mancherlei Kurzweil im Garten die Zeit vertrieben, wobei jedoch keine rechte Stimmung aufkommen wollte. Auf allen lastete noch immer wie ein dumpfer Druck die Erinnerung an das bei Tisch geführte Gespräch, das sich hauptsächlich um die stetig zunehmende Unbotmäßigkeit und Frechheit des Hererostammes und die Möglichkeit eines baldigen Aufstandes dieses ebenso kriegerischen wie vorzüglich bewaffneten Volkes gedreht hatte. Die Anwesenden wußten leider ja nur zu gut, daß sie im Falle einer Empörung der wegen ihrer heimtückischen Grausamkeit berüchtigten Herero hier, in der von allem Verkehr abgeschnittenen Gegend dicht an der Grenze des Bergdamaralandes, nur auf sich allein angewiesen waren und Hilfe von den größeren Garnisonorten kaum zu erwarten hatten. Zwischen den Farmern und den Offizieren der Station Wohambahe war daher auch genau vereinbart worden, in welcher Weise man sich bei den ersten Anzeichen einer drohenden Gefahr gegenseitig warnen und einander die Flucht nach der kleinen Feste als dem einzigen, einigermaßen sicheren Zufluchtsort erleichtern wollte.

Endlich machte Frau Reiwitz dem zuletzt mit recht mäßigem Interesse betriebenen Krocketspiel dadurch ein Ende, daß sie ihre Gäste zum Kaffee rief, der auf der langgestreckten, von wildem Wein dicht umrankten Veranda eingenommen werden sollte. Es gab als Gebäck einen riesigen Baumkuchen, dessen zackiger, mit weißem Zuckerguß überzogener Turm ein Produkt von Miß Unverzagts jüngst erworbenen Kochkünsten war, wie die Hausfrau lobend erwähnte. Aber vergebens schaute man jetzt nach der jungen Amerikanerin aus, um ihr die wohlverdiente Anerkennung zu zollen. Und erst durch Unia, ein von Frau Reiwitz zum Stubenmädchen herangebildetes, flinkes Hereromädchen, erfuhr man, daß Miß Unverzagt vor wenigen Minuten in den hinter dem Wohngebäude liegenden großen Gemüsegarten gegangen sei, um noch einige Blumen zur Ausschmückung der Abendtafel zu holen.

„Ja, ja – unsere kleine Miß Unverzagt wird hier noch ein recht deutsches Hausmütterchen werden!“ sagte Herr Reiwitz beinahe stolz. „Ich hätte nie gedacht, daß der Wildfang mir so schnell ans Herz wachsen würde,“ fügte er heiter hinzu.

Von allen Seiten wurde die Abwesende jetzt geradezu in den Himmel gehoben, bis Leutnant Röder schließlich lachend meinte:

„Unserer verehrten Miß Unverzagt werden schön die Ohren klingen! Sie verdient diese Lobgesänge aber auch wirklich.“

Alice Wellerslow, wie Miß Unverzagt mit ihrem eigentlichen Namen hieß, war erst vor einem halben Jahr aus ihrer Heimatstadt St. Louis[WS 1] nach Südwest gekommen, um, wie sie jedem, der es hören wollte, mit unbefangener Ehrlichkeit sofort erklärte, hier in der Wildnis für all die kleinen Sünden Buße zu tun, die sie in ihrem Übermut drüben in Amerika begangen hatte. Jedenfalls konnte dieses Schuldkonto nicht ganz klein gewesen sein, da ihr Vater sonst wohl nicht auf die Idee gekommen wäre, sein einziges Kind gleich nach Reiwitztal ins Exil zu schicken. In dem Brief, durch den der alte Herr Wellerslow, ein vielfacher Millionär und Besitzer ausgedehnter Viehzüchtereien, seiner Nichte Luise Reiwitz die Ankunft seines stark exzentrischen Töchterleins angekündigt hatte, schrieb er geradezu, man solle seinen Wildfang, der trotz eines goldenen Herzchens voll von unglaublichen Teufeleien stecke, recht kurz halten und tüchtig bei der Arbeit herannehmen, damit sie endlich begreifen lerne, daß das Leben auch ernste Pflichten und nicht nur Vergnügen und Schabernack kennt.

[Nr.36] So war denn Alice Wellerslow eines Tages mit drei Riesenkoffern und einem alle Herzen vom ersten Augenblick an für sich erobernden, reizend schelmischen Lächeln auf der Farm eingetroffen. Und was das jugendfrische, pikante Gesichtchen versprach, hielt der ganze übrige Mensch. Es schien, als ob in Reiwitztal plötzlich ewiger Sonnenschein seinen Einzug gehalten hatte. Und daran war allein die tolle Alix mit ihren stets ein Liedchen trällernden Lippen und ebenso fröhlichen Augen schuld.

Die beiden Reiwitzschen Kinder wollten bald der neuen Tante überhaupt nicht mehr von der Seite gehen, und nicht viel anders war’s mit den Erwachsenen. Für die im harten Daseinskampfe hier in Südwest ernst und verschlossen gewordenen Naturen der Farmer bedeutete dies sonnige Wesen geradezu eine langentbehrte Erquickung; und niemand von den Nachbarn, noch weniger das Ehepaar Reiwitz selbst, konnte begreifen, weshalb Alice Wellerslow so kurzerhand in die große Korrektionsanstalt der afrikanischen Wüste verschickt worden war. Und als dann eines Tages Oberleutnant von Otting bei einem Besuche in höflich umschriebener Form eine diesbezügliche Frage an die junge Millionärstochter richtete, da ward ihm von dem kleinen Sprühteufelchen ohne viel Ziererei zur Antwort:

„Mein Pa hat mich drüben in St. Louis mit dem Sohne eines Geschäftsfreundes verheiraten wollen – mit einem Menschen, der nur einen Lebenszweck kannte: Dollars machen, wie wir Amerikaner sagen. Und für diesen Herrn habe ich mich natürlich bestens bedankt. Das war ja gar kein Mensch, das war nur eine elende Registrierkasse, ohne Herz, ohne Gemüt! Aber Pa wollte. Und wenn Pa will, ist schwer dagegen anzukämpfen – falls man nicht eben erst versucht, solche Freier wegzugraulen. Ich verstand’s. Wie ich der – ,Registrierkasse‘ dann beigebracht habe, daß ich keine passende Frau für ihn sei, werde ich lieber nicht erzählen, sonst sprechen Sie, Herr von Otting, kein Wort mehr mit mir. Kurz und gut, mein Verehrer verzichtete auf den Genuß einer weiteren Werbung und – Pa spedierte mich hier nach Reiwitztal zu Tante Luise, wofür ich ihm gar nicht genug dankbar sein kann. Denn es gefällt mir hier wundervoll.“

Der Heiterkeitserfolg dieser bündigen Erklärung war natürlich ein durchschlagender. Und Oberleutnant von Otting gab seinen Gefühlen kurz und treffend mit den ähnlich burschikosen Worten Ausdruck:

„Sie sind die großartigste Erfindung, gnädiges Fräulein, die ich je gesehen habe! Solche Raritäten kommen ja bekanntlich stets nur von – da drüben überm großen Teich!“

Einen Monat nach ihrer Ankunft sollte die in allen Sportarten wohlgeübte junge Dame dann Gelegenheit finden, sich ihren Ehrennamen „Miß Unverzagt“ bei einem nicht ganz ungefährlichen Abenteuer zu erwerben.

Sie war eines Nachmittages mit den Reiwitzschen Kindern ein Stück in den Busch gegangen, um nach mehreren wertvollen Zuchthennen zu suchen, die sich verlaufen hatten. Wie immer trug sie ihre mehrschüssige Selbstladepistole auch damals im Lederfutteral am Gürtel befestigt bei sich. Auf dieser Streife nach dem verloren gegangenen Federvieh verirrte sie sich und geriet immer weiter von der Farm nach Westen ab, wo die gelbgraue, nur von dichten Dornenfeldern bestandene Sandwüste sich in schauriger Eintönigkeit hinzieht.

Hier in der Einöde traten ihr plötzlich zwei Schwarze entgegen, die sie an der langen, mageren Gestalt und dem Gesichtsschnitt sofort als Herero erkannte. Die beiden Kerle, wahrscheinlich von ihrem Stamme ausgestoßene Rinderdiebe, waren ihr offenbar schon eine ganze Strecke heimlich gefolgt und wußten daher, daß Alice keinen männlichen Schutz in der Nähe hatte. Die Absichten dieser beiden, das junge Mädchen so frechlüstern angrinsenden Halunken waren unverkennbar. Aber sie hatten ihr Opfer, das sie schon sicher zu haben glaubten, zu ihrem Schaden recht falsch beurteilt. Kaum hatte nämlich der eine Alice mit rohem Griff um die Taille gefaßt, um sie mit sich fortzuziehen, als sie sich ihm auch schon blitzschnell entwand, einen Schritt zurücksprang und auf ihren Angreifer aus der schnell entsicherten Pistole einen Schuß abgab, über den der Bursche mit einem kunstgerechten Purzelbaum quittierte, ohne weiter an das Wiederaufstehen zu denken.

Sein Gefährte vergaß im ersten Schreck das Davonlaufen, und wie er dann seinen alten Vorderlader im Angesicht der drohend auf ihn gerichteten Pistolenmündung schußfertig zu machen suchte, war’s zu spät mit der Gegenwehr.

[Nr.37] Die zweite Kugel der schon in ihrer Heimat auf den weiten Viehweiden ihres Vaters vorzüglich ausgebildeten Schützin zerschmetterte ihm den rechten Unterarm. Und als eine Stunde später Ernst Reiwitz, den Schweißhund an der Leine, die Vermißten auffand, saßen Alice Wellerslow und die Kinder eng aneinandergeschmiegt im Sande, während fünf Schritt von dieser Gruppe entfernt ein verwundeter Herero neben der Leiche eines zweiten auf der blutdurchtränkten Erde hockte.

So wurde aus dem „Wildfang mit dem goldenen Herzchen“ eine „Miß Unverzagt“, ein Ehrentitel, der ureigenste Erfindung des Oberleutnants von Otting war, worauf dieser nicht wenig stolz sein durfte, da bald niemand mehr die junge Dame bei ihrem eigentlichen Namen nannte. Sie war für alle „Miß Unverzagt“ und nahm es geradezu übel, wenn man sie anders anredete.

Und die Vorzüge dieser selben Miß Unverzagt wurden jetzt bei der Kaffeetafel in Reiwitztal mit begeistertem Eifer aufgezählt. Nur ein einziger beteiligte sich nicht an dieser Unterhaltung, die derart in einer uneingeschränkten Lobhymne auf die junge Amerikanerin ausklang.

Dieser eine war Oberleutnant Fritz von Otting. Nachdenklich schaute er vor sich hin, hörte kaum, was die anderen sprachen. Und niemand ahnte, welcher Art die Gedanken waren, die ihn so vollständig gegen die Außenwelt abschlossen.

Nach einer Weile erhob er sich unauffällig, durchschritt den Flur und trat durch die Hintertür wieder in den Gemüsegarten hinaus. Jetzt, wo er unbeobachtet war, eilte er schneller vorwärts, indem er dabei fortwährend scharf umherlugte, ob er die Gesuchte nicht irgendwo entdecken könnte. Aber von Miß Unverzagt war nirgends eine Spur zu erblicken.

Otting war am Ende des Gartens vor dem hohen Stacheldrahtzaun angelangt.

Er öffnete die ins Freie führende Lattenpforte und ging auf eine mit dichtem Gebüsch bestandene Hügelkette zu, die die äußersten Ausläufer des im Westen sich auftürmenden, wild zerklüfteten Gebirges bildete. Trotzdem die Sonne ihm mit sengender Glut auf den unbedeckten Scheitel brannte und der mühsame Weg durch den feinen, rötlichen Sand ihm dicke Schweißperlen auf die Stirn trieb, verfolgte er hartnäckig die einmal eingeschlagene Richtung. Seine umherspähenden Augen durchforschten immer wieder jede Lichtung zwischen den Gesträuchgruppen, suchten ebenso sorgfältig den Boden nach frischen Fußspuren ab. Und dann sah er plötzlich durch den grünen Vorhang zu seiner Rechten ein Kleid schimmern, das sich nach der Farm hin bewegte.

Blitzschnell duckte er sich hinter dem nahen, turmartigen Bau der Termiten-Ameise zusammen.

Minuten vergingen so. Kein auffälliges Geräusch ließ sich vernehmen. Nur der Wind rauschte in den Sträuchern, und aus dem Termitenhügel tönte es wie ein ununterbrochenes Summen hervor, verursacht durch die rastlos hin- und hereilenden Insekten.

Otting richtete sich langsam in die Höhe. Das helle Kleid war verschwunden.

„Heute komme ich hinter dein Geheimnis, Miß Unverzagt!“ murmelte er vor sich hin. Und dann seufzte er tief auf, als ob ihn eine schwere, schwere Last bedrückte.

Bald halte er Miß Unverzagts Fährte, die er sofort an den tiefen Eindrücken ihrer hohen Stiefelabsätze erkannte, gefunden. Bang klopfenden Herzens ging er den Spuren nach und entfernte sich so immer weiter von der Farm.

Und dann blieb er mit einem Male stehen, starrte unverwandt auf den Boden hin, der hier in dem kleinen, verborgenen Talkessel von den Hufen eines Pferdes und schweren, offenbar mit Sporen versehenen Männerschuhen aufgewühlt war. Und zwischen diesen plumpen Fährten sah er immer wieder die zierlichen Umrisse von Miß Unverzagts schmalen Stiefelchen, immer wieder.

Da seufzte Otting abermals schmerzlich auf. Und mit diesem Seufzer begrub er all seine stillen Herzenshoffnungen.

Als er nach etwa zehn Minuten das Wohngebäude von Reiwitztal wieder betrat, meldete Unia, die Herrschaften seien sämtlich nach dem Scheibenstande gegangen, um Miß Unverzagts neue Büchse zu probieren.

Bei seinem Erscheinen wurde er von allen Seiten mit lauten Zurufen begrüßt.

„Wo haben Sie denn eigentlich gesteckt?“

„Eine geschlagene halbe Stunde waren Sie fort!“

Otting machte einige nichtssagende Redensarten, vermied jedoch jede direkte Antwort.

Mitten unter den übrigen hatte Miß Unverzagt mit ihrem heitersten Lächeln gestanden. Unwillkürlich waren Ottings Augen auf ihrem Gesicht etwas länger haften geblieben. Die Blicke der beiden, die bisher eine herzliche, ungezwungene Kameradschaft verbunden hatte, trafen sich. Und da bemerkte er in ihren sonst so ehrlichen, reinen Kinderaugen eine deutliche Unsicherheit, etwas Forschendes, Lauerndes; und auch ihr Lauern sah jetzt seltsam gezwungen, fast verzerrt aus.

Sie nickte ihm nur flüchtig zu und sprach dann weiter auf Leutnant Röder ein, der ihre Büchse in der Hand hielt und besichtigte, sprach ganz ungewöhnlich laut, als ob sie die allgemeine Aufmerksamkeit schnell wieder von Ottings Person ablenken wollte.

[Nr.38] „Mein Pa, dem ich mein Abenteuer mit den beiden Herero sofort brieflich mitteilte, hat mir diese Winchesterbüchse als Zeichen seiner Anerkennung zugeschickt. Famos von meinem Pa, nicht wahr, Herr Röder? Sehen Sie nur diesen großartigen Revolverschaft. Wie der sich in der Hand schmiegt!“

„Erst muß ich die Schußleistungen sehen, bevor ich das Fabrikat loben kann,“ erwiderte der junge Offizier, den man als den besten Schützen weit und breit kannte, zurückhaltend.

Aber schon nach einigen Probeschüssen zeigte es sich, daß es tatsächlich eine vorzügliche Waffe war, so recht geeignet für eine Frauenhand, mit ihrem leichten Gewicht und ihrer gefälligen Form. Und bei dem nun folgenden Scheibenschießen mußte Leutnant Röder wirklich seine ganze Ruhe und Fertigkeit aufbieten, um sich von Miß Unverzagt nicht überflügeln zu lassen.

„Sie werden mich noch um mein Renommee als bester Schütze bringen, Miß Unverzagt!“ sagte er lachend, als das junge Mädchen wiederum drei Kugeln nacheinander mit unfehlbarer Sicherheit ins Schwarze geschickt hatte.

Da meinte einer der Farmer ernst:

„Ich wünschte, unsere Frauen wüßten auch so gut mit Schußwaffen umzugehen. Wer weiß, wie lange es noch ruhig bleibt hier im Norden der Kolonie! Und sollte – was Gott verhüten möge! – je ein Aufstand losbrechen, dann könnten wir wahrlich jede Büchse nur zu gut brauchen.“




Oberleutnant von Otting und Leutnant Röder ritten durch die schweigende Nacht der Station Wohambahe zu.

Fahle Dämmerung lagerte über der einsamen Wüste. Vom klaren Himmel blinkten die Sterne herab, und ihr Licht spiegelte sich in mattem Silberglanz auf den glatten Blättern der gelblichen Dornensträucher wider, die den Weg einfaßten – falls man eben die in dem grundlosen, vor jedem Windzug hin- und herrieselnden Sande kaum sichtbare Wagenspur so bezeichnen wollte. Nur zuweilen klirrten leise die Kinnketten der Pferde, und das Lederzeug der Sättel knarrte jedesmal, wenn einer der Reiter sich in den Bügeln aufrichtete, um die steif gewordenen Beine etwas zu strecken.

Leutnant Röder hatte vergeblich versucht, eine Unterhaltung in Fluß zu bringen. Ottings Antworten wurden so knapp und mundfaul gegeben, daß das Gespräch trotz des reichlichen Stoffes, den die eben in Reiwitztal verlebte Geburtstagsfeier bot, bald ganz verstummte. Der Oberleutnant war offenbar sehr stark von seinen eigenen Gedanken in Anspruch genommen, die jedoch keineswegs erfreulicher Natur sein konnten, da sich nicht nur in seinen Mienen, sondern auch in seinem ganzen Wesen eine gewisse Gereiztheit ausdrückte.

Soeben hatten die beiden Reiter ihre Pferde nach einem längeren Trab wieder in Schritt fallen lassen.

Da stieß Otting ganz unvermittelt, indem er seinen breitrandigen grauen Filzhut mit einem Ruck aus der Stirn schob, ärgerlich zwischen den Zähnen hervor:

„Und eine kleine falsche Hexe ist sie doch, trotz ihrer schelmischen Braunäuglein, diese Miß Unverzagt!“

„Nanu?!“

Heinz Röder drehte den Oberkörper kurz nach rechts und schaute den Kameraden erst eine Weile mit ehrlich erstaunten Blicken an. Dann aber meinte er gutmütig vor sich hinnickend:

„Ihr habt euch heute gezankt. Das habe ich dir schon am Nachmittag angemerkt, mein Lieber. Doch tröste dich! Beim nächsten Wiedersehen ist deine kleine Hexe wieder ganz verständig. Und zum Schluß kommt ja doch die übliche Verlobung dabei heraus. Darauf wettet nicht nur Heinz Röder, sondern sicher auch unser ganzer Bekanntenkreis hier verschiedene Flaschen Sekt.“

„Verlobung?!“ Otting lachte bitter auf. „Du würdest die Wette verlieren! Eine junge Dame, die sich mit einem mir vorläufig leider noch völlig unbekannten Manne heimlich Stelldicheins gibt, dürfte für einen deutschen Offizier bei einer solchen Lebensfrage kaum mehr in Betracht kommen. Bitte, laß nur wieder die Zügel locker! Wir brauchen deswegen hier nicht gerade Halt zu machen, wenn ich auch deine Verwunderung vollständig begreifen kann. Ich selbst hab’s ja im ersten Augenblick auch nicht glauben wollen. Aber – es ist Tatsache: die unschuldige Miß Unverzagt hat einen heimlichen Verehrer, mit dem sie sich nicht nur heute, sondern fraglos auch schon am Sonntag vor vierzehn Tagen, zu einem süßen Schäferstündchen an einem versteckten Plätzchen getroffen hat.“

„Das ist kompletter Blödsinn, lieber Fritz!“ sagte Heinz Röder jetzt wirklich ärgerlich. „Wer sollte wohl dieser Verehrer sein? Vielleicht Markwart, der weiße Schafzüchter von Farmer Hartwig, oder einer unserer Unteroffiziere aus Wohambahe? Das wären so die einzigen Europäer, an die man hier im Umkreise von dreißig deutschen Meilen denken könnte, falls man eben einer Alice Wellerslow zutraut, daß sie ihr Herz an einen Menschen verlieren könnte, der seinem Stande nach weit unter ihr steht.“

[Nr.39] „Ereifere dich nicht. Diese Überlegungen habe ich selbst schon angestellt. Ich wünschte wahrlich, die unangenehme Entdeckung, die ich heute gemacht habe, wäre kompletter – Blödsinn, wie du dich etwas fähnrichmäßig auszudrücken beliebst. Doch – du kannst dir ja selbst ein Urteil über die Sache bilden. Heute vor zwei Wochen waren wir, wie du dich wohl noch erinnern wirst, ebenfalls Reiwitztal. Und wie heute verschwand damals Alice kurz vor dem Nachmittagskaffee. Angeblich wollte sie sich für eine halbe Stunde zurückziehen, da ihre Migräne ihr stark zusetzte. Während ihrer Abwesenheit schlenderte ich nun durch den Gemüsegarten, um mir die neu angelegten Spargelbeete anzusehen, nach deren Muster ich dann ja auch für uns in Wohambahe eine kleine Plantage herrichten ließ. Während ich noch ahnungslos im Schatten eines Gebüsches dastehe und mir die sauber bepflanzten Beete beschaue, höre ich die ins Freie führende hintere Gartenpforte in ihren Angeln kreischen und bemerke aufblickend unsere harmlose Miß Unverzagt, die mit hochrotem Kopf in der höchsten Eile den Mittelweg entlang dem Wohnhause zuläuft. Ich rufe sie an, sie fährt herum, starrt mich erst ganz entsetzt an, faßt sich aber schnell und fragt, wenn auch noch etwas unsicher: ‚Haben sie nicht Unia gesehen, Herr von Oiting? Ich suche sie überall. Sie ist nirgends zu finden.‘ Und dann verschwindet sie schnell im Hause, ohne eine Antwort abzuwarten. – Ich legte diesem Zusammentreffen damals natürlich keinerlei Wichtigkeit bei. Erst heute fiel es mir wieder ein, daß Alice um die Kaffeezeit abermals verschwunden war. Und da tat ich etwas, was man nur einem Verliebten verzeihen kann. Denn einer Dame nachzuspionieren, ist im allgemeinen eines Mannes unwürdig.“

„Keine moralischen Betrachtungen! Weiter, weiter! Ich bin wirklich mächtig gespannt.“

Otting berichtete nun mit allen Einzelheiten, wie er den Spuren Miß Unverzagts gefolgt war und was er an vielsagenden Fährten in dem kleinen, von Büschen umstandenen Talkessel gefunden hatte.

„Donner und Doria!“ meinte Heinz Röder kopfschüttelnd. „Das hätte ich von dem Mädel doch nicht gedacht! Spielt immer so den kindlich unschuldsvollen Wildfang und ist in Wahrheit eine ganz raffinierte, kleine Kröte! Aber wer in aller Welt kann nur jener Reitersmann sein, dem sie diese Zusammenkünfte in den Hügeln gewährt?“

„Ja, wenn ich das auch nur ahnte! Die einzige, die darüber Aufschluß geben könnte, verweigert jede Auskunft.“

„Wie – du hast Alice danach gefragt? So laß dir doch nicht jedes einzelne Wort gleichsam mit der Zange herausziehen, Fritz! Damit machst du einen wirklich ganz nervös.“

„Ruhe, Heinz, Ruhe! Du regst dich bei der Geschichte ja mehr auf, als ich selbst.“

„Nur in deinem Interesse. Ich weiß, wie nahe dir diese Enttäuschung geht, Fritz, wenn du auch mit wenig Glück den Gleichmütigen zu spielen versuchst.“

„Also – ich habe Alice gestellt, als wir vor dem Abendessen in der Küche die Bowle ansetzten. Sagte ihr – und ich glaube, meine Stimme hat dabei merklich gezittert – was ich vorher beobachtet hatte, und knüpfte daran absichtlich in recht väterlichem Tone die Bemerkung, wie sehr es das Ehepaar Reiwitz betrüben würde, wenn etwas von diesen Stelldicheins in die Öffentlichkeit dringen sollte.“

„Von Öffentlichkeit in dieser Gegend zu sprechen, wo auf die Quadratmeile kaum ein Mensch kommt, ist mehr als dichterische Übertreibung. Überhaupt – man sieht, was die Liebe aus den Menschen machen kann: Spione und – scheinheilige Heuchler. Denn diese ,väterlich‘ sanften Vorwürfe sind wirklich ein starkes Stück!“

„Sollte ich Alice etwa mit einer Eifersuchtsszene kommen? Mit welchem Rechte wohl? Auch so ließ sie mich schon genügend abfallen, wenn dabei allerdings auch ihre Augen in Tränen schwammen und ihre Entrüstung nicht ganz echt war. Sie gab mir nämlich zur Antwort: ‚Ich wünsche nicht, Herr von Otting, daß Sie sich in meine persönlichen Angelegenheiten mischen. Und wenn Ihnen auch nur noch ein wenig an meiner Meinung liegt, so behalten Sie Ihre heutige Entdeckung für sich.‘ Sie wollte offenbar noch mehr hinzufügen. Aber mit einem Male drehte sie sich kurz um und verließ fluchtartig die Küche. Den ,kompletten Blödsinn‘ wirst du hiernach wohl zurücknehmen müssen, lieber Heinz,“ fügte Otting bitter hinzu. „Denn Alice hat auch nicht den geringsten Versuch gemacht, dieses Stelldichein abzustreiten oder es wenigstens in ein harmloseres Licht zu rücken.“

„Unbegreiflich, einfach unbegreiflich.“ meinte Röder nachdenklich.

Da setzten sich die Pferde, die sich wohl nach dem heimatlichen Stalle sehnen mochten, ganz von selbst wieder in scharfen Trab und machten so jeder weiteren Unterhaltung ein Ende.

[Nr.40] Anfang Jänner 1904 brach urplötzlich, nachdem Gouverneur Leutwein eben erst im Süden eine Empörung der Bondelzwaarts niedergeworfen hatte, der Aufstand der Herero im Herzen der Kolonie Südwestafrika aus.

Die Häuptlinge der Herero hatten diese allgemeine Erhebung mit der größten Umsicht vorbereitet und jedem der schwarzen Unterführer genau seine Rolle in dem blutigen Drama zugewiesen. Nur so war es auch zu erklären, daß sich fast die sämtlichen kleineren Stationen und ebenso die strategisch wichtigsten Punkte der großen Verbindungsstraßen bereits nach wenigen Tagen in den Händen der Feinde befanden oder aber, wo eine Überrumpelung der Garnisonsorte nicht glückte, durch einen dichten Ring von Belagerern von der Außenwelt abgeschnitten waren.

In Reiwitztal ahnte man nichts von der so unmittelbar bevorstehenden Gefahr.

Alice Wellerslow hatte sich am Vormittag des 12. Jänner ihre Schimmelstute Diana satteln lassen und war, begleitet von den beiden Jagdhunden, nach Westen davongeritten, um einem Leoparden nachzuspüren, der sich in einer der letzten Nächte wieder ein wertvolles Mutterschaf aus der frisch eingeführten Merinoherde herausgeholt hatte und dessen Spuren nach den wild zerklüfteten Ausläufern des fernen Gebirgs hinwiesen.

Etwa zwei Stunden nach ihrem Aufbruch sprengte plötzlich eine zehn Mann starke Abteilung der Schutztruppe unter Führung von Leutnant Röder auf schaumbedeckten Pferden in den Hof von Reiwitztal.

Nach wenigen Minuten hatte der Offizier den entsetzten Farmer von dem drohenden Unheil verständigt. Denn nach der sicheren Meldung einer Patrouille war eine große Hereroschar, die in vergangener Nacht die nördlich gelegene Farm Markwartshöhe gestürmt, niedergebrannt und die ganze Farmerfamilie abgeschlachtet hatte, mit großem Troß von Weibern, Kindern und Vieh auf Reiwitztal in Anmarsch.

Im Fluge wurden nun die wertvollsten Sachen auf einen Wagen geladen, der dann die Station auf Umwegen zu erreichen suchen sollte, da der direkte Weg nach Wohambahe von Hereroposten bereits gesperrt war.

Auf dem Wagen saßen eng aneinandergeschmiegt Frau Reiwitz und ihre Kinder, während der Farmer und seine Leute die Büchsen in der Hand zu Pferde den traurigen Transport begleiten wollten.

Doch die mit aller Hast betriebene Abfahrt erlitt eine ganz unvorhergesehene Unterbrechung. Gerade als Heinz Röder mit seinen Leuten sich wieder in den Sattel schwang, um auch den dritten, in der Gegend ansässigen Farmer noch rechtzeitig zu warnen, erinnerte Frau Reiwitz sich plötzlich an Miß Unverzagt, an die bisher niemand in der furchtbaren Aufregung gedacht hatte.

Ratlos schaute der Leutnant vor sich hin.

„Was tun wir nur! Ich habe meine bestimmten Befehle, von denen ich nicht abweichen darf. Und teilen kann ich meine Schar ebensowenig. Das könnte bei der feindlichen Übermacht unser aller Verderben sein. Anderseits – wir dürfen doch auch die junge Dame nicht einfach ihrem Schicksal überlassen! Denn – fällt sie den Herero in die Hände, so hat sie bei den blutgierigen Teufeln auf kein Erbarmen zu rechnen.“

Da drängte einer der Soldaten sein Pferd etwas vor. Es war ein Mann mit einem dunkel gebräunten, völlig bartlosen Gesicht, aus dessen scharf geschnittenen Zügen deutlich eine mit hoher Intelligenz gepaarte Energie sprach.

Tom Brown, wie er sich nannte, war vor ungefähr zwei Monaten gut beritten und bewaffnet auf der Station Wohambahe erschienen und hatte den Kommandanten von Otting um Aufnahme in die Schutztruppe als Freiwilliger gebeten. Er gab an, er sei geborener Amerikaner und nach Südwest gekommen, um später, wenn er Land und Leute erst besser kenne, eine kleine Farm zu erwerben. Da seine Papiere in Ordnung waren, außerdem ein derartiges Gesuch von zukünftigen Ansiedlern gar nicht selten gestellt wurde, reihte der Oberleutnant ihn in die Truppe ein. Sehr bald stellte es sich heraus, daß man mit Tom Brown, der die deutsche Sprache fließend beherrschte, einen wirklich überaus brauchbaren Feldsoldaten angemustert hatte. Er war nicht nur ein vorzüglicher Reiter und Schütze, sondern bewies auch bei vielen Gelegenheiten, daß er mit dem Leben in der Wildnis gut vertraut war und über einen äußerst praktischen Sinn und hohen persönlichen Mut verfügte. Im übrigen jedoch hielt er sich ganz für sich allein, schloß mit niemandem Freundschaft und brachte seine dienstfreien stunden regelmäßig außerhalb der Station auf der Jagd zu. Bei seinen Vorgesetzten, die seine Zuverlässigkeit und seinen Diensteifer schnell schätzen gelernt hatten, war er sehr gut angeschrieben.

[Nr.41] Daher nickte ihm Leutnant Röder jetzt auch aufmunternd zu und fragte freundlich:

„Nun, Brown, was haben Sie denn auf dem Herzen?“

„Ich möchte Herrn Leutnant den Vorschlag machen, ob ich nicht allein der jungen Dame nachreiten dürfte. Ich kenne von meinen Jagdstreifereien die Gegend hier herum ziemlich genau und traue mir wohl zu, Miß Wellerslow auffinden und ungefährdet nach der Station geleiten zu können.“

Der Offizier überlegte nur kurze Zeit.

„Gut, Brown, ich bin einverstanden. Sie haben wohl gehört: Miß Wellerslow ist nach Westen zu davongeritten, wahrscheinlich das ausgetrocknete Flußbett entlang. Hier haben Sie mein Fernglas. Nehmen Sie’s nur mit. Und klettern Sie hin und wieder auf einen Baum. Der Schimmel der jungen Dame ist ja auf weite Entfernung zu erkennen.“




Am Abend desselben Tages lagerten in einer versteckten, von Gestrüpp dicht umgebenen Talmulde, ungefähr drei Meilen südlich von der Station Wohambahe, an einem niedrig brennenden, durch trockene Dornenzweige genährten Feuer die in ein dunkelgrünes, fußfreies Jagdkostüm gekleidete Miß Unverzagt und Tom Brown, der Freiwillige der deutschen Schutztruppe.

Einige Schritte abseits standen zwei Pferde, die unlustig an einem Haufen frisch gerauften dürren Grases herumschnupperten. Dicht neben dem Feuer ruhten außerdem noch zwei kräftig gebaute, glatthaarige Jagdhunde, die immer wieder gierig nach dem saftigen Lendenstück der erst vor wenigen Stunden erlegten Gazelle hinüberwitterten, das an einem Holzspieße über der Glut schmorte.

„Sie meinen also wirklich, Mister Brown, daß wir den Versuch sobald nicht wieder wagen dürfen, uns durch die Herero hindurch nach Wohambahe hineinzuschleichen?“ fragte soeben Alice Wellerslow mit einem tiefen Seufzer.

„Wenn uns unser Leben lieb ist – nein!“ entgegnete der junge Amerikaner ziemlich mürrischen Tones. „Wir können überhaupt Gott danken, daß wir heute nachmittags so mit blauem Auge davongekommen sind. Hätten wir nicht unsere Pferde gehabt, so würden uns die Schwarzen sicher abgefangen haben. Wer konnte aber auch denken, daß die Station von den Herero schon so eng umzingelt war! Und jetzt, wo sie wissen, daß noch zwei Weiße ohne einen sicheren Zufluchtsort hier herumirren, werden sie natürlich doppelt aufmerksam sein. Sie werden sich also wohl schon einige Tage in meiner Gesellschaft langweilen müssen, Miß Wellerslow!“

Alice, die gerade mit ihrem Taschentuch das Schloß ihrer Büchse reinigte, blickte ihren Gefährten erst eine Weile vorwurfsvoll an, bevor sie erwiderte:

„Ich meine, wir beide hätten in unserer Lage doch alle Ursache, Frieden miteinander zu halten. Daß ich gern recht bald mit meinen Verwandten wieder vereint sein möchte, ist wohl leicht zu begreifen. Für eine junge Dame bietet das Kampieren im Freien doch recht viele Unannehmlichkeiten.“

Tom Browns Gesicht hatte sich bei diesen Worten noch mehr verfinstert.

„Spielen wir doch keine Komödie, Alix!“ stieß er erregt hervor. „Nicht Ihre Verwandten sind’s, nach denen Sie sich sehnen, sondern jemand anders, der auch in Wohambahe eingeschlossen ist und für dessen Leben Sie zittern! Versuchen Sie nicht, mir zu widersprechen. Ich hab’s an vielem gemerkt, wer jetzt Ihr Herz besitzt. Umsonst haben Sie heute nicht verschiedentlich nach Oberleutnant von Otting gefragt, wenn auch in möglichst vorsichtig umschriebener Form. Und ich Tor bin Ihnen hier nach Afrika gefolgt, weil ich nach Ihrer Abreise drüben in St. Louis keine Ruhe mehr fand, weil ich hoffte, Sie würden sich hier in der Fremde vereinsamt fühlen und endlich erkennen lernen, welch treues Herz in meiner Brust einzig und allein für Sie schlägt! Ich, der über Millionen zu verfügen hat, bin hier – gemeiner Soldat geworden, nur um in Ihrer Nähe weilen zu können! Und der Erfolg? Gerade zweimal habe ich Sie bisher für wenige Minuten gesprochen! Wissen Sie noch, als ich Sie damals an dem ersten Sonntag nach meinem Eintreffen in Wohambahe zufällig dicht bei der Farm überraschte, nachdem ich schon stundenlang die Besitzung umschlichen hatte! Welche Hoffnung hatte ich an dieses Wiedersehen geknüpft! Und wie bitter wurde ich enttäuscht, wie bitter! Nichts als den hellsten Schrecken las ich in Ihren Mienen, und Ihre Begrüßungsworte waren auch nicht sehr geeignet, mich für die lange Seereise und die untergeordnete Stellung, die ich doch nur Ihretwegen angenommen hatte, auch nur etwas zu entschädigen. Ein anderer hätte sich unter diesen Umständen wohl kaum noch so tief gedemütigt, um eine zweite Zusammenkunft am übernächsten Sonntag, wo ich wieder Urlaub zu erhalten hoffte, so flehentlich zu bitten. Und Sie — Sie sagten weder ja noch nein, ließen mich dann plötzlich stehen und eilten wie von Furien gehetzt dem Garten der Farm zu, wo Ihnen dann — der andere begegnete, wie ich sehr gut beobachtet habe. Das war unser Wiedersehen!“

Der junge Amerikaner lachte bitter auf.

[Nr.42] „Und das zweite Mal,“ fuhr er mit selbstquälerischem Behangen fort, „das war jener Sonntag vor Weihnachten! Was habe ich da alles zu hören bekommen, als Sie ganz verstört in demselben kleinen Talkessel erschienen, wo wir uns schon vor vierzehn Tagen begegnet waren. Nichts als Vorwürfe! Ich hätte Sie kompromittiert durch mein häufiges Umherstreifen in der Nähe der Farm! Ihr guter Ruf würde leiden, Ihre Verwandten könnten schlecht von Ihnen denken. Und ich sollte Ihnen doch nur den einzigen Gefallen tun und sofort nach Amerika zurückkehren! Ja – wenn das nur so leicht gegangen wäre! Aber ich hatte mich ja der Schutztruppe auf ein ganzes Jahr verpflichtet, wäre als Deserteur behandelt worden, wenn ich Wohambahe verlassen haben würde! Glauben sie mir, Alice – damals nach jener Aussprache wäre ich gegangen! Denn da wurde mir klar, welch geradezu lächerliche Rolle ich hier spielte. Aber ich mußte bleiben, mußte! Und nun hat das Schicksal uns abermals zusammengeführt! Zu welchem Zweck? – Nur um mir noch deutlicher zu zeigen, daß alles umsonst gewesen ist, daß Tom Brown sich unnütz gedemütigt hat! Wir Amerikaner verstehen es eben nicht, junge Damen, in deren Adern zur Hälfte noch das schwärmerische und nach weichem, süßlichem Liebesgetändel verlangende Blut des deutschen Gretchen fließt, für uns zu gewinnen. Wir sind eben, weil wir weniger honigsüße Worte zu machen verstehen und uns die Rolle des schwärmerischen Anbeters nicht recht liegt, nichts als gemütlose – Registrierkassen, zu denen Sie mich ja auch stets gerechnet haben.“

Miß Unverzagt hatte diese leidenschaftliche Rede mit wachsendem Staunen angehört. Niemals hätte sie Tom Brown so viel Temperament zugetraut, wenn ihr auch durch sein ganzes Verhalten bereits klar geworden war, daß seine Gefühle für sie doch stärker sein mußten, als sie dies je angenommen und bei einem Manne wie ihm für möglich gehalten hatte. War er ihr doch, ohne einem Menschen etwas über seine Absichten zu verraten, sehr bald hier nach Afrika gefolgt, er, dem sie noch vor wenigen Monaten auf eine nicht mißzuverstehende Art ihre völlige Gleichgültigkeit gegen seine Person – mehr noch, ihre direkte Abneigung gezeigt hatte. Ja, er war gekommen, obwohl er wußte, wie spöttisch man ihn daheim belächeln würde, wenn diese abenteuerliche Brautfahrt in St. Louis bekannt werden sollte. Freilich – vorsichtig genug und mit echt amerikanischer Verschlagenheit hatte er sich doch den Rücken zu decken gewußt, indem er hier nicht offen als alter Bewerber um ihre Hand auftrat, sondern sich ihr nur unter dieser, für seinen Yankeestolz sicher nicht unbequemen Maske eines Freiwilligen der Schutztruppe zu nähern versuchte. Bisher ahnte ja auch niemand, wer Tom Brown eigentlich war – eben jene ‚Registrierkasse‘, von der sie hier jedem übermütig als der wahren Ursache ihrer „Deportation“ nach Südwest erzählt hatte. Daß sie in der Weise über ihn gesprochen, tat ihr jedoch längst schon aufrichtig leid. Denn – welches junge Mädchen wäre wohl durch eine derartige Selbstverleugnung, wie sie sich in Tom Browns hartnäckiger Werbung widerspiegelt, nicht zu einer anderen Beurteilung selbst des unbeliebtesten Freiers gelangt und auch bis zu einem gewissen Grade gerührt worden! Und jetzt noch dieser Ausbruch einer verhaltenen Leidenschaft, die sich so deutlich in jeder einzelnen seiner in der Erregung wahllos, aber deshalb um so ehrlicher hervorgesprudelten Worte kundgab!

Miß Unverzagts große, ausdrucksvolle Augen hatten, als sie sich das alles nochmals überlegte, einen weichen Ausdruck angenommen. Jetzt streckte sie Tom Brown bittend die Hand hin.

„Nehmen Sie doch meine Freundschaft an, Tom, die ich Ihnen schon so oft anbot. Mehr kann ich Ihnen nicht geben. Das habe ich Ihnen drüben in der Heimat schon immer gesagt. Und heute, wo ich Ihre Person so ganz anders einzuschätzen gelernt habe, bitte ich Sie auch herzlich um Verzeihung für meine damalige Ungezogenheit. Sie wissen wohl, was ich meine. Es war mehr als kindisch und unreif von mir, Ihnen bei der Wohltätigkeitsvorstellung in St. Louis in dem kleinen Lustspiel als Ihre Partnerin vor einem Publikum, dem Sie als Bewerber um meine Hand bekannt waren, meinen Unwillen über Ihre mir damals geradezu aufdringlich erscheinende Kurmacherei mit Worten auszudrücken, die in meiner Rolle nicht enthalten waren und die Sie aufs schlimmste bloßstellten. Ich bereue diese Unüberlegtheit jetzt aufrichtig. Und wenn Ihre Fahrt hier nach der deutschen Kolonie auch den von Ihnen erwarteten Erfolg nicht haben kann, so mögen Sie sich doch in dem Gedanken trösten, in jener Alice Wellerslow, die früher so schwer zum Einsehen eines Unrechts und zur Abbitte zu bewegen war, eine reuige Sünderin und eine aufrichtige Freundin wiedergefunden zu haben. Denn – daß mein Herz Ihren heißen Wünschen nicht entgegenkommt, deshalb dürfen Sie mir nicht zürnen! Liebe läßt sich nun einmal nicht erzwingen. Sie ist wie ein zartes Pflänzchen, das lange verborgen unter der Erde treibt und keimt und dann mit einem Male hervorbricht zum Sonnenlicht – dann – wenn der Rechte erscheint.“

[Nr.43] Tom Brown hielt ihre kleine Hand noch immer zwischen seinen braunen Fingern.

Wie versteinert saß er da und starrte in die züngelnden Flammen, die sich so mühsam an den harten Dornenzweigen weiterfraßen. Noch immer hatte er ja in einen stillen Winkelchen seines Herzens die leise, leise Hoffnung genährt, Alice Wellerslow doch noch für sich zu erobern. Jetzt allerdings sah er ein, daß es für ihn nichts, nichts mehr zu hoffen gab.

Jäh erhob er sich, schritt zu den Pferden hin und machte sich an dem Zaumzeug seines Rappen etwas zu schaffen. Als er dann nach einer Weile zum Feuer zurückkehrte, lag um seinen bartlosen Mund nicht mehr jener schmerzliche Zug, der den fast zu energischen, beinahe harten Ausdruck seines Gesichts vorhin so angenehm gemildert hatte.

Schweigend setzte er sich nieder und prüfte mit der Spitze seines Jagdmessers das leise über der Glut zischende und brodelnde Lendenstück. Auf den großen, tellerartig gebogenen Blättern einer Kakteenart bot er Alice dann das saftigste Stück an, dazu als Trunk die letzten Schlucke des schweren Kaffees aus seiner Feldflasche.

Sie aß nur wenige Bissen. Auch ihm selbst mundete das ungesalzene Fleisch nicht sonderlich. Das meiste davon erhielten daher die Hunde, die auch alles heißhungrig hinunterschlangen.

Tom Brown sah nach der Uhr.

„Ich werde noch auf Kundschaft ausreiten,“ meinet er einfach. „In vier Stunden, gegen zwei Uhr morgens, kann ich zurück sein. Nehmen Sie meinen Mantel als Decke und versuchen Sie zu schlafen, Miß Wellerslow. Die Hunde werden Sie genügend bewachen. Außerdem – wenn Sie das Feuer ausgehen lassen, wird kein Feind Sie hier finden.“

Miß Unverzagt widersprach nicht, trotzdem sie nicht wußte, was er eigentlich vorhatte. Er würde sich von seinem Vorhaben ja doch nicht abbringen lassen.

Bald darauf ritt er mit kurzem Abschiedswort davon, nachdem er ihr seinen langen grauen Mantel, der hinten auf dem Sattel seines Pferdes festgeschnallt gewesen war, an einer geschützten Stelle ausgebreitet hatte.

Immer tiefer brannte das kleine Feuer herab, bis nur noch hin und wieder ein Zweiglein für kurze Zeit auflohte.

Lange starrte Alice mit offenen Augen zu dem klaren, gestirnten Nachthimmel empor. Aber schließlich siegte doch die Müdigkeit, die ihr nach all den Strapazen und Aufregungen des Tages wie Blei in den Gliedern lag. Sie schlief ein.

Stunden vergingen. Da fuhr sie mit einem Male empor. Es hatte jemand leise ihre Schulter berührt.

Im Dämmerlichte des inzwischen aufgegangenen Vollmondes stand Tom Brown vor ihr, die Büchse in der Rechten.

„Stehen Sie auf, Miß Wellerslow. Ich glaube eine Möglichkeit entdeckt zu haben, wie wir doch noch nach Wohambahe hineingelangen können.“

Und als sie sich jetzt völlig ermuntert hatte und schnell aufgesprungen war, fuhr er fort:

„Die Herero haben ihr Lager in der Lichtung des großen Dornenfeldes aufgeschlagen, das sich meilenweit nördlich von der Station hinzieht. Dort sind in schnell errichteten Hütten ihre Weiber und Kinder untergebracht, während der größte Teil der Krieger in enger Postenkette die kleine Feste umzingelt hält. Noch zwei Stunden, dann wird sich der Morgenwind, der hier stets von Norden nach Süden weht, erheben. Er soll den Hauptanteil an dem Gelingen meines Planes tragen. Seit Wochen ist kein Tropfen Regen gefallen. Das Steppengras ist dürr wie Zunder, nicht minder dürr die Dornensträucher. Wenn wir nun das eben erwähnte Dornenfeld an seiner Nordgrenze möglichst gleichzeitig an verschiedenen Stellen anzünden, so wird der Wind die Flammen mit unheimlicher Geschwindigkeit gegen das Hererolager vorwärts tragen. Und die dann zweifellos entstehende Verwirrung müssen wir zum Durchschlüpfen benutzen. Ich rechne eben bestimmt damit, daß die Hereroposten in der Angst um ihre Weiber und Kinder und ihr bißchen Hab und Gut zunächst völlig den Kopf verlieren und nur daran denken werden, die Ihrigen in Sicherheit zu bringen. Jedenfalls müssen wir noch vor Tagesgrauen dort im Norden unsere Vorbereitungen beendet haben. Uns steht daher noch ein sehr scharfer Ritt bevor.“

Willenlos ließ Alice sich vorwärtstreiben. Aber ihre Gedanken waren nicht bei der Sache, als sie jetzt ihrem Schimmel den Sattel auflegte.

Vielleicht konnte sie, wenn der Morgen graute, bereits innerhalb der schützenden Mauern von Wohambahe sein – bei ihm, dachte sie freudig klopfenden Herzens. Und diese beseligende Hoffnung stimmte sie jetzt unendlich weich. Nur zu gern hätte sie noch schnell ein paar recht liebe, warme Worte an den gerichtet, der auch jetzt wieder in seltener Selbstverleugnung für ihr Bestes gesorgt hatte, während sie in tiefem Schlaf, eingehüllt in seinem Mantel, von einer sonnigen Zukunft an der Seite des anderen geträumt hatte. Doch – würde sie nicht durch ihre erneuten Versicherungen ihrer Freundschaft und steten Dankbarkeit in dem Herzen dessen, der etwas so ganz anderes, etwas, das sie ihm nicht geben konnte, von ihr verlangte, nur unnötig das traurige Bewußtsein abermals wecken, daß er sie für immer verloren hatte?

Daher schwieg sie. Und dann ritten sie in die vom Mondlicht mit Silberglanz überflutete Landschaft hinaus, dicht nebeneinander, und hinter den bald in Galopp fallenden Pferden keuchten in langen Sätzen die beiden Hunde einher.

[Nr.44] In derselben Nacht schritt Oberleutnant von Otting auf dem mit einem kugelsicheren Mauerkranz umgebenen flachen Dache der in einem geschlossenen Viereck bastionsartig aus grauen Backsteinen ausgeführten Gebäude von Wahambahe unruhig auf und ab.

Es hatten soeben die Wachen revidiert und den Leuten dabei nochmals größte Aufmerksamkeit eingeschärft. Die schwere Verantwortung, die jetzt auf ihm als dem Kommandanten der von so unerbittlichen Feinden belagerten Feste lastete, hätte ihn sicherlich nicht so sehr gedrückt, wenn er überzeugt gewesen wäre, die Station längere Zeit halten zu können. Aber er wußte ja nur zu gut, das der vorhandene Proviant und die wenigen Stücke Schlachtvieh, die in einer Ecke des quadratischen Hofes untergebracht waren, für die vielen, hier zusammengepferchten Menschen nicht lange ausreichen konnten. Wo sollte er besonders das Futter für die Rinder und die zahlreichen Pferde herbekommen, wo all das notwendige Wasser, da der artesische Brunnen schon jetzt hin und wieder vollständig versagte und die Wasserlöcher in der nahen Schlucht, die sonst als Viehtränke gedient hatten, sich im Besitze der Feinde befanden?

Dabei war ja auf Hilfe von außen vorläufig überhaupt nicht zu rechnen! Hatte er doch vor wenigen Stunden von der nächsten, nach Süden zu gelegene Heliographenstation die Nachricht erhalten, daß sich der ganze Norden in Aufruhr befände.

Mit furchtbarer Deutlichkeit malte er sich schon das Schicksal der in Wohambahe eingeschlossenen Soldaten und Farmerfamilien aus. Nur zu bald würden infolge des Wasser- und Futtermangels die Tiere hinsterben, würde der Typhus mit all seinen Schrecken in diese engen Räume seinen Einzug halten und die kleine Schar der Verteidiger mit unheimlicher Stetigkeit verringern, bis die Station dann eines Tages nichts mehr war als ein verseuchtes Krankenhaus, als ein großes Grab, in das der blutgierige Schwarze widerstandslos eindringen konnte, um auch die letzten hinzumorden, die Typhus und Ruhr noch verschont hatten.

Gewiß – einen Augenblick hatte er wohl daran gedacht, sich nach Süden hin durchzuschlagen. Doch nur zu bald mußte er einsehen, daß selbst dieser verzweifelte Plan so gut wie gar keine Aussichten auf eine glückliche Durchführung bot. Zu endlos war der Weg nach dem nächsten größeren Orte, zu gering seine Truppenmacht, um sich wochenlang mit der Waffe in der Hand die Möglichkeit des Vorwärtsdringens zu erkämpfen. Es blieb eben nichts, nichts anderes übrig, als hier auszuharren!

Und dann noch zu alledem die peinigende Ungewißheit über das Schicksal Alice Wellerslows und Tom Browns, deren mißglückten Durchbruchsversuch am gestrigen Spätnachmittag die ganze Besatzung von Wohambahe, aufmerksam gemacht durch das plötzliche Gewehrfeuer drüben bei den Hereros, mitbeobachtet hatte, ohne den beiden irgendwelche erfolgreiche Hilfe bringen zu können.

Denn der Ausfall, den Leutnant Röder mit einer kleinen Abteilung sofort in jener Richtung unternommen hatte, war von den Herero blutig vereitelt worden. Fünf Mann hatten das Wagnis mit dem Leben bezahlt, und der junge Offizier selbst lag jetzt mit einer schweren Schulterwunde in starkem Wundfieber unten in der Lazarettstube.

Otting umschritt noch immer, von diesen traurigen Gedanken gepeinigt, langsam das Viereck der breiten Bastionsdächer.

Im Osten fing der Tag an zu grauen. Das flimmernde Licht der Sterne verblaßte, und die tiefstehende Mondscheibe wurde zusehends durchsichtiger und verschwommener. Die schwarz-weiß-rote Fahne, die bisher träge an dem Flaggenmast herabhing, bauschte sich plötzlich in der beginnenden Morgenbrise in welligen Falten. Bald wehte sie glatt und an dem Taue zerrend in dem schnell auffrischenden Winde.

Mit einem Male lief eine Meldung, von Mann zu Mann weitergegeben, die aus dem Dache verteilten Posten entlang:

„Starker Feuerschein im Norden!“

Verwundert nahm Otting seinen Feldstecher zur Hand und richtete ihn dorthin, wo jetzt immer deutlicher rötliche Glut den Horizont färbte. Kein Zweifel, das große Dornenfeld dort brannte in seiner ganzen Ausdehnung.

Durch das Glas vermochte er das Umsichgreifen des vom Winde angefachten Feuers genau zu beobachten. Mit Blitzesschnelle huschten die Flammen über die trockenen Spitzen der Dornenbüsche hin, und schon wenige Minuten nach dem ersten Alarmruf wogte da nordwärts ein endloses, wie eine Welle unaufhaltsam vorstürmendes Glutmeer.

[Nr.45] Auch die Herero, deren Wachen in Deckung hinter Hügeln und Gesträuchgruppen rings um die Station lagen, schienen jetzt die Gefahr, die ihrem inmitten jenes Dornenfeldes befindlichen Lager drohte, bemerkt zu haben.

Man hörte deutlich ihr Rufen und Schreien, sah auch in der immer lichter werdenden Morgendämmerung schnell vorüberhuschende Gestalten, die sämtlich dem bedrohten Lagerplatze zustrebten.

Otting hatte die Situation sofort richtig erfaßt.

Schnell war die gesamte Besatzung alarmiert, und als gerade die Hauptmasse der Hererokrieger mit dem schleunigen Fortschaffen der Weiber und Kinder und des ängstlich brüllenden Viehes beschäftigt war, begann in dieses von roter Glut überstrahlte Chaos von Mensch und Tier das rasende Schnellfeuer der deutschen Soldaten einzuschlagen, die in einer Stärke von vierzig Mann unter ihrem Kommandanten in langer Schützenlinie gegen das brennende Dornenfeld vorgedrungen waren, während man die Station selbst nur unter dem Schutze des kleinen Restes der Besatzung und der Farmer und ihrer Leute zurückgelassen hatte, indem man darauf rechnete, die Schwarzen würden sich in ihrer Verwirrung zu einem wirkungsvollen Sturm auf die Feste kaum aufraffen können.

Um nicht etwa im Rücken angegriffen zu werden, hatte Oberleutnant von Otting außerdem das einzige ihm zur Verfügung stehende Maschinengewehr dicht hinter seiner Stellung auf einer kleinen Anhöhe postiert, von wo aus es seine Kugelsaat je nach Bedarf nach jeder Richtung zu schicken vermochte. Vorläufig waren allerdings die gleichmäßig schnell einander folgenden Schüsse dieser so äußerst wirksamen modernen Waffe auf dasselbe Ziel gerichtet, welches auch die Schutztruppler unter ein verheerendes Feuer nahmen – auf den Lagerplatz der Herero mit seinem dichten Gewimmel von Mensch und Tier, in dem kaum ein Geschoß fehlgehen konnte.

Die Lage war auf diese Weise für den an Zahl um das zehnfache überlegenen Feind fast mit einem Schlage eine geradezu verzweifelte geworden.

Auf einen Raum von vielleicht 1000 Quadratmetern waren in der Richtung des lohenden Dornenfeldes die meisten Krieger, dazu unzählige Weiber und Kinder[WS 2] und Scharen von Rindern und Schafen eng zusammengedrängt. Und vor dem einzigen, kaum hundert Meter breiten Ausgang aus dieser feurigen, taghell erleuchteten Falle, in der die verderbliche Hitze von Minute zu Minute stieg, standen die Deutschen in gut gedeckter Stellung wie ein eiserner, nicht zu beseitigender Riegel.

Gewiß – auch hier bewies der Feind eine anerkennenswerte Entschlossenheit und Todesverachtung. In dichten Haufen stürmten die Herero des öfteren vor, um die Schutztruppler zu überrennen und sich aus der verderblichen Umzingelung zu befreien. Aber jeder dieser mit wütendem Geschrei unternommenen Angriffe zerschellte an dem wirkungsvollen, ruhigen Feuer des deutschen Gegners.

Immer wieder mußten die Schwarzen unter den größten Verlusten in die Backofenglut der Lichtung zurück. Dagegen machten die noch auf ihren Posten in der Umzingelungslinie verbliebenen Herero, deren Zahl immerhin, wie sich später herausstellte, gegen hundert betragen hatte, auch nicht einen einzigen Versuch, ihren bedrängten Kameraden durch einen energischen Vorstoß gegen den Rücken der deutschen Aufstellung Luft zu schaffen.

Inzwischen war es völlig Tag geworden.

Seit Minuten war schon bei den Herero kein Schuß mehr gefallen. Auch Oberleutnant von Otting hatte das Feuer einstellen lassen, um nicht unnötig Munition zu verschwenden. Er wußte ja, daß es für den von den Flammen immer dichter eingeschlossenen Feind nur ein Mittel gab, aus dieser Hölle zu entkommen: Bedingungslose Unterwerfung.

Und wirklich erschienen jetzt auch in dem Eingange der Lichtung drei unbewaffnete Herero, von denen der eine ein an eine lange Stange gebundenes weißes Stück Zeug hin- und herschwenkte.

Otting ließ die drei ungehindert sich nähern.

Es war der Führer der Herero-Abteilung mit zweien seiner Unterführer.

Nach kurzer Verhandlung, die der Oberleutnant absichtlich in möglichst schroffem, unversöhnlichem Tone führte, ergab sich der Feind.

Einzeln sollten die erwachsenen Männer ohne Waffen in Abständen von zehn Schritt den von den Schutztrupplern gebildeten Halbkreis betreten. Ebenso mußten sich die noch um die Station verstreuten Schwarzen jeder weiteren Feindseligkeit enthalten, widrigenfalls der Oberleutnant ohne Schonung den Kampf wieder aufzunehmen drohte.

Alles weitere, insbesondere eine Bestrafung derjenigen Schwarzen, die die Bewohner der eingeäscherten Farm Markwartshöhe niedergemetzelt und die Leichen aufs bestialischeste verstümmelt hatten, behielt Otting sich vor.

Schnell waren die nötigen Befehle und Verhaltungsregeln gegeben, die völlig genügten, um den Herero jede Lust zu einem hinterlistigen Streich zu benehmen.

[Nr.46] Ihre Entwaffnung verlief ohne jeden weiteren Zwischenfall. Sicherheitshalber wurde der jetzt wehrlose Feind dann sofort bis unter die Mauern der kleinen Feste gebracht, wo er leichter und mit Hilfe von wenigen Mannschaften zu überwachen war.

Endlich konnte Otting, da die Pflicht nicht mehr all seine Gedanken in Anspruch nahm, aufatmen. In den einander überstürzenden Ereignissen der letzten Stunden hatte er Alice Wellerslow völlig vergessen. Erst jetzt wurde er an sie erinnert, als plötzlich Tom Brown vor ihm stand und sich vorschriftsmäßig zurückmeldete.

Mit atemloser Spannung folgte der Oberleutnant dem kurzen Berichte des Freiwilligen, und hocherfreut schüttelte er ihm dann immer wieder und wieder die Hand.

„Also Ihnen und Miß Wellerslow haben wir diese unerwartete Hilfe zu danken! Ich habe mir auch schon vergebens den Kopf zerbrochen, wer das Dornenfeld nur angezündet haben könnte. Aufrichtig – an Sie hätte ich nie gedacht. Ich nahm an, daß es von umherstreifenden Herero aus Unvorsichtigkeit angesteckt worden sei. Diese Vermutung lag ja auch am nächsten. Jedenfalls war’s eine glänzende Idee von Ihnen, Brown! Sie wissen ja gar nicht, aus welcher verzweifelten Lage Sie uns dadurch befreit haben. Nochmals – ich danke Ihnen, Unteroffizier Brown!“

Er betonte das „Unteroffizier“ besonders stark. Aber in des Amerikaners unbeweglichem Gesicht zeigte sich über diese Beförderung auch nicht die geringste Spur von Freude. Mit frostiger Kälte sagte er nur:

„Ich hätte noch eine Bitte, Herr Oberleutnant.“

Befremdet schaute Otting ihn daraufhin an.

„Sprechen Sie,“ meinte er kurz, den vor ihm Stehenden erwartungsvoll fixierend.

„Vielleicht könnte mir eine andere Vergünstigung gewährt werden: Meine sofortige Entlassung aus den Diensten der Schutztruppe! Bestimmte Verhältnisse zwingen mich,“ fügte er erklärend hinzu, „sofort in meine Heimat zurückzukehren. Ich würde natürlich den Weg nach Norden einschlagen und versuchen, eine Niederlassung des Kongo-Staates zu erreichen, da die Straßen nach Swakopmund als dem nächsten deutschen Hafen vorläufig für einen einzelnen Reiter unmöglich zu passieren sein dürften.“

Was Tom Brown dann noch weiter zur Begründung seiner auffallenden Bitte vorbrachte, war nichts anderes, als die traurige Geschichte seiner Liebe zu Alice Wellerslow, wobei er jedoch Ottings Person als die des glücklichen Nebenbuhlers in keiner Weise erwähnte.

„Sie können sich wohl denken, Herr von Otting,“ sagte der Amerikaner jetzt in selbstbewußtem Tone, „daß einzig und allein die Ehrenpflicht, Miß Wellerslow allen ihrem Rufe irgendwie nachteiligen Gerüchten gegenüber vollkommen zu rehabilitieren, mich zu diesem Geständnis veranlaßt hat, ebenso auch, daß ein ferneres Verbleiben hier an diesem Orte, wo ich jeden Tag mit ihr zusammentreffen müßte, in uns beiden nur peinliche Erinnerungen wecken würde. Ich hoffe, Sie werden mich nunmehr vollständig verstehen und mein Gesuch genehmigen. Ich möchte möglichst noch heute aufbrechen.“

Wer wollte es Fritz von Otting verargen, daß er den Amerikaner unter diesen Umständen mit der größten Bereitwilligkeit von seinen Verpflichtungen sofort entband und ihm außerdem noch versprach, für einen zuverlässigen Eingeborenen-Führer zu sorgen, der Tom Brown dann bis hinauf nach Charlestown, der nächsten größeren Niederlassung des Kongostaates, bringen sollte.

Als der Oberleutnant wenige Minuten später den Hof der Station betrat, sah er schon von weitem eine feine, zierliche Mädchengestalt in einem dunkelgrünen Jagdkostüm, die soeben einen abgetriebenen Schimmel aus einem Eimer tränkte. Und dann stand er vor ihr und streckte ihr unbekümmert um all die neugierigen Augen, die diese Szene betrachteten, beide Hände entgegen.

„Miß Unverzagt,“ sagte er leise mit glücklichen Augen, „kleine, liebe Miß Unverzagt, jetzt endlich kenne ich das Geheimnis jenes Stelldicheins, das Sie mit so ängstlicher Scheu vor mir zu verbergen suchten. Alles, alles begreife ich nun! Wie falsch habe ich Sie nur beurteilt! Und wie mögen Sie gelitten haben unter diesen Heimlichkeiten, gerade Sie mit Ihrer natürlichen Offenheit und Ihrem aufrichtigen Herzen, dem jede Verstellung so fremd ist. Verzeihen Sie mir, Alice! Aber Eifersucht macht blind und ungerecht. Und – wenn Sie später einmal mein liebes, kleines Frauchen werden wollen, so verspreche ich hoch und heilig: Ich werde nie, nie mehr nach dem äußeren Schein urteilen und verurteilen!“

Da blitzte schon wieder in Miß Unverzagts Augen der alte, goldige Schelm auf:

„Wenn Sie mir das schriftlich geben, dann – dann – Wir Amerikanerinnen sind nämlich vorsichtig, besonders wenn sich’s um eine so ernste Sache wie eine – Heirat handelt.“




Noch ein langes, schweres Jahr sollte vergehen, ehe Fritz von Otting daran denken konnte, seine reizende Miß Unverzagt heimzuführen. Noch einmal wurde Wohambahe von den Herero, wenn auch nur für kurze Zeit, belagert. Dann war der Krieg hier im Norden beendet – das Hererovolk wurde in die endlosen, wasserarmen Einöden gedrängt, aus denen es kein Entrinnen gab.

Alice Wellerslow aber ist eine echte Soldatenfrau geworden, die die ihr verliehene Ordensauszeichnung mit berechtigtem Stolz an allen patriotischen Festtagen trägt. Und auch in dem Regiment ihres Gatten, der sich längst nach Deutschland hat zurückversetzen lassen, nennt man die allgemein beliebte Frau Alice von Otting nur „Miß Unverzagt“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: S. Louis
  2. Vorlage: Krieger