Mitteilungen aus den Memoiren des Satan/Zweiter Teil/III
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Kommt man um die Zeit des Pfingstfestes nach Frankfurt, so sollte man meinen, es gebe keine heiligere Stadt in der Christenheit; denn sie feiern daselbst nicht, wie z. B. in Bayern, 11/2 oder, wie im Kalender vorgeschrieben, zwei Festtage, sondern sie rechnen vier Feiertage; die Juden haben deren sogar fünf, denn sie fangen in Bornheim[1] ihre heiligen Übungen schon am Samstag an, und der Bundestag hat sogar acht bis zehen.
Diese Festtage gelten aber in dieser Stadt weniger den wunderbaren Sprachkünsten der Apostel als mir. Was die berühmtesten Mystiker am Pfingstfeste morgens den guten Leutchen ans Herz gelegt, was die immensesten Rationalisten mit moralischer Salbung verkündet hatten, das war so gut als in den Wind gesprochen. Die Fragen: Ob man am Montag oder am Dienstag, am zweiten oder dritten Feiertag ins Wäldchen[2] gehen, ob es nicht anständiger wäre, ins Wilhelmsbad[3] zu fahren, ob man am vierten Feiertag nach Bornheim oder ins Vauxhall[4] gehen solle, oder beides, diese Fragen schienen bei weitem wichtiger als jene, die doch für andächtige Feiertagsleute viel näher lag: ob die Apostel damals auch Englisch und Plattdeutsch verstanden haben?
[414] Muß ein so aufgeweckter Sinn den Teufel nicht erfreuen, der an solchen Tagen mehr Seelen für sich gewinnt als das ganze Judenquartier in einer guten Börsenstunde Gulden? Auch diesmal wieder kam ich zu Pfingsten nach Frankfurt. Leuten, die von einem berühmten Belletristen[5] verwöhnt, alles bis aufs kleinste Detail wissen wollen, diene zur Nachricht, daß ich im Weißen Schwanen auf Nr. 45 recht gut wohnte, an der großen Table d’hôte in angenehmer Gesellschaft trefflich speiste, den Küchenzettel mögen sie sich übrigens von dem Oberkellner ausbitten.
Schon in der ersten Stunde bemerkte ich ein Seufzen und Stöhnen, das aus dem Zimmer nebenan zu dringen schien. Ich trat näher, ich hörte deutlich, wie man auf gut Deutsch fluchte und tobte, dann Rechnungen und Bilanzen, die sich in viele Tausende beliefen, nachzählte, und dann wieder wimmerte und weinte, wie ein Kind, das seiner Aufgabe für die Schule nicht mächtig ist.
Teilnehmend, wie ich bin, schellte ich nach dem Kellner und fragte ihn, wer der Herr sei, der nebenan so überaus kläglich sich gebärde?
„Nun“, antwortete er, „das ist der stille Herr!“
„Der stille Herr? Lieber Freund, das gibt mir noch wenig Aufschluß, wer ist er denn?“
„Wir nennen ihn hier im Schwanen den stillen Herrn, oder auch den Seufzer, er ist ein Kaufmann aus Dessau, nennt sich sonst Zwerner, und wohnt schon seit vierzehn Tagen hier.“
„Was thut er denn hier? Ist ihm ein Unglück zugestoßen, daß er so gar kläglich winselt?“
„Ja! das weiß ich nicht“, erwiderte er, „aber seit dem zweiten Tag, daß er hier ist, ist sein einziges Geschäft, daß er zwischen zwölf und ein Uhr in der neuen Judenstraße auf- und abgeht, und dann kommt er zu Tisch, spricht nichts, ißt nichts, und den ganzen Tag über jammert er ganz stille und trinkt Kapwein.“
„Nun, das ist keine schlimme Eigenschaft“, sagte ich, „setzen Sie mich doch heute mittag in seine Nähe.“ Der Kellner versprach es, und ich lauschte wieder auf meinen Nachbar.
[415] „Den 12. Mai“ – hörte ich ihn stöhnen, „Metalliques 843/4, Österreichische Staatsobligationen 873/8, Rothschildsche Lotterie-Lose, der Teufel hat sie erfunden und gemacht! 132. Preußische Staatsschuldscheine. 81! O Rebekka! Rebekka! Wo will das hinaus! 81! Die Preußen! Ist denn gar keine Barmherzigkeit im Himmel?“
So ging es eine Zeitlang fort; bald hörte ich ihn ein Glas Kapwein zu sich nehmen und ganz behäglich mit der Zunge dazu schnalzen, bald jammerte er wieder in den kläglichsten Tönen und mischte die Konsols, die Rothschildschen unverzinslichen, und seine Rebekka auf herzbrechende Weise untereinander. Endlich wurde er ruhiger. Ich hörte ihn sein Zimmer verlassen und den Gang hinabgehen, es war wohl die Stunde, in welcher er durch die neue Judenstraße promenierte.
Der Kellner hatte Wort gehalten. Er wies, als ich in den Speisesaal trat, auf einen Stuhl: „Setzen sich der Herr Doktor nur dorthin“, flüsterte er, „zu Ihrer Rechten sitzt der Seufzer.“ Ich setzte mich, ich betrachtete ihn von der Seite; wie man sich täuschen kann! Ich hatte einen jungen Mann von melancholischem, gespenstigem Aussehen erwartet, wie man sie heutzutage in großen Städten und Romanen trifft, etwa bleichschmachtend und fein wie Eduard, von der Verfasserin der Ourika[6], oder von schwächlichem, beinahe lüderlichem Anblick, wie einige Schopenhauersche[7] oder Pichlersche[8] Helden. Aber gerade das Gegenteil; ich fand einen untersetzten, runden jungen Mann mit frischen, wohlgenährten Wangen und roten Lippen, der aber die trüben Augen beinahe immer niederschlug, und um den hübschen Mund einen weinerlichen Zug hatte, welcher zu diesem frischen Gesicht nicht recht paßte.
Ich versuchte, während ich ihm allerlei treffliche Speisen anbot, einigemale mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber immer vergeblich; er antwortete nur durch eine Verbeugung, begleitet [416] von einem halbunterdrückten Seufzer. In solchen Augenblicken schlug er dann wohl die Augen auf, doch nicht, um auf mich zu blicken; er warf nur einen scheuen, finstern Blick gerade aus, und sah dann wieder seufzend auf seinen Teller.
Ich folgte einem dieser Blicke und glaubte zu bemerken, daß sie einem Herrn gelten mußten, der uns gegenüber saß und schon zuvor meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
Er war gerade das Gegenteil von meinem Nachbar rechts. Seine schon etwas kahle, gefurchte Stirne, sein bräunlichtes, eingeschnurrtes Gesicht, seine schmalen Wangen, seine spitze, weithervortretende Nase deuteten darauf hin, daß er die fünfundvierzig Jährchen, die er haben mochte, etwas schnell verlebt habe. Den auffallendsten Kontrast mit diesen verwitterten, von Leidenschaften durchwühlten Zügen bildete ein ruhiges süßliches Lächeln, das immer um seinen Mund schwebte, die zierliche Bewegung seiner Arme und seines Körperchens, wie auch seine sehr jugendliche und modische Kleidung.
Es saßen etwa fünf oder sechs junge Damen an der Tafel, und nach den zärtlichen Blicken, die er jeder zusandte, dem süßen Lächeln, womit er seine Blicke begleitete, zu urteilen, mußte er mit allen in genauen Verhältnissen stehen. Dieser Herr hatte, wenn er mit der abgestorbenen, knöchernen Hand einen Spargel zum Munde führte und süßlich dazu lächelte, die größte Ähnlichkeit mit einem rasierten Kaninchen, während mein Nachbar rechts wie ein melancholischer Frosch anzusehen war.
Warum übrigens der Seufzer das Kaninchen mit so finsteren Augen maß, konnte ich nicht erraten. Endlich, als die Blicke meines Nachbars düsterer und länger als gewöhnlich auf jenem ruhten, fing das Kaninchen an, die Schultern und Arme graziös hin und her zu drehen, den Rücken auf künstliche Art auszudehnen, und das spitzige Köpfchen nach uns herüber zu drehen; mit süßem Lächeln fragte er: „Noch immer so düster, mein lieber Monsieur Zwerner? Etwa gar eifersüchtig auf meine Wenigkeit!“
An dem zarten Lispeln, an der künstlichen Art das r wie gr auszusprechen, glaubte ich in ihm einen jener adeligen Salonmenschen zu erkennen, die von einer feinen, leisen Sprache [417] Profession machen. Und so war es, denn mein Nachbar antwortete: „Eifersüchtig, Herr Graf? auf Sie in keinem Fall.“
Graf Rebs, so hörte ich ihn später nennen – faltete sein Mäulchen zu einem feinen Lächeln, drückte die Augen halb zu, bog die Spitznase auf komische Weise seitwärts, strich mit der Hand über sein langes knöchernes Kinn und kicherte.
„Das ist schön von Ihnen, lieber Monsieur Zwerner; also gar nicht eifersüchtig? Und doch habe ich die schöne Rebekka erst gestern abend noch in ihrer Loge gesprochen. Ha, ha! Sie standen im Parterre und schauten mit melancholischen Blicken herauf. Darf ich Sie um jenes Ragout bitten, mein Herr?“
„Ich war allerdings im Theater, habe aber nur vorwärts aufs Theater und nicht rückwärts gesehen, am wenigsten mit melancholischen Blicken.“
„Herr Oberkellner“, lispelte der Graf, „Sie haben die Trüffeln gespart; aber nein! Monsieur Zwerner, wie man sich täuschen kann! Ich hätte auf Ehre geglaubt, Sie schauen herauf in die Loge mit melancholischen Blicken. Auch Rebekka mochte es bemerken und Fräulein von Rothschild, denn als ich auf Sie hinabwies – Kellner, ich trinke heute lieber roten Engelheimer, ein Fläschchen – ja, wollte ich sagen – das ist mir nun während des Engelheimers gänzlich entfallen, so geht es, wenn man so viel zu denken hat.“
Meinem Nachbar mochte das unverzeihlich schlechte Gedächtnis des Grafen nicht behagen; obgleich er vorhin das Kaninchen ziemlich barsch abgewiesen hatte, so schien ihm doch dieser Punkt zu interessant, als daß er nicht weiter geforscht hätte. „Nun, auch Fräulein von Rothschild hat bemerkt, daß ich melancholisch hinauf sahe“, fragte er, indem er seine bitteren Züge durch eine Zuthat von Lächeln zu versüßen suchte; „freilich, diese hat ein scharfes Gesicht durch die Lorgnette –“
„Richtig, das war es“, erwiderte Rebs, „das war es; ja, als ich auf Sie hinabwies und Rebekkchen Ihre Leiden anschaulich machte, schlug sie mich mit ihrem Jockofächer auf die Hand und nannte mich einen Schalk.“
[418] Mein Nachbar wurde wieder finster, seine roten Wangen röteten sich noch mehr, und die ansehnliche Breite seines Gesichtes erweiterte sich noch durch wilden Trotz, der in ihm wütete. Er zog den Kopf tief in die Schultern und blitzte das Kaninchen hin und wieder mit einem grimmigen Blick an. Er hatte nie so große Ähnlichkeit mit einem angenehmen Froschjüngling, der an einem warmen Juniabend trauernd auf dem Teichel sitzt, als in diesem Augenblicke.
Graf Rebs bemerkte dies. Mit angenehmer Herablassung, wobei er das r noch mehr schnurren ließ als zuvor, sprach er: „Werter Monsieur Zwerner. Sie dürfen aus dem Schlag mit dem Jockofächer keine argen Folgerungen ziehen. Es ist nur eine Façon de parler unter Leuten von gutem Ton. Wegen meiner dürfen Sie ruhig sein. Zwar solange man jung ist“, fuhr er fort, indem er den Halskragen höher heraufzog und schalkhaft daraus hervorsah, wie das Kaninchen aus dem Busch, „zwar solange man jung ist, macht man sich hie und da ein Späßchen. Aber ein ganz anderer Gegenstand fesselt mich jetzt, Liebster! Haben Sie schon die Nichte des englischen Botschafters gesehen, die seit drei Tagen hier in Frankfurt ist?“
„Nein“, antwortete mein Nachbar, leichter atmend.
„Oh, ein deliziöses Kind! Augenbraunen wie, wie – wie mein Rock hier, einen Mund zum Küssen und in dem schönen Gesicht so etwas Pikantes, ich möchte sagen so viel englische Rasse. Nun, wir sind hier unter uns, ich kann Sie versichern, es ist auffallend, aber wahr, ich sollte es nicht sagen, es beschämt mich, aber auf Ehre, Sie können sich drauf verlassen, obgleich es ein ganz komischer Fall ist, übrigens hoffe ich, mich auf Ihre Diskretion verlassen zu können; nein, es ist wirklich auffallend, in drei Tagen …“
„Nun so bitte ich Sie doch um Gotteswillen, Herr Graf, was wollen Sie denn sagen?“
Es war ein eigener Genuß, das Kaninchen in diesem Augenblick anzusehen. Ein Gedanke schien ihn zu kitzeln, denn er kniff die Äuglein zu, sein Kinn verlängerte sich, seine Nase bog sich abwärts nach den Lippen, und sein Mund war nur noch eine dünne, [419] zarte Linie; dazu arbeitete er mit dem zierlich gekrümmten Rücken und den Schulterblättern, als wolle er anfangen zu fliegen, und mit den abgelebten Knöchlein seiner Finger fuhr er auf dem Tisch umher. Noch einmal mußte der Seufzer ihn ermuntern, sein Geheimnis preiszugeben, bis er endlich hervorbrachte: „Sie ist in mich verliebt. Sie staunen; ich kann es Ihnen nicht übelnehmen, auch mir wollte es anfangs sonderbar bedünken, in so kurzer Zeit; aber ich habe meine sicheren Kennzeichen, und auch andere haben es bemerkt.“
„Sie Glücklicher!“ rief der Seufzer nicht ohne Ironie, „wo Sie nur hintippen, schlagen Ihnen Herzen entgegen; übrigens rate ich, diese Engländerin ernstlicher zu verfolgen, bedenken Sie, eine so solide Partie –“
„Merke schon, merke schon“, entgegnete Rebs mit schlauem Lächeln, „es ist Ihnen um Rebekka, Sie wollen, ich solle dort gänzlich aus dem Felde ziehen. Solide Partie! Sie werden doch nicht meinen, daß ich schon heiraten will? Gott bewahre mich! Aber wegen Rebekkchen dürfen Sie ruhig sein; ich ziehe mich gänzlich zurück. Und sollte vielleicht eine vorübergehende Neigung in dem Mädchen – Sie verstehen mich schon – das wird sich bald geben, ich glaube nicht, daß sie mich ernstlich geliebt hat.“
„Ich glaube auch nicht“, entgegnete der Seufzer mit einem Ton, in welchen sich bittere Ironie mit Grimm mischte. Die Gesellschaft stand auf, wir folgten. Graf Rebs tänzelte lächelnd zu den Damen, welchen er während der Tafel so zärtliche Blicke zugeworfen; ich aber folgte dem unglücklichen Seufzer.
„Was war doch dies für ein sonderbarer Herr?“ fragte ich meinen Nachbar, indem ich mich dicht an ihn anschloß. „Findet er wirklich bei den Damen so sehr Beifall, oder ist er ein wenig verrückt?“
„Ein Geck ist er, ein Narr!“ rief der Seufzende, indem er mit dem Kopf aus den Schultern herausfuhr und die Arme umherwarf; [420] „ein alter Junggeselle von fünfundvierzig, und spielt noch den ersten Liebhaber. Eitel, thöricht, glaubt, jede Dame, die er aus seinen kleinen Äuglein anblinzelt, ist in ihn verliebt, drängt sich überall an und ein –“
„Nun, da spielt dieser Graf Rebs eine lächerliche Rolle in der Gesellschaft, da wird er wohl überall verhöhnt und abgewiesen?“
„Ja, wenn die Damen dächten wie Sie, wertgeschätzter Herr! Aber so lächerlich dieser Gnome ist, so thöricht er sich überall gebärdet, so – oh Rebekka! Der Teufel hat die Weiberherzen gemacht.“
„Ei, ei!“ sagte ich, indem ich schnell Nro. 45 aufschloß und den Verzweifelnden hineinschob, „ei! lieber Herr Zwerner, wer wird so arge Beschuldigungen ausstoßen. Und auf Fräulein Rebekka, setzen Sie sich doch gefälligst aufs Sofa, auf das Fräulein sollte er auch Eindruck gemacht haben, dieser Gliedermann?“
„Ach, nicht er, nicht er; sie sieht, daß er lächerlich ist und geckenhaft, und doch kokettiert sie mit ihm; nicht mit ihm, sondern mit seinem Titel. Es schmeichelt ihr, einen Grafen in ihrer Loge zu sehen, oder auf der Promenade von ihm begrüßt zu werden, vielleicht wenn sie eine Christin wäre, hätte sie einen solidern Geschmack.“
„Wie, das Fräulein ist eine Jüdin?“
„Ja, es ist ein Judenfräulein; ihr Vater ist der reiche Simon in der neuen Judenstraße; das große gelbe Haus neben dem Herrn von Rothschild und eine Million hat er, das ist ausgemacht.“
„Sie haben einen soliden Geschmack; und wie ich aus dem Gespräch des Grafen bemerkt habe, können Sie sich einige Hoffnung machen?“
„Ja“, erwiderte er ärgerlich, „wenn nicht der Satan das Papierwesen erfunden hätte. So stehe ich immer zwischen Thüre und Angel. Glaube ich heute einen festen Preis, ein sicheres Vermögen zu haben, um vor Herrn Simon treten und sagen zu können: Herr! wir wollen ein kleines Geschäft machen miteinander, ich bin das Haus Zwerner und Komp. aus Dessau, stehe so und so, wollen Sie mir Ihre Tochter geben? Glaube ich nun so sprechen zu können, so läßt auf einmal der Teufel die Metalliques [421] um zwei, drei Prozent steigen, ich verliere, und meinem Schwiegerpapa, der daran gewinnt, steigt der Kamm um so viele Prozente höher, und an eine Verbindung ist dann nicht mehr zu denken.“
„Aber kann denn nicht der Fall eintreten, daß Sie gewinnen?“
„Ja, und dann bin ich so schlecht beraten wie zuvor. Herr Simon ist von der Gegenpartei. Gewinne ich nun durch das Sinken dieser oder jener Papiere, so verliert er ebensoviel, und dann ist nichts mit ihm anzufangen, denn er ist ein ausgemachter Narr und reif für das Tollhaus, wenn er verliert. Ach, und aus Rebekkchen, so gut sie sonst ist, guckt auf allen Seiten der jüdische Geldteufel heraus.“
„Wie, sollte es möglich sein, eine junge Dame sollte so sehr nach Geld sehen?“
„Da kennen Sie die Mädchen, wie sie heutzutage sind, schlecht“, erwiderte er seufzend. „Titel oder Geld, Geld oder Titel, das ist es, was sie wollen. Können sie sich durch einen Lieutenant zur ‚Gnädigen Frau‘ machen lassen, so ist er ihnen eben recht, hat ein Mann wie ich Geld, so wiegt dies den Adel zur Not auf, weil derselbe gewöhnlich keines hat.“
„Nun, ich denke aber, das Haus Zwerner und Komp. in Dessau hat Geld, woher also Ihr Zweifel an der Liebe des Fräuleins?“
„Ja, ja!“ sagte er etwas freundlicher, „wir haben Geld, und so viel, um immer mit Anstand um eine Tochter des Herrn Simon zu freien; aber Sie kennen die Frankfurter Mädchen nicht, werter Herr! Ist von einem angenehmen, liebenswürdigen jungen Mann die Rede, so fragen sie, ‚Wie steht er?‘ Steht er nun nicht nach allen Börsenregeln solid, so ist er in ihren Augen ein Subjekt, an das man nicht denken muß.“
„Und Rebekka denkt auch so?“
„Wie soll sie andere Empfindungen kennen lernen in der neuen Judenstraße? Ach! Ihre Neigung zu mir wechselt nach dem Kurs der Börsenhalle! Man weiß hier, daß ich mich verführen ließ, viele Metalliques und preußische Staatsschuldscheine zu kaufen. Mein Interesse geht mit dem der hohen Mächte und [422] mit dem Wohl Griechenlands Hand in Hand.[WS 1] Verliert die Pforte, so gewinne ich und werde ein reicher Mann; gewinnt der Großtürke und sein Reis-Efendi[9], so bin ich um zwanzigtausend Kaisergulden ärmer und nicht mehr würdig, um sie zu freien. Das weiß nun das liebenswürdige Geschöpf gar wohl, und ihr Herz ist geteilt zwischen mir und dem Vater. Bald möchte sie gerne, daß die Pforte das Ultimatum annehme, um mein Glück zu fördern; bald denkt sie wieder, wieviel ihr Vater durch diese Spekulation des Herrn von Metternich verlieren könnte, und wünscht dem Efendi soviel Verstand als möglich. Ich Unglücklicher!“
„Aber lieben Sie denn wirklich dieses edle Geschöpf?“ fragte ich.
Thränen traten ihm in die Augen, ein tiefer Seufzer stahl sich aus seiner Brust. „Wie sollte ich sie nicht lieben“, antwortete er, „bedenken Sie, fünfzigtausend Thaler Mitgift, und nach des Vaters Tod eine halbe Million, und wenn Gott den Israelchen zu sich nimmt, eine ganze. Und dabei ist sie vernünftig und liebenswürdig, hat so was Feines, Zartes, Orientalisches; ein schwarzes Auge voll Glut, eine kühn geschwungene Nase, frische Lippen, der Teint, wie ich ihn liebe, etwas dunkel und dennoch rötlich. Ha! und eine Figur! Herr! Wie sollte man ein solches Geschöpf nicht lieben!“
„Und haben Sie keinen Rival als den Gnomen, den Grafen Rebs?“
„O, einige Judenjünglinge, bedeutende Häuser, buhlen um sie, aber ihr Sinn steht nach einem soliden Christen; sie weiß, daß bei uns alles nobler und freier geht als bei ihrem Volk, und schämt sich, in guter Gesellschaft für eine Jüdin zu gelten. Daher hat sie sich auch den Frankfurter Dialekt ganz abgewöhnt und spricht preußisch; Sie sollten hören, wie schön es klingt, wenn sie sagt, ‚ißßt es möchlich?‘ oder: ‚es jienge wohl, aber es jeht nich‘.“
Der Seufzer gefiel mir; es ist ein eigenes, sonderbares Volk, diese jungen Herren vom Handelsstand. Sie bilden sich hinter ihrem Ladentisch eine eigene Welt von Ideen, die sie aus den trefflichsten Romanen der Leihbibliotheken sammeln; sie sehen die [423] Menschen, die Gesellschaft nie, es sei denn, wenn sie abends durch die Promenade gehen oder Sonntags, gekleidet wie Herren comme il faut, auf Kirchweihen oder sonstigen Bällen sich amüsieren. Reisen sie hernach, so dreht sich ihr Ideengang um ihre Musterkarte und die schöne Wirtin der nächsten Station, welche ihnen von einem Kameraden und Vorgänger empfohlen ist; oder um die Kellnerin des letzten Nachtlagers, die, wie sie glauben, noch lange um den „schönen, wohlgewachsenen, jungen Mann“ weinen wird. Sie haben irgendwo gelesen oder gehört, daß der Handelsstand gegenwärtig viel zu bedeuten habe; drum sprechen sie mit Ehrfurcht von sich und ihrem Wesen, und nie habe ich gefunden, daß einer von sich sagte: Kaufmann oder Bänderkrämer, sondern: „Ich reise in Geschäften des Hauses Bäuerlein oder Zwierlein“, und fragte man, in welchen Artikeln, so kann man unter zehn auf neun rechnen, sie ganz bescheiden antworten hören: Knöpfe, Haften und Haken, Tabak, Schnupf- und Rauch-, und dergleichen bedeutende Artikel. Haben sie nun gar im Städtchen ihrer Heimat ein „Schätzchen“ zurückgelassen, so darf man darauf rechnen, sie werden, wenn von Liebe die Rede ist, „ihre sehr interessante Geschichte“ erzählen, wie sie Fräulein Jettchen beim Mondschein kennen gelernt haben, sie werden die Brieftasche öffnen und unter hundert Empfehlungsbriefen, Annoncen von Gasthöfen etc. ein Seidenpapier hervorziehen, das ein „Pröbchen Haar von der Stirne der Geliebten“ enthält.
Glückliche Nomaden! Ihr allein seid noch heutzutage die fahrenden Ritter der Christenheit; und wenn es euch auch nicht zukommt, mit eingelegter Lanze à la Don Quixote eurer Jungfrauen Schönheit zu verteidigen, so richtet ihr doch in jeder Kneipe nicht weniger Verwüstung an, wie jener mannhafte Ritter, und seid überdies meist euer eigener Sancho Pansa an der Tafel.
Eine solche liebenswürdige Erziehung, aus Comptoirspekulationen, Romanen, Mondscheinliebe und Handelsreisen zusammengesetzt, schien nun auch mein Nachbar Seufzer genossen zu haben. Nur etwas fehlte ihm, er war zu ehrlich. Wie leicht wäre es für einen Mann von Zweimalhunderttausend gewesen, Kuriere nicht von Höchst oder von Langen, sondern von Wien, sogar mit [424] authentischen Nachrichten kommen zu lassen, um seinem Glücke aufzuhelfen. Ist denn auf der Erde nicht alles um Geld feil? Und wenn Rothschild mit Geld etwas machen kann, warum sollte es ein anderer nicht auch können, wenn sein Geld ebensogut ist, als das des großen Makkabäers?
Zwar ein solcher Sperling macht keinen Sommer; eine solche Handelsseele mehr oder weniger mein, kann mir nicht nützen; doch die Nüancen ergötzen mich, jenes bunte Farbenspiel, bis ein solcher Hecht ins Netz geht, und darum beschloß ich, ihm zu nützen, ihn zu fangen.
„Ich bin“, sagte ich zu ihm, „ich bin selbst einigermaßen Papierspekulant, daher werden Sie mir vergeben, wenn ich Ihre bisherige Verfahrungsart etwas sonderbar finde.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte er verwundert. „Als ich in Dessau war, ließ ich mir nicht jeden Posttag den Kurszettel schicken? Und hier, gehe ich nicht jeden Tag in die Börsenhalle? Gehe ich nicht jeden Tag in die neue Judenstraße, um das Neueste zu erfragen?“
„Das ist es nicht, was ich meine, ein Genie wie Sie, Herr Zwerner (er verbeugte sich lächelnd), das heißt, ein Mann mit diesen Mitteln, der etwas wagen will, muß selbst eingreifen in den Lauf der Zeiten.“
„Aber mein Gott“, rief er verwunderungsvoll, „das kann ja jetzt niemand als der Rothschild, der Reis-Efendi und der Herr von Metternich; wie meinen Sie denn?“
„Über Ihr Glück, Sie geben es selbst zu, kann ein einziger Tag, eine einzige Stunde entscheiden; zum Beispiel, wenn die Pforte das Ultimatum verwirft, die Nachricht schnell hieher kömmt, kann eine Krisis sich bilden, die Sie stürzt. Ebenso im Gegenteil, können Sie durch eine solche Nachricht sehr gewinnen, weil dann Ihre Papiere steigen?“
„Gewiß, gewiß“, seufzete er; „aber ich sehe nur noch nicht recht ein –“
„Nur Geduld; wer gibt nun diese Nachricht, wer bekommt sie? Das Ministerium in Wien oder ein guter Freund, der sehr nahe hin gehorcht und dem großen Portier ein Stück Geld in [425] die Hand gedrückt hat, läßt noch in der Nacht einen Kurier aufsitzen; der reitet und fährt und fliegt nach Frankfurt und bringt die Depesche, wem?“
„Ach, dem Glücklichsten, dem Vornehmsten!“
„Nein, dem, der am besten zahlt. Einen solchen Kurier kann ich Ihnen um Geld auch verschaffen, ich habe Konnexionen in Wien. Man kann dort mancherlei erfahren, ohne gerade der österreichische Beobachter zu sein; kurz, wir lassen einen Brief mit der Nachricht einer wichtigen Krisis, eines bedeutenden Vorfalls, kommen –“
„Etwa, der Sultan habe einen Schlag bekommen, oder der Kaiser von Rußland sei plötzlich –“
„Nichts davon, das ist zu wahrscheinlich, als daß es die Leute glauben; Unwahrscheinliches, Überraschendes muß auf der Börse wirken.“
„Also, etwa der Fürst von M. sei ein Türke geworden; habe dem Islam geschworen?“
„Ich sage Ihnen ja, nichts Wahrscheinliches; nein, geradezu, die Pforte habe das Ultimatum angenommen. Bekommen Sie nun diese Nachricht mit allem möglichen geheimnisvollen Wesen, lassen Sie den Kurier sogleich ein paar Stationen weiterreisen, lassen Sie den Brief einige Geheimniskrämer lesen, gehen kurze Zeit darauf in die Börsenhalle, so kann es nicht fehlen, Sie sind ein wichtiger Mann und setzen Ihre Papiere mit Gewinn ab.“
„Aber, lieber Herr“, erwiderte der Kaufmann von Dessau kläglich, „das wäre ja denn doch erlogen, wie man zu sagen pflegt, eine Sünde für einen rechtlichen Mann, bedenken Sie, ein Kaufmann muß im Geruch von Ehrlichkeit stehen, will er Kredit haben.“
„Ehrlichkeit, Possen! Geld, Geld, das ist es, wornach er riechen muß, und nicht nach Ehrlichkeit. Und was nennen Sie am Ende Ehrlichkeit? Ob Sie Ihre Kunden bei einem Pfunde Kaffee betrügen, ob Sie einem alten Weib ihr Lot Schnupftabak zu leicht wiegen, oder ob Sie dasselbe Experiment im großen vornehmen, das ist am Ende dasselbe.“
[426] „Ei, verzeihen Sie, da muß ich denn doch bitten; an der Prise, die das Weib zu wenig bekömmt, stirbt sie nicht, wie man zu sagen pflegt, aber wenn ich einen solchen Kurier kommen lasse, so kann er durch seine falsche Nachricht ein Nachrichter der ganzen Börse werden; viele Häuser können fallieren, andere wanken und im Kredit verlieren, und das wäre dann meine Schuld!“
„So, mein Herr?“ sagte ich mit mitleidigem Lächeln zu der schwachen Seele, „so, Sie schämen sich nicht, die Moral, das Herrlichste, was man auf Erden hat, so zu verhunzen? Also wegen der Folgen wollen Sie nicht? Nicht vor dem Beginnen an sich, als einem unmoralischen, beben Sie zurück? Wer den Anfang einer That nicht scheut, darf auch ihr Ende nicht scheuen, ohne für eine kleine Seele zu gelten. Oder glauben Sie, eine Rebekka könne man dadurch verdienen, daß man im weißen Schwanen wohnt und seufzt, daß man zur Tafel geht und mit dem Kaninchen, dem Grafen Rebs, grollt?“
„Aber, mein Herr“, rief der Seufzer etwas pikiert, „ich weiß gar nicht, was Sie mir als einem ganz Fremden für eine Teilnahme erzeigen; ich weiß gar nicht, wie ich das nehmen soll?“
„Mein Herr, das haben Sie sich selbst zuzuschreiben; Sie haben mir Ihre Lage entdeckt und mich gleichsam um Rat gefragt, daher meine Antwort. Übrigens bin ich ein Mann, der reist, um überall das Treffliche und Erhabene kennen zu lernen. In Ihnen glaubte ich gleich auf den ersten Anblick solches gefunden zu haben; –“
„Bitte recht sehr, eine so ganz gewöhnliche Physiognomie wie die meine –“
„Das können Sie nicht so beurteilen wie ein anderer; auf Ihrer Stirne thront etwas Freies, Mutiges, um Ihren Mund weht ein anziehender Geist –“
„Finden Sie das wirklich“, rief er, indem er lächelnd meine Hand faßte und verstohlen nach dem Spiegel blickte; „es ist wahr, man hat mir schon dergleichen gesagt, und in Stuttgart hat man mich sogar versichert, ich sei dem berühmten Dannecker[10] auf der [427] Straße aufgefallen, und er sei eigens deswegen einigemal in den König von England gekommen, um von mir etwas für seinen Johannes abzusehen.“
„Nun sehen Sie, wie muß es nun einen Mann, wie ich bin, überraschen, so wenig Mut, so wenig Entschluß hinter dieser freien Stirne, diesem mutigen Auge zu finden!“
„Ach, Sie nehmen es auch zu strenge; ich habe ja Ihren Vorschlag durchaus nicht verworfen, nur einiges Bedenken, einige kleine Zweifel stiegen in mir auf, und – nun Sie haben wahrlich nicht unrecht, ich fühle einen gewissen Mut, eine gewisse Freiheit in mir, es ist ein gewisses Etwas, ja – so gut es ein anderer thun kann, will ich es auch versuchen. Es sei, wie Sie sagten, ich will es daranrücken und einen Kurier kommen lassen; wir wollen die Metalliques steigern!“
Der einzige Zweifel, der den seufzenden Dessauer noch quälte, war die Furcht, den Vater seiner Geliebten in bedeutenden Verlust zu stürzen, wenn er seine Operation nach meinem Plane einrichte. Doch auch dafür wußte ich ein gutes, sehr einfaches Mittel. Er mußte den Herrn Simon in der neuen Judenstraße auf seine Seite bringen, mußte ihm bedeutende Winke von der nahenden Krisis geben; entweder nahm dann der Jude an dem ganzen Unternehmen unbewußt teil und gewann zugleich mit dem Dessauer, oder er war wenigstens gewarnt und mußte einige Achtung vor einem Mann bekommen, der so genau die politischen Wendungen zu berechnen wußte, der seine Kombinationen so geschickt zu machen verstand.
Dem Kaufmann leuchtete dies ein. Er kam von selbst auf den Gedanken, noch an diesem Tage mit dem alten Simon zu sprechen, und lud mich ein, mit ihm nach Bornheim zu fahren, wo der Schabbes heute die noble Welt des alten Judenquartiers, der neuen Judenstraße, überhaupt alle Stämme Israels versammelt habe.
[428] Wir fuhren hinaus; der Seufzer schien ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Sein trübseliges Gesicht leuchtete freundlich vom Glanze der Hoffnung, sein Auge hob sich freier, um seine Stirne, seinen Mund war jede Melancholie verschwunden, sein großer runder Kopf steht nicht mehr zwischen den Schultern, er trägt ihn freier, erhabener, als wollte er sagen: „Seht ihr Frankfurter und Bornheimer, ich bin es, das Haus Zwerner und Komp. aus Dessau, nächstens eine bedeutende Person an der Börse und, wenn es gut geht, Bräutigam der schönen Rebekka Simon in der neuen Judenstraße.“
Aus dem Garten des goldenen Löwen in Bornheim tönten uns die zitternden Klänge von Harfen und Guitarren und das Geigen verstimmter Violinen entgegen; das Volk Gottes ließ sich vormusizieren im Freien, wie einst ihr König Saul, wenn er übler Laune war. Wir traten ein; da saßen sie, die Söhne und Töchter Abrahams, Isaaks und Jakobs, mit funkelnden Augen, kühn gebogenen Nasen, fein geschnittenen Gesichtern, wie aus Einer Form geprägt, da saßen sie vergnügt und fröhlich plaudernd und tranken Champagner aus saurem Wein, Zucker und Mineralwasser zubereitet, da saßen sie in malerischen Gruppen unter den Bäumen, und der Garten war anzuschauen, als wäre er das gelobte Land Kanaan, das der Prophet vom Berge gesehen und seinem Volk verheißen hatte. Wie sich doch die Zeiten ändern durch die Aufklärung und das Geld!
Es waren dies dieselben Menschen, die noch vor dreißig Jahren keinen Fuß auf den breiten Weg der Promenade setzen durften, sondern bescheiden den Nebenweg gingen; dieselben, die den Hut abziehen mußten, wenn man ihnen zurief: „Jude, sei artig, mach dein Kompliment!“ Dieselben, die von dem Bürgermeister und dem hohen Rat der freien Stadt Frankfurt jede Nacht eingepfercht wurden in ihr schmutziges Quartier. Und wie so ganz anders waren sie jetzt anzuschauen. Überladen mit Putz und köstlichen Steinen saßen die Frauen und Judenfräulein; die Männer, konnten sie auch nicht die spitzigen Ellbogen und die vorgebogenen Knie ihres Volkes verleugnen, suchten sie auch umsonst den ruhigen, soliden Anstand eines Kaufherrn von der Zeile oder der [429] Million zu kopieren, die Männer hatten sich sonntäglich und schön angethan, ließen schwere goldene Ketten über die Brust und den Magen herabhängen, streckten alle zehn Finger, mit blitzenden Solitärs besteckt, von sich, als wollten sie zu verstehen geben: „Ist das nicht was ganz Solides? Sind wir nicht das auserwählte Volk? Wer hat denn alles Geld, gemünzt und in Barren, als wir? Wem ist Gott und Welt, Kaiser und König schuldig, wem anders als uns?“
„Dort sitzt sie, die Taube von Juda, dort sitzt sie, die Gazelle des Morgens“, rief der Seufzer in poetischer Ekstase, und zerrte mich am Arm; „schauen Sie dort, unter dem Zelt von hölzernem Gitterwerk, der mit dem runden Leib, der langen Nase und den grauen Löckchen am Ohr ist der Vater, Herr Simon aus der neuen Judenstraße, die dicke Frau rechts mit den schwarzseidenen Locken und dem rotbraunen Gesicht ist die Tante; eine fatale Verwandtschaft, aber man weiß sich in Zukunft zu separieren nach und nach.“
„Aber wo ist denn die Gazelle, die Taube, ich sehe sie noch nicht –“
„Geduld, noch bedeckt die neidische Wolke, die Tante, das Gestirn des Aufgangs; fassen wir ein Herz, treten wir näher. Doch eben fällt mir bei, ich muß Sie vorstellen; wie nenne ich Sie, mein lieber Freund und Ratgeber?“
„Ich bin der k. k. Legationsrat Schmälzchen aus Wien“, gab ich ihm zur Antwort, „reise in Geschäften meines Hofes nach Mainz.“
„Ah“, rief er, nachdem er schon bei dem kaiserlich, königlich an den Hut gegriffen hatte, „Le–Legationsrat, wirklicher, und nicht bloß Titular ums liebe Geld? Das freut mich, Dero werte Bekanntschaft zu machen. Hätte es mir gleich vorstellen können, Sie haben einen gar tiefen Blick in die Staatsaffairen. Wahrhaftig, hätte es Ihnen gleich ansehen können; haben so etwas Diplomatisches, Kabinettsmäßiges in Dero Visage.“
„Bitte, bitte, keine Komplimente. Gehen wir zum Juden, ich hoffe Ihnen nützlich sein zu können.“
[430] Wir traten zu dem Zelt aus hölzernem Gitterwerk. Mein Begleiter errötete tiefer, je näher er trat; seine Wangen liefen vom Hellroten ins Dunkelrote, von da ins bläulich Schattierte an, und als wir vor dem Herrn Simon standen, war er anzusehen wie eine schöne dunkelrote Herzkirsche. Die Tante, „das neidische Gewölk“, erhob sich, und nun ward auch das Gestirn des Morgens sichtbar. Das Schickselchen, die Kalle, ich meine Rebekka, des Juden Tochter, war nicht übel. – Sie hatte, um mich wie Graf Rebs auszudrücken, viel Rasse, und ihre Augen konnten den Seufzer wohl bis aufs Herz durchbrennen, obgleich er zur Vorsicht und aus Eleganz drei Westen angethan hatte.
Nachdem mich mein Freund, der als solides Haus aus Dessau bei der Familie wohl gelitten schien, vorgestellt hatte, machte er sich an die Taube von Juda und überließ es mir, den alten Simon zu unterhalten. Mein Titel schien ihm einigen Respekt eingeflößt zu haben. „Haben da ein schönes Fach erwählt, Herr von Schmelzlein“, bemerkte er wohlgefällig lächelnd; „habe immer eine Inklination für die Diplomatik gehabt, aber die Verhältnisse wollten es nicht, daß ich ein Gesandter oder dergleichen wurde. Man weiß da gleich alles aus der ersten Hand; man kann viel komplizieren und dergleichen; was ließen sich da für Geschäfte machen!“
„Sie haben recht, mein Herr! Man lernt da die verwickeltsten Verhältnisse kennen. Allein aber schauens, das Ding hat auch seinen Haken. Man weiß oft eigentlich zu viel, es geht einem wie ein Rad im Kopf umher.“
Der Jude rückte näher. Mit einem Wiener Diplomaten, mochte er denken, nehme ich es auch noch auf. „Zeviel?“ sagte er, „ich für meinen Teil kann nie zeviel wissen. Was die Papiere betrifft, da kann ein Fingerzeig, ein halber, ein Viertelsgedanke oft mehr thun als eine lange Rede im Frankfurter Museum. Nu, Sie stehen solide in Wien. Ihr Staat ist ein gemachtes Haus trotz einem; was der Herr von M. auf dem Flageolett[11] vorpfeift, das singen die Staren nach.“
[431] „Die Staren vielleicht, aber nicht die Zaren!“
„Gut, très bien bon! gut gegeben, hi! hi! hi! à propos, wissen Sie Neues aus daher?“ Er rückte mir schon näher und wurde verfänglicher.
„Herr Simon“, sagte ich mit Artigkeit ausweichend, „Sie wissen, es gibt Fälle –“
„Wie!“ rief er erschrocken, „Gotts Wunder! Neue Fallissements, waas! Ist nicht die Krisis vom letzten Winter schon ein Strafgericht des Herrn gewesen? Waas?“
„Um Jottes willen, Papa!“ schrie Rebekka, indem sie den Arm des zärtlichen Seufzers zurückstieß und aufsprang, „Doch kein Unglück? Mein Jott! Doch nich hier in Frankfort?“
„Beruhigen Sie sich doch, gnädiges Fräulein, ich sprach mit Ihrem Herrn Papa über Politik und rechnete einige Fälle auf, und er hat mich holter nicht recht verstanden.“
Sie preßte mit einem zärtlichen, hinsterbenden Blick auf den erschrockenen Dessauer ihre Hand auf das Herz und atmete tief. „Nee! was ich erschrocken bin jeworden, da machen Sie sich keenen Bejriff von!“ lispelte sie. „Mein Herz pocht schrecklich! Na, erzählen Sie man weiter; was sachte der Graf? Sie hätten ins Parterre jestanden und wären melancholisch jewesen?“
Das Geflüster der Liebenden wurde leiser und leiser; die Blicke des Seufzers wurden feuriger, er zog, als „das Gewölke“ ein wenig im Garten auf und ab ging, die niedliche Hand der Jüdin an die Lippen und gestand ihr, wenn ich anders recht gehört habe, daß nächstens die Metalliques und die … um drei Prozente steigen werden.
„Herr von Schmälzlein!“ sagte der Alte, nachdem er einigen koscheren Wein zu sich genommen, „Sie haben mir da einen Schreck in den Leib gejagt, den ich nie vergesse. Fallen, Fälle, wie kann man auch nur dies Wort in Gesellschaft aussprechen!! Nun, Sie wollten sagen?“
„Es gibt Affairen“, fuhr ich fort, „wo der Diplomat schweigen muß. Über das Nähere meiner Sendung z. B. werden Sie selbst mich nicht befragen wollen; nur so viel kann ich Ihnen aber, mein Herr Simon, im engsten Vertrauen! –“
[432] „Der Gott meiner Väter thue mir dies und das!“ rief er feierlich; „so ich nur meinem Nachbar oder seinem Weib, oder seinem Sohn, oder seiner Tochter das Geringste –“
„Schon gut! Ich traue auf Ihre Diskretion; – kurz, so viel kann ich Ihnen sagen, daß nächstens eine bedeutende Krisis eintreten wird; ganz zu allernächst. Für oder gegen wen darf ich nicht sagen; doch Herr von Zwerner –“
„Von Zwerner?“
„Nun, ich nenne ihn so, man weiß ja nicht, was geschieht; an ihn war ich besonders empfohlen vom Fürsten, und ich glaube, wenn ich anders richtig schließe, er muß in den nächsten Tagen Kuriere aus Wien bekommen.“
„Der Zwerner?! Ei, ei! Wer hätte das gedacht! Zwar ich sagte immer, hinter dem steckt etwas; geht so tiefsinnig, kalkulierend umher, hat wahrscheinlich nicht umsonst so unsinnig viele Metalliques gekauft; ei, sehe doch einer! Hält sich Kuriere mit Wien! Und wenn man fragen darf, es handelt sich wohl um das Ultimatum mit der Pforte?“
„Ja.“
„Ei, darf man fragen? Wie ist es ausgefallen? Hat er eingewilligt, der Efendi? Hat er?“
„Mein Herr Simon, ich bitte –“
„O, ich verstehe, ich verstehe, Sie wollen es nicht sagen, aus Politik, aus Politik, aber er hat, er hat?“
„Trauen Sie auf nichts, ich warne Sie, auf keine Nachricht trauen Sie als auf authentische. Der Herr dort weiß vielleicht mancherlei und hat nicht das drückende Stillschweigen eines Diplomaten zu beobachten.“
„Ei, hätte ich das in meinem Leben gedacht, Kuriere von Wien, und der Zwerner aus Dessau; zwar er ist ein solides Haus, das ist keine Frage, aber denn doch nicht so außerordentlich. Ob sich wohl was mit ihm machen ließe?“ setzte er tiefer nachsinnend hinzu, indem er seine Nase herunter gegen den Mund bog und das lange Kinn aufwärts drückte, daß sich diese beiden reichen Glieder begegneten und küßten. Dies war der Moment, wo er anbeißen mußte, denn er nagte schon am Köder. Ich gab dem [433] Seufzer aus Dessau einen Wink, sich dem Papa zu nähern, und nahm seinen Platz bei der Gazelle des Morgenlandes ein.
Wie war sie graziös, das heißt geziert, wie war sie artig, nämlich kokett, wie war sie naiv, andere hätten es lüstern genannt.
„Ich liebe die Tiplomattiker“, sagte sie unter anderem mit feinem Lächeln und vielsagendem Blick; „es is so etwas Feines, Jewandtes in ihren Manieren; man sieht ihnen den Mann von jutem Jeschmack schon von die Ferne an, und wie angenehm riechen sie nach Eau de Portugal!“
„O gewiß, auch nach Fleur d’Orange und dergleichen. Wie nehmen sich denn die hiesigen Diplomaten? kommen sie viel unter die Leute?“
„Nun, sehen Sie, wie das nun jeht, die älteren Herren haben sechs bis sieben Monate Ferien und reisen umher. Die jüngeren aber, die indessen hier bleiben und die Geschäfte treiben, sie müssen Pässe visieren, sie müssen Zeitungen lesen, ob nichts Verfängliches drein is, sie müssen das Papier ordentlich zusammenlegen für die Sitzungen; nun, was nun solche junge Herren Tiblomen sind, das sein janz scharmante Leute, wohnen in die Chambres garnies, essen Tables d’hôte, jehen auf die Promenade schön ausstaffiert comme il faut, haben zwar jewöhnlich kein Jeld nich, aber desto mehr Ansehen.“
„Da haben Sie einen herrlichen Shawl umgelegt, mein Fräulein, ist er wohl echt?“
„Ah, jehen Sie doch! Meinen Sie, ich werde etwas anderes anziehen, als was nicht janz echt ist? Der Shawl hat mir jekostet achthundert Gulden, die ich in die Rothschildischen Los gewunnen. Und sehen Sie, dieses Kollier hier kostet sechzehnhundert Gulden, und dieser Ring zweitausend; ja, man jeht sehr echt in Frankfort, das heißt, Leute von den jutem Ton wie unsereine.“
„Ach, was haben Sie doch für eine schöne, gebildete Sprache, mein Fräulein! Wurden Sie etwa in Berlin erzogen?“
[434] „Finden Sie das och?“ erwiderte sie anmutig lächelnd. „Ja, man hat mir schon oft das Kompliment vorjemacht. Nee, in Berlin drein war ich nie, ich bin hier erzogen worden; aber es macht, ich lese viel und bilde auf diese Art meinen Jeist und mein Orkan aus.“
„Was lesen Sie? wenn man fragen darf.“
„Nu, Bellettres, Bücher von die schöne Jeister; ich bin abbonniert bei Herrn Döring in der Sandjasse, nächst der Weißen Schlange, und der verproviantiert mich mit Almanachs und Romancher.“
„Lesen Sie Goethe, Schiller, Tieck und dergleichen?“
„Nee, das thu ich nicht. Diese Herren machen schlechte Jeschäfte in Frankfort; es will sie keen Mensch, sie sind zu studiert, nich natürlich jenug. Nee, den Jöthe lese ich nie wieder! Das is was Langweiliges. Und seine Wohlverwandtschaften! Ich werde rot, wenn ich nur daran denke; wissen Sie, die Szene in der Nacht, wo der Baron zu die Baronin, – ach, man kann’s jar nicht sagen, und jedes stellt sich vor –“
„Ich erinnere mich, ich erinnere mich; aber es liegt gerade in diesem Gedanken eine erstaunliche Tiefe – ein Chaos von Möglichkeiten –“
„Nu, kurz, den mag ich nich; aber wer mein Liebling ist, das is der Clauren. Nee, dieses Leben, diese Farben, dieses Studium des Herzens und namentlich des weiblichen Jemüts, ach, es is etwas Herrliches. Und dabei so natürlich! Wenn mir die andern alle vorkommen, wie schwere vierhändige Sonaten mit tiefen Baßpartien, mit zierlichen Solos, mit Trillern, die kein Mensch nicht verstehen und spielen kann, so wie der Mozart, der Haydn, so kommt mir der Clauren akkurat so vor wie ein anjenehmer Walzer, wie ein Hopswalzer oder Galopp. Ach, das Tanzen kommt einem in die Beene, wenn man ihn liest; es ist etwas Herrliches!“
„Fahren Sie fort, wie gerne höre ich Ihnen zu. Auch ich liebe diesen Schriftsteller über alles. Diese andern, besonders ein Schiller, wie wenig hat er für das Vergnügen der Menschheit gethan. Man sollte meinen, er wolle moralische Vorlesungen [435] halten; er ist, um mich eines anderen Gleichnisses zu bedienen, schwerer, dicker Burgunder, der mehr melancholisch als heiter macht. Aber dieser Clauren! Er kommt mir vor wie Champagner und zwar wie unechter, den man aus Birnen zubereitet; der echte verdunstet gleich, aber dieser unechte, setzt er auch im Grunde viel Hefen an, so ‚brüsselt‘ er doch mit allerliebsten tanzenden Bläschen auf und ab eine Stunde lang, er berauscht, er macht die Sinne rege, er ist der wahre Lebenswein.“
„O sehen Sie, da kann ich Ihnen ja gleich unseren Clauren vormachen mit Bornheimer Champagner. Man nimmt fremden Wein, so etwa die Hälfte, jießt Mineralwasser dazu, und nun jeben Sie acht; ich werfe Zucker in das Janze, und unser Clauren ist fertig. Sehen Sie, wie es siedet, wie es sprudelt und brüsselt, wie anjenehm schmeckt es nicht, und ist ein wohlfeiles Jetränke. Nee, ich muß sagen, er ist mein Liebling. Und das Anjenehmste is das, man kann ihn so lesen, ohne viel dabei zu denken, man erlebt es eigentlich, es is, meine ich, mehr der Körper, der ins Buch schaut, als der Jeist. Und wie angenehm läßt es sich dabei einschlafen!“
„Ich glaube gar, ihr seid in einem gelehrten Gespräch begriffen“, rief lachend der alte Jude, indem er, den Desaster an der Hand, zu uns trat. „Nicht wahr, Herr Legationsrat, ich habe da ein gelehrtes Ding zur Tochter? Sie spricht auch wie ein Buch und liest den ganzen Tag.“
„Nun, und Sie, Papa, und Herr Zwerner haben wohl tiefe Handelsjeheimnisse abjemacht? Darf man auch davon hören; wie werden sie in der nächsten Woche stehen, die Metalliques? Recht hoch? Hab’ ich es erraten?“
„Stille, Kind, stille! Kein Wort davon! Muß alles geheimgehalten werden! Muß Einen großen Schlag geben. Ist ein Goldmännchen, der Herr von Zwerner. Setzen Sie sich zu ihr hin und klären ihr alles auf. Sie ist auf diesem Punkt ein verständiges Kind und weiß zu rechnen, die Rebekkchen.“
Was schlich denn jetzt durch das Gras? Was hüpfte auf zierlichen Beinchen heran? Was lächelte schon von weitem so freundlich nach der Kalle des Herrn Simon? War es nicht das Gräfchen [436] Rebs, das alte, freundliche Kaninchen, das in alle Damen verliebt ist und alle bezaubert? Er war es, er kam herangeschwänzelt.
Er schnaufte und ächzte, als er heran war, und doch konnte er auch in dem Zustand höchster Erschöpfung, in welchem er zu sein schien, sein liebliches, süßes Lächeln nicht unterdrücken. Er warf sich ermattet neben Rebekka in einen Sessel, streckte die dünnen Beinchen, so mit zierlichen Spörnchen zum Spazierengehen beschlagen, heftete den matten, sterbenden Blick auf die schöne Jüdin und sprach: „Habe die Ehre, vergnügten Abend zu wünschen. Ich sterbe, mit mir geht’s aus!“
„Mein Jott! Herr Israels! Graf Rebs, was haben Sie doch? Ihre Wangen sind janz einjeschnurrt, Ihre Augen bleiben stehen. Er antwortet nicht! Herr Tipplomat, Eau de Cologne! Haben Sie keines bei sich in die Tasche?“
So rief das schöne Judenkind und beschäftigte sich um den Ohnmächtigen mit zarter Sorgfalt. Da ich kein Eau de Cologne bei mir trug, so begann sie etwas weniges verzweifeln zu wollen und verlangte von dem Dessauer, er solle ihm Tabaksrauch in die Nase blasen. Doch der Vater wußte besseren Rat: „Da geht einer“, rief er freudig, „da geht ein scharmanter junger Herr, ist in Kondition nicht weit von uns, der trägt beständig etzliches Kölner Wasser in seiner Rocktasche!“
Wie ein Pfeil schoß er auf den jungen Mann zu und war, als er ihm mit schrecklichen Gebärden das Eau de Cologne-Fläschchen abforderte, anzusehen wie Sir John Falstaff[12], als er die Krämer beraubt. Maria Farinas[13] Lebenstropfen brachten das arme Kaninchen bald wieder zu sich; er schlug die Augen auf, seufzete tief und lächelte. „Mich gehorsamst zu bedanken“, lispelte er mit zitternder Stimme, „für die gütigst geleistete Hilfe. War mir aber recht elend zu Mut; fast als hätte ich mehr Bier getrunken als dienlich.“
„Sind Sie oft solchen Zufällen unterworfen?“ fragte Rebekka, ihn etwas mißfällig betrachtend.
[437] „Mitnichten und im Gegenteil“, erwiderte er, indem er den Rücken zierlich wendete und drehte, mit den Schultern über die Brust herausfuhr und mannhaft mit den Spörnchen klirrte; „mitnichten, habe sonsten eine überaus starke Konstitution. Aber der dicke Pfarrer, der dicke Pfarrer …“
Die Juden schwiegen, und Rebekka schlug die Augen nieder wie immer, wenn von christlichen Pfarrern oder Zeremonien oder auch von Schweinfleisch in ihrer Nähe gesprochen wurde. Der Seufzer aber, dem die Erscheinung des Grafen etwas lästig schien, fragte ihn ziemlich boshaft, ob er etwa im Goldenen Brunnen gewesen, sich allda etwas betrunken und nachher mit dem ehrsamen Pastor Münster Streit und kirchlichen Skandal angefangen nach seiner Gewohnheit.
„Nach meiner Gewohnheit!“ rief das Kaninchen erschrocken. „Ich ein Unruhstifter oder Säufer, ich in dem Goldenen Brunnen, ich, der ich nur die allernobelsten Hotels, den Pariser und den Englischen Hof, den Weidenbusch, in welchem ich logiere, und den Weißen Schwanen mit meinem Besuch beehre? Nein! er ist mir begegnet der Pfarrer, und als er an mir vorbeiging, sah er mich mit schrecklichen Augen an und sagte: ‚Das ist auch so ein Stein des Anstoßes, auch so ein Mystiker.‘ – ‚Herr Pfarrer‘, sagte ich, ‚guten Abend, aber ein Mystiker bin ich nicht und will auch für keinen gelten, am wenigsten öffentlich, auf der Chaussee nach Bornheim.‘ – ‚So, Sie wollen keiner sein?‘ antwortete er, indem er näher auf mich zutrat, so daß sein Bauch und das Cachet seiner Uhr mir gerade auf die Brust zu sitzen kamen und mich heftig drückten; ‚wollen keiner sein? Warum kommen Sie denn nicht mehr ins Museum? Warum haben Sie an öffentlichen Wirtstafeln, im Pariser, Weiden und anderen Höfen geschimpft über mich, daß ich ein gewisses Gedicht von Langbein[14] in besagter Gesellschaft vorgelesen?‘ Es ist wahr, ich hatte mich ziemlich stark darüber ausgeprochen, aber nicht aus Mystizismus, sondern weil ich glaubte, es könne zarte Damenohren und weiche Gemüter unangenehm berühren, jenes Gedicht. Aber er nahm keine [438] Entschuldigung an; ich schlüpfte ihm unter dem Bauch weg und wollte schnell weitergehen, aber er setzte mir mit weiten Schritten nach, ging neben mir her und beschuldigte mich, seinem Gegenpart, dem mystischen Pfarrer, zu einer reichen Frau verholfen zu haben, er behauptete auch, daß ich mich jeden Morgen statt des Frühstücks magnetisieren lasse und dergleichen; und erst hier an der Gartenthüre ließ er mit einer mürrischen Reverenz von mir ab.“
„Aber was hat denn dies alles zu bedeuten?“ fragte ich; „halten denn die Pfarrer hier auf der Landstraße Kirche, wie es Sitte war zur Zeit der Apostel?“
„In Frankfurt“, belehrte mich der Kaufmann aus Dessau, „in Frankfurt ist gegenwärtig ein großer Krieg zwischen den Pfarrern, und ihre Partien befehden sich ebenfalls. Mystiker und Rationalisten schelten sie sich hin und her, der eine wirft dem andern vor, er predige nur Moral, der andere entgegnet, sein Gegner rede tiefen Unsinn. Nicht nur in den Kirchen, auf den Kanzeln, sondern auch in den Weinhäusern und Trinkstuben, auf Chausseen und Kasinos wird gekämpft, und so konnte es leicht geschehen, daß der Herr Graf einem Eiferer der Vernunft in die Hände fiel. – Doch wie? Herr Graf, wenn ich nicht irre, so fährt dort der Lord und seine Nichte; nicht so? Und sie halten vor dem Garten, sie steigen aus?“
„Ah, sie hat mich bemerkt“, rief das Kaninchen sehr freundlich, „sie schaut schon herüber und wedelt, wenn ich nicht irre, mit dem Taschentuch mir zu. Verzeihen allerseits, daß ich mich entferne; Miß Mary hat ein Auge auf mich geworfen, und Sie wissen selbst, bei solchen Affairen –“
Er schlüpfte unter diesen Worten aus dem Zelt und eilte mit zierlichen Sprünglein zu der Gartenpforte, wo er in dem Drang seines Herzens die junge Dame auf den glacierten Handschuh küßte. Es mochte ihr übrigens dieses Zeichen seiner Verehrung überaus komisch vorkommen, denn ihr Lachen drang bis zu uns herüber, und mit tiefem Baß begleitete sie der Lord, indem er dem Kaninchen das Pfötchen schüttelte.
[439] Das Gewölk, die Tante Simon, kam jetzt zurück und beklagte sich, daß es schon etwas kühl werde. Der Jude ließ daher seinen schönen Wagen vorfahren und verließ mit den Seinigen den Garten. Der Seufzer hatte das Glück, Rebekkchen in den Wagen heben zu dürfen, und kam mit ganz verklärtem Gesicht zurück. Sie hatte ihm unter der Thüre noch die Hand gedrückt und gestanden, daß sie sich diesen Nachmittag „janz fürtrefflich amüsiert habe“, und der Alte hatte ihn eingeladen, morgen und alle Tage den Abend in seinem Hause zuzubringen.
Ich könnte dir, geneigter Leser meiner Memoiren, vieles Ergötzliche und Interessante erzählen, was ich in der Freien Stadt Frankfurt erlebte; nicht von früheren Zeiten her, wo ich oft hinter den Stühlen der Kurfürsten stand und den Kaiser wählen half, wo ich so oft unter guten Freunden im Römer und beim Römer saß, wenn das neue Haupt des vielgliedrigen Leibes, Deutsches Reich genannt, mit der Krone geschmückt worden war. Nein, von den heutigen Tagen könnte ich dir viel erzählen, von dem tiefen, geheimnisvollen Wesen der Diplomatie, von dem herrlichen Junitag, in welchem es niemals Abend oder Nacht wird, ich meine den deutschen Bundestag, von dem herrlichen Treiben und Blühen des Mystizismus, und wie ich das Feuer anschürte zwischen seinen Anhängern und den Rationalisten, und wie es im Wirtshaus zum Goldenen Brunnen einigemal zu bedeutenden Raufereien kam zwischen beiden Partien, daß heißt – nur mit schneidenden Zungen und stechenden Blicken; ich könnte dir erzählen, wie ich in einem Institut, woselbst man junge Fräulein für die Welt zustutzt, nützlichen Unterricht gab im Guitarrespielen und anderen Kleinigkeiten, so eine junge Dame kennen muß, wenn sie in die Welt tritt. Ich könnte dir erzählen von jener Straße, Million genannt, wo meine speziellsten Freunde wohnen, deren der Geringste über Millionen gebietet.
Doch ich schweige von diesem allem, weil ich mir vorgenommen, dir einen kleinen Abriß zu geben von der Art, wie ich den [440] ehrlichen, seufzenden Sohn Merkurs aus Dessau zu einem Teufelskind machte. Der erste Schritt vom ehrlichen Mann zum schlechten oder Betrüger ist an sich klein und dennoch bedeutend, weil man leicht sozusagen in Schuß kömmt und unaufhaltsam bergab, bergab geht, anfangs im Trott, nachher im Galopp. Mein guter Seufzer hatte sein bedeutendes Vermögen mit einem ehrlichen Gemüt geerbt. Er ging in seinen Geschäften den geraden, ehrlichen Weg, nicht weil er ihm angenehmer war, sondern weil er es unbequem finden mochte, Winkelzüge und Umwege zu machen.
Es ist dies die Ehrbarkeit, die Tugend, die nie auf der Probe war und daher ein negativer Begriff, ein Nichts, auf jeden Fall keine Tugend ist.
Nicht der Geldgewinn, er ist ziemlich zufrieden mit seinem Los, sondern die Liebe zu der schönen Kalle des alten Simon macht ihn straucheln, oder vielmehr, wie Gelegenheit Diebe macht, die süße Art, wie ich es ihm eingab; jetzt ist er, um das Kind beim rechten Namen zu nennen, aus dem ehrlichen Mann ein Betrüger geworden; er wird, weil es ihm diesmal leicht wird, zu betrügen, das nächste Mal Ähnliches versuchen; das Gewissen, die Ehrlichkeit, die Ruhe, die Selbstzufriedenheit ist ja doch schon zum Teufel, warum soll er sich also genieren? Der große Gewinn für mich liegt aber darin, daß die ersten Versuche des ehrlichen Mannes, ein Betrüger zu werden, gewöhnlich gut ausfallen und zur Wiederholung locken; denn wer mit mir Geschäfte macht, kann, solange es thunlich ist, darauf rechnen, sie mit Glück zu machen, und unglückliche Spekulanten, von denen die Sage geht, daß sie sich erhängt oder ersäuft haben, hatten durch Reue und Selbstanklage den Kopf verloren, hatten mir zu wenig vertraut, und nicht ich war es, der sie verließ, sie hatten sich selbst verlassen.
Doch, wo gerate ich hin? Habe ich mich von dem dicken Pfarrer anstecken lassen, zu moralisieren? Ist es denn mein Zweck, mit psychologischen Abhandlungen meinen Leser zu ermüden oder sogar abzuschrecken? Oder wie, ließ ich mich etwa von den Winken einiger gelehrten Leute verführen, die behaupteten, es liege zu wenig psychologische Teufelei oder teuflische Psychologie in [441] meinen Memoiren?[15] Ich sei für einen deutschen Schriftsteller, als welchen ich mich im Leipziger Meßkatalogus einregistrieren lassen, nicht gründlich genug?
„Der Teufel soll es holen!“ möchte ich mir selbst zurufen; sobald man vom Wege abgeht, gerät man immer mehr auf Abwege, so auch im Niederschreiben von Memoiren. Ich werde kurz sein.
Ich hatte durch meine dienenden Kleinen erfahren, welche Gedanken der Reis-Efendi in einer Privatunterredung mit Herrn von Minciaky über das russische Ultimatum geäußert; ja, um redlich zu sein, ich hatte selbst großen Anteil an jener Wendung der Dinge, weil mir dadurch das sogenannte Gleichgewicht etwas auf die Spitze gerückt zu werden schien und mehr Leben in das schlummernde Europa kommen konnte, das von Revolutionen und anderen lustigen Artikeln nur träumt und im Schlafe spricht. Ich hatte diese Nachricht früher vernommen, als sie selbst nur nach Petersburg kommen konnte, und in meiner Hand lag es, die Papiere steigen oder fallen zu machen. Der Vater der schönen Rebekka hatte in den letzten Tagen auf meinen Rat und seine eigene Einsicht hin seine Papiere so umgesetzt, daß er beim geringsten Steigen der – – auf großen Gewinn zählen konnte. Große Spannung herrschte in dem Hause des Herrn Simon in der neuen Judenstraße. Der Alte versicherte, seine Gebeine erzittern, so oft er ansetze, einen wichtigen Brief zu schreiben; die Tante, das neidische Gewölk, mochte ahnen, was vorging, und schlich trübe und ächzend im Haus umher; die Kalle war die mutigste von allen. Zwar war auch sie in einiger Bewegung, denn sie las nicht mehr, weder in Clauren noch in verschiedenen Almanachs, sogar das Modejournal wollte sie nicht ansehen; sie spielte auch nicht mehr auf der Harfe, aber doch trug sie das Köpfchen noch so hoch wie zuvor und ermutigte durch manche Rede die zagenden Bundestruppen.
Der Seufzer war gänzlich vom Verstand gekommen. Bald war er tiefsinnig und zweifelte an seinem Glück, besonders in der [442] Nähe der schönen Jüdin, wenn er sich die Höhe seiner Seligkeit, den Besitz der lieblichen Kalle dachte; dann war er wieder ausgelassen fröhlich und sprach allerlei verwirrtes Zeug, wie er ein Millionär zu werden gedenke, wie und wo er sich ein Haus bauen wolle, und was dergleichen überschwengliche Gedanken mehr waren, der Kalle aber flüsterte er ins Ohr, daß er sich wolle adeln lassen und sie zur gnädigen Frau Baronesse von Zwerner zu Zwernersheim machen, welcher Ort noch auf der Landkarte auszumitteln wäre.
Endlich, es war am dritten Frankfurter Pfingstfeiertag, und die Mädchen und Frauen spazierten schon scharenweise hinaus an den Main, um sich übersetzen zu lassen nach dem Wäldchen, und die Männer riefen ihnen nach, nur einstweilen alles zuzurüsten daselbst, weil sie nur noch auf die Börse gingen und bald nachkämen, indem heute nichts Bedeutendes vorkomme; und auch die alte Baubo[16], die schnöde Hexe, zog hinaus, doch diesmal nicht auf dem Mutterschwein, sondern in einem eleganten Wagen; sie hatte ihre schönen Stieftöchter bei sich und nickte mir freundlich zu, als wollte sie sagen, „Dich kenne ich wohl, Satan, obgleich du jetzt in schwarzem Frack und seidenen Strümpfen einherzuwandeln beliebst und meiner Elise, dem allerliebsten Kind, praktische Guitarrestunden gibst, dich kenne ich wohl, komm aber nur hinaus ins Wäldchen, da sprechen wir wohl wieder ein Wort zusammen.“ Da fuhr sie hin, die gute Alte, eine der ersten Palastdamen meiner Großmutter und sehr angesehen in Frankfurt und auf dem Brocken in Walpurgisnacht, da fuhr sie hin und viele tausend und wieder tausend fromme Frankfurter Seelen ihr nach, die alle das Gebot in feinem Herzen trugen: „Du sollst den Feiertag heiligen und an Pfingsten auch den dritten und vierten.“
Jetzt war es Zeit, zu operieren. Den Tag zuvor hatte man sich allgemein mit dem Gerücht getragen, daß die Pforte das Ultimatum nicht annehmen werde, und man erwartete von heute nichts Besonders. Da jagte um eilf Uhr ein Kurier durch das Thor, ganz mit Schweiß und Staub bedeckt, er sprengte, greulich [443] auf dem Posthorn blasend, durch die Straße, Million genannt, und in einem Umweg durchs neue Judenquartier, die Leute rissen die Fenster auf und fuhren mit den Köpfen heraus, um zu schauen nach dem schrecklichen Trompeten- und Straßenlärm. „Wo kümmt Er här? Wo will Er hün?“ riefen sie. „In Weißen Schwanen“, schrie er, „ich habe den Weg verfehlt, wo geht’s in Weißen Schwanen?“ – „Der Herr is wohl ä Korrier?“ – „Freilich, nur schnell“, rief er und zog einen Brief mit großem Sigill aus der Tasche, „das kommt von Wien und ist an den Herrn Zwerner aus Dessau im Weißen Schwanen.“ – „Da an der Ecke geht’s rechts, dann die Straße links, dann kömmt Er auf die Zeile, da reitet Er bis an die Hauptwache, und von dort ist’s nimmer weit.“ So riefen sie, schauten ihm nach, wie er mit der Peitsche knallend davonjagte, und besprachen sich dann über die Straße hinüber, was wohl die Depesche aus Wien enthalten möchte. Der Kurier war aber niemand anders als einer meiner dienstbaren Geister, in die Uniform eines hessischen Postillons gekleidet.
Im Briefe stand mit dürren Worten, daß der Reis-Efendi dem Herrn von Minciaky die vertrauliche, jedoch halb offizielle Mitteilung gemacht habe, „daß die Pforte das Ultimatum, soweit es Rußland betreffe, annehmen werde.
Der Seufzer bekam nun die nötige Instruktion, was er zu thun hatte; er fuhr mit dem Brief sogleich zu Papa Simon und mit diesem zu Herrn von R…, dem Papst der Börse, dem sichtbaren Oberhaupt der unsichtbaren papierenen Kirche. Dieser prüfte die Depesche genau; er selbst hatte schon zu oft ähnliche Mittel angewendet, Pariser Kuriere aus Mainz, und Wiener aus Aschaffenburg kommen lassen, als daß er so leicht konnte hintergangen werden. Er ließ daher ein Licht bringen und prüfte zuerst Geruch und Flüssigkeit des Siegellacks. „Gott’s Wunder!“ sprach er bedächtlich riechend, „Gott’s Wunder! das ist echtes Kaisersiegellack, wie es nur in Wien selbst zubereitet wird, und was Eingeweihte zu [444] solchen Depeschen zu verwenden pflegen.“ Dann betrachtete er genau das Kouvert des Briefes und fand darauf die gedruckten Zeichen jeder Poststation von Wien bis Frankfurt, und keines fehlte. Er verglich sodann diese Zeichen mit der Liste der Postzeichen, die er zur Hand hatte, und – sie waren richtig.
Hatte er zuvor den Herrn Zwerner, Handelsmann aus Dessau, als ein kleines Paarmalhunderttausend-Gulden-Männchen so obenhin behandelt, wie der Löwe das Hündchen; so wuchs jetzt seine Achtung mit unglaublicher Schnelle. Er hätte zwar am liebsten selbst den Kurier bekommen samt der inhaltschweren Depesche; doch, da dies nicht mehr zu ändern war, machte er gute Miene zum bösen Spiel, dankte, daß man ihn sogleich von der wichtigen Nachricht avertiert habe und berechnete dabei, welche Summen dem Dessauer diese Nachricht gekostet haben könnten, indem er annahm, dieser Kaufmann müsse die Preise, die er in Wien für solche Winke bezahlte, überboten haben. Es war Börsenzeit, er selbst fuhr mit auf die Börsenhalle.
Börsenhalle! Unter diesem Namen stellt sich wohl der Fremde, der diese Einrichtung noch nie gesehen, ein weitläufiges Gebäude vor, wie es der Stadt Frankfurt würdig wäre, mit weiten Sälen, Seitengängen, schönen Portalen und dergleichen. Wie wundert er sich aber und lächelt, wenn er in diese Börsenhalle tritt! Man stelle sich einen ziemlich kleinen, gepflasterten Hof, von unansehnlichen Gebäuden eingeschlossen, vor, wo man mit Bequemlichkeit Pferde striegeln, Wagen reinigen, waschen, Hühner und Gänse füttern und dergleichen solide häusliche Hantierungen verrichten könnte. Statt des ehrwürdigen Truthahns, statt der geschwätzigen Hühner und Gänse, statt des Stallknechts mit dem Besen in der Faust, statt der Küchendame, die hier ihren Salat wäscht – sieht man hier zwischen zwölf und ein Uhr mittags ein buntes Gedränge; Männer mit dunkelgefärbten, markierten Gesichtern, mit schwarzen Bärten und lauernden Augen, mit kühn gebogenen Nasen und breiten Mäulern, mit schmutzigen Hemden und unsauberer Kleidung schleichen mit gebogenen, schlotternden Knien und spitzigen Ellbogen, den Hut tief in den Nacken zurückgedrückt, umher und fragen einander: „Nu, wie stehen sie heute?“ [445] Du wandelst staunend durch dieses Gewühl und fühlst einen kleinen unbehaglichen Schauer, wenn dich eine der unsauberen Gestalten im Vorübergehen anstreift. Du begreifst zwar, daß du dich unter den Kindern Israels befindest, aber zu welchem Zweck treiben sie sich hier unter freiem Himmel in einem Hühnerhof umher? Endlich wirst du eine Tafel, etwa wie ein Wirtshausschild anzusehen, gewahr; drauf steht mit goldenen Buchstaben deutlich zu lesen: „Börsenhalle“. Also in der Börsenhalle der Freien Stadt Frankfurt befindest du dich; du hörst heute ein sonderbares Gemunkel und Geflüster; die Leute gehen staunend umher, mehr mit Blicken als mit Worten fragend: „Ä Korrier es Wien? – Gott’s Wunder. Wer hat’n gekriecht?“ – „Ä Fremder, der Zwerner von Dessau.“ – „Wie? Kaner von unsere Lait? Nicht der Rothschild, der grauße Baron, nicht der Beetmann? Auch nicht der Mezler? Waas?“
„Was hat’r gebracht, der Korrier! Abraham, wie stehen se?“
„Wie werden se stehen! Wer kann’s wissen, solange der Zwerner aus Dessau nicht ist auf der Börsenhalle!“
„Levi! Hat er’s Oltemat’m angenommen, der Reis-Efendi? Hat er oder hat er nicht? Wie werden se stehen?“
„Ich hab’s genug, ’s is a Vertel auf Eins, und noch will keiner verkaufen, aus Schrekka vor die Korrier. Wär’ nur der Zwerner aus Dessau da! Auch der Rothschild bleibt so lang’ aus und der Simon von die neue Straße. Wirst sehen, ’s wird geben ä grauße Operation! Der Herr wird verstockt haben das Herz des Efendi, aß er hat nicht angenomme das Oltematum von dem Moskeviter?“
„Betmannische Obligationen, will man nicht kaufen, sind gefallen um Vertelpurzent!“
„Wie steht’s mit die Metalliques? Wie verkauft sie der Mezler? Wie stehen se, Abraham? Thu’ mer de Gefallen und sag’, die Metalliques, wie stehen se?“
„Aß ich der sag’, ich weiß nicht, wo mer steht der Kopf, weiß heut’ keiner, wer iß Koch oder Keller? Aß ich nicht kann riechen, wie se stehen, die Metalliques!“
[446] Plötzlich entsteht ein Geräusch, ein Gedränge nach der Thüre zu. Ein Wagen ist vorgefahren, die Leute stehen auf die Zehen, machen lange Hälse, um die Mienen der Kommenden zu sehen. Drei Männer arbeiteten sich durch die Menge und stellen sich ernst und gravitätisch an ihren Platz zur Seite, wie es wohllöblicherweise auf anderen Börsen der Brauch ist, wo nur die Mäckler herumlaufen und sich drängen. Es war der große Baron, der an der Seite stand, zu seiner Rechten das Gestirn des Tages, der Kaufmann Zwerner aus Dessau, jetzt nicht mehr Seufzer zu nennen, denn sein Herz schien zu jubilieren und allerlei verliebte Streiche ausführen zu wollen, während er doch die Sinne bedächtlich und gesetzt beisammen behalten mußte, um sich nicht zu verrechnen. Zur Linken stand der Jude Simon, angethan mit seinem Sabbaterrock und einer schneeweißen Halsbinde, mit feierlicher, hochzeitlicher Miene, so daß sein Volk gleich sah, es müsse was ganz Außerordentliches sich zugetragen haben.
Jetzt nahten die Käufer und Verkäufer und fragten nach den Preisen. Sie wurden bleich, sie sanken in die Knie’ und schlichen zitternd umher; sie lamentierten schrecklich mit den Armen, sie steckten die Finger in den Mund, sie fluchten ebräisch und syrisch auf den Christen, der sich einen Kurier kommen lassen, auf den Vater, der den Kurier gezeugt, auf das Pferd, welches das Pferd des Kuriers zur Welt gebracht, auf seinen Kopf, auf seine vier Füße, kurz auf alles, selbst auf Sonne, Mond und Sterne, und auf Frankfurt und die Börsenhalle. Jetzt merkte man, warum der schlaue Simon seine Papiere in den letzten Tagen umgesetzt habe; jetzt konnte man sich den Tiefsinn des Kaufmanns aus Dessau erklären –! „Das Ultimatum ist angenommen“, scholl es durch den Hof, „der Reis-Efendi hat zugesagt“, hallte es durch die Ecken; und obgleich die drei wichtigen Männer nur entfernt auf ihren Brief anspielten, nur einige nähere Umstände angaben, nichts Bestimmtes aussprachen, so stiegen doch die östreichischen, die Rothschildschen und wenige andere Papiere, von welchen durch Zwerners und des alten Simons Sorge gerade nicht sehr viele auf dem Platz waren, in Zeit von einer halben Stunde um vier und einen halben Prozent. Mehrere Häuser, die sich nicht vorgesehen [447] hatten, fingen an zu wanken, eines lag schon halb und halb und hatte es nur seiner nahen Seitenverwandtschaft mit dem regierenden (Börsen-)Hause zu verdanken, daß ihm noch einige Stützen untergeschoben wurden.
Als man um ein Uhr auseinander ging, lautete der Kurszettel der Frankfurter-Börsenhalle:
Metalliques 875/8.
Betmännische 751/2.
Rothschildsche Lose 132.
Preußische Staatsschuldenscheine 84.
In den übrigen war nichts geändert worden.
Dieses kleine Börsengemetzel entschied über das Schicksal des Seufzers aus Dessau. In den zwei nächsten Tagen wirkte er durch die große Menge Metalliques, die er in Händen hatte, mächtig auf den Gang der Geschäfte, und als einige Tage nachher Herr von Rothschild Privatmitteilungen aus Wien erhielt, wodurch seine Nachrichten vollkommen bestätigt wurden, da drängte sich alles um den hoffnungsvollen, spekulativen Jüngling, um den genialen Kopf, der auf unglaubliche Weise die Umstände habe berechnen können.
Seine Zurückgezogenheit zuvor galt nun für tiefes Studium der Politik, seine Schüchternheit, sein geckenhaftes Stöhnen und Seufzen für Tiefsinn, und jedes Haus hätte ihm freudig eine Tochter gegeben, um mit diesem sublimen Kopf sich näher zu verbinden. Da aber die Polygamie in Frankfurt derzeit noch nicht förmlich sanktioniert ist und das Herz des Dessauers an Rebekka hing, so schlug er mit großer Tapferkeit alle Stürme ab, die aus den Verschanzungen in der Zeile, aus den Trancheen der Million, selbst aus den Salons der neuen Mainzer Straße mit glühenden Liebesblicken und Stückseufzern auf ihn gemacht wurden.
Der alte Herr Simon, konnte sich auch der Dessauer in Hinsicht auf Geld und Glücksgüter ihm nicht gleichstellen, rechnete es [448] sich dennoch zur besonderen Ehre, einen so erleuchteten Schwiegersohn zu bekommen. Ja, er sah es als eine glückliche Spekulation an, ihn durch Rebekka gefangen zu haben. Er sah ihn als eine prophetische Spekulationsmaschine an, die ihn in kurzer Zeit zum reichsten Mann Europas machen mußte; denn, wenn er immer mit seinem Schwiegersohn zugleich kaufte oder verkaufte, glaubte er nie fehlen zu können.
Fräulein Rebekka ging ohne vieles Sträuben in die Bedingungen ein, die ihr der Zärtliche auferlegte; da er eine gewisse Abneigung verspürte, ein Jude zu werden, so hielt er es für notwendig, daß sie sich taufen lasse. Sie nahm schon folgenden Tages insgeheim Unterricht bei dem Herrn Pastor Stein und gab dafür auf einige Zeit ihre Klavierstunden auf, wobei, wie sie behauptete, noch etwas Erkleckliches profitiert würde, da sie dem Klaviermeister einen Thaler für die Stunde hatte bezahlen müssen. Sie selbst legte dafür dem Dessauer die Bedingung auf, daß er sich für einige hundert Gulden in den Adelsstand erheben lassen und in dem „jöttlichen Frankfort“ leben müsse.
Er ging es freudig ein und überließ mir dieses diplomatische Geschäft. Um nun auch von mir zu reden, so traf pünktlich ein, was ich vorausgesehen hatte. Der Seufzer beschwichtigte fürs erste sein Gewissen, das ihm allerlei vorwerfen mochte, z. B. daß das ganze Geschäft unehrlich und nicht ohne Hülfe des Teufels habe zu stande kommen können. Sobald er mit dieser Beschwichtigung fertig war, war auch seine Dankbarkeit verschwunden. Weil ihn alles als den sublimsten Kopf, den scharfsinnigen Denker pries, glaubte er ohne Zaudern selbst daran, wurde aufgeblasen, sah mich über die Achsel an und erinnerte sich meiner sehr gütig als eines Menschen, mit welchem er im Weißen Schwanen einigemal zu Mittag gespeist habe.
Was mich übrigens am meisten freute, war, daß er die Strafe seines Undanks in sich und seinen Verhältnissen trug. Es war vorauszusehen, daß seine prophetische Kraft, sein spekulativer Geist sich nicht lange halten konnten. Mißglückten nur erst einige Spekulationen, die er, auf sein blindes Glück und seinen noch blinderen Verstand trauend, unternahm, verlor er erst einmal [449] fünfzig- oder hunderttausend und zog seinen Schwiegerpapa in gleiche Verluste, so fing die Hölle für ihn schon auf Erden an.
Rebekkchen, das liebe Kind, sah auch nicht aus, als wollte sie mit dem neuen Glauben auch einen neuen Menschen anziehen. War sie erst „Gnädige Frau von Zwerner“, so war zu erwarten, daß die Liebesintrigen sich häufen werden; junge wohlriechende Diplomaten, alte Sünder wie Graf Rebs, fremde Majors mit glänzenden Uniformen waren dann willkommen in ihrer Loge und zu Hause, und der Dessauer hatte das Vergnügen, zuzuschauen. Und wie wird dieser sanfte Engel Rebekka sich gestalten zur Furie, wenn die spekulative Kraft ihres Eheherrn nachläßt und damit zugleich sein Vermögen, wenn man das glänzende Hotel in der Zeile, die Loge im ersten Rang, die Equipage und die hungernden Liebhaber samt der köstlichen Tafel aufgeben, wenn man nach Dessau ziehen muß in den alten Laden des Hauses Zwerner und Komp.; wenn die gnädige Frau herabsinkt aus ihrem geadelten Himmel und zur ehrlichen Kaufmannsfrau wird, wenn man den Gemahl statt mit Papieren, wie es nobel ist und groß, mit Ellenwaren und Bändern ganz klein und unnobel handeln sieht! Welche Perspektive!!
Doch am vierten Pfingstfeiertag 1826 dachte man noch nicht an dergleichen im Hause des Herrn Simon in der neuen Judenstraße. Da war ein Hin- und Herrennen, ein Laufen, ein Kochen und Backen; es wurde ungemein viel Gänseschmalz verbraucht, um koscheres Backwerk zu verfertigen; ein Hammel wurde „geschächt“, um köstliche Ragouts zu bereiten.
Der geneigte Leser errät wohl, was vorging in dem gesegneten Hause? Nämlich nichts Geringeres als die Verlobung des trefflichen Paares. Die halbe Stadt war geladen und kam. Hatte denn der alte Simon nicht treffliche alte Weine? Speiste man bei ihm, das Gänsefett abgerechnet, nicht trefflich? Hatte er nicht die schönsten jüdischen und christlichen Fräulein zusammen gebeten, um die Gesellschaft zu unterhalten durch geistreiche Spiele und herrlichen Gesang?
Auch Graf Rebs, das treffliche Kaninchen, war geladen, und nur das brachte ihn einigermaßen in Verlegenheit, daß nicht weniger [450] als zwanzig Frauen und Fräulein zugegen waren, mit denen er schon in zärtlichen Verhältnissen gestanden hatte. Er half sich durch ausdrucksvolle Liebesblicke, die er allenthalben umherwarf, wie auch durch die eigene Behendigkeit seiner Beinchen, auf welchen er überall umherhüpfte und jeder Dame zuflüsterte: sie allein sei es eigentlich, die sein zartes Herz gefesselt. Die übergroße Anstrengung, zwanzig auf einmal zu lieben, da er es sonst nur auf fünf gebracht hatte, richtete ihn aber dergestalt zu Grunde, daß er endlich elendiglich zusammensank und in seinem Wagen nach Hause gebracht werden mußte.
Die Gesellschaft unterhielt sich ganz angenehm und bewies sich nach Herrn Simons Begriffen sehr gesittet und anständig, denn als er am Abend, nachdem alle sich entfernt hatten, mit seiner Tochter Rebekka das Silber ordnete und zählte, riefen sie einmütig und vergnügt:
„Gott’s Wunder! Gott’s Wunder! Was war das für noble Gesellschaft, für gesittete Leute! Es fehlt auch nicht ein Kaffeelöffelchen, kein Dessertmesserchen oder Zuckerklämmchen ist uns abhanden gekommen! Gott’s Wunder!“
- ↑ Dorf bei Frankfurt a. M.
- ↑ D. i. der Frankfurter Stadtwald (südwestlich der Stadt), hier ist am Pfingstdienstag Volksfest, sogen. „Wäldchestag“.
- ↑ Badeort mit Schloß und Park in der Nähe von Hanau.
- ↑ Ein öffentlicher Vergnügungsort, benannt nach dem Londoner Vauxhall, dem berühmten ehemaligen Versammlungsort der vornehmen Welt (1835 geschlossen).
- ↑ Anspielung auf Carl Heun (H. Clauren).
- ↑ „Edouard“ und „Ourika“ sind Romane von Claire Lechal de Kersaint, Herzogin de Duras (1779–1828).
- ↑ S. oben S. 261.
- ↑ Karoline Pichler (1769–1843), Romanschriftstellerin.
- ↑ „Reis-Efendi“ wurde bis 1836 der türkische Minister der auswärtigen Angelegenheiten genannt.
- ↑ Joh. Heinr. v. Dannecker (1758–1841) war seit 1780 Hofbildhauer in Stuttgart, später Professor an der Karls-Akademie.
- ↑ Ein flötenartiges Blasinstrument.
- ↑ Shakespeare, „König Heinrich IV.“, 1. Teil, 2. Akt, 2. Szene.
- ↑ S. oben, S. 297.
- ↑ Aug. Friedr. Ernst Langbein (1757–1835), beliebter Dichter launiger, aber oft sehr derber Schwänke und Erzählungen.
- ↑ Dieser Vorwurf wurde Hauff von dem Kritiker des „Gesellschafters“ in Nr. 79–80 dieser Zeitschrift von 1826 gemacht.
- ↑ Mythische Figur und Bezeichnung eines gespenstigen alten Weibes. Vgl. Goethes „Faust“, 1. Teil, Walpurgisnacht.
Anmerkungen (Wikisource)
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