Musik in New York (2)
Eine „Fidelio“-Neueinstudierung ist an sich keine weltbewegende Angelegenheit, von der ausserhalb lokaler Grenzen zu reden lohnt. Im Falle der New Yorker Metropolitan wäre eigentlich nur zu erwähnen, dass dieser – nur besetzungsmäßig erneuerte – „Fidelio“ neben einer völlig verunglückten „Carmen“ die einzige Auffrischung des dieswinterlichen Repertoires war. Indessen gibt es dabei noch einen Umstand von internationaler Bedeutung. „Fidelio“ wurde nämlich schon vor Jahren hier auf Befehl des früheren Gewaltigen Gatti-Casazza mit Rezitativen aufgeführt, und diese Anordnung ist auch jetzt unter der neuen Direktion Johnson beibehalten worden. Komponiert hat die Rezitative Arthur Bodanzky, einstmals in Mannheim, seit Jahren der in Routine erstarrte Kapellmeister der deutschen Abteilung der Metropolitan. Der New Yorker „Fidelio“ ist also eine[1] Kompagniearbeit, man kann auch sagen: eine musikalische Wassersuppe, auf der als Fettaugen Beethovens Musikstücke schwimmen. Es wäre unangebracht, über die Zulässigkeit eines solchen Verfahrens auch nur zu diskutieren. Wenn man sich von der Entrüstung über dieses Attentat auf Beethoven erholt hat, so muss man lachen. Es ist unbeschreiblich komisch, wenn Jaquino nach dem ersten Duett plötzlich in deklamatorischem Pathos zu singen beginnt: „Wenn ich diese Türe heut nicht schon hundertmal aufgemacht habe, so will ich nicht Jaquino heissen.“ Aehnlich belustigend geht es weiter, wobei Bodanzky sich noch leitmotivisch geriert, so dass bei der Erwähnung Pizarros stets das orchestrale Anfangsthema seiner Arie, oder bei Erwähnung Florestans dessen Arie anklingt. So wird „Fidelio“ hier unfreiwillig zur komischen Oper, und ein grosser Teil der Hörer ist der Meinung, dass dieses ohne Zweifel die beste Art sei, Beethoven eine neue Seite abzugewinnen. Es gibt allerdings auch viele, die anders denken, aber sie schweigen oder gehen nicht hin.
Während so die Oper ihren gewohnten Pfad ganz im Geiste – wenn man so sagen darf – Gatti-Casazzas weitertrottelt, dabei glänzende Geschäfte macht, gehen auf dem Gebiet der Konzertpolitik die Wogen hoch. Die schon im letzten Bericht angekündigte Resignation Toscaninis ist bekanntlich inzwischen Tatsache geworden, und in überraschend schneller Frist hat die Direktion der Philharmonie sich entschlossen, zunächst die Spielzeit auf 26 Wochen herabzusetzen (notwendig aus wirtschaftlichen Gründen, da der Musiker ein Mindestgehalt von 90 Dollar, also 270 Schw.-Franken wöchentlich bezieht). Der zweite Entschluss war die Verpflichtung Wilhelm Furtwänglers für die ersten zwölf Wochen dieser verkürzten Spielzeit. Um diesen Entschluss zu verstehen, muss man wissen, dass das Philharmonie-Direktorium ein kleiner Kreis unverantwortlicher Geldgeber ist und dass es sich bei der Regelung um ein Wettrennen zwischen Stokowsky und Furtwängler handelte. Dirigiert wurde es von dem einflussreichen Agenden Judson, den Stokowsky im vorangehenden Jahre aus Philadelphia hinausmanövriert hatte.
Indessen, diese Hintergründe der Angelegenheit sind, wie alle Kulissengeschichten, von geringerer Bedeutung. Bezeichnend war dagegen die Aufnahme der Furtwängler-Ankündigung in der Oeffentlichkeit. W. J. Henderson, der hochgeachtete Senior der New Yorker Musikkritik, der trotz seinen 80 Jahren mit bewundernswerter Frische und Aufgeschlossenheit amtiert, beginnt seinen Kommentar mit den Worten: „Die Berufung Furtwänglers für zwölf Wochen der nächsten Spielzeit ist mit verschiedenen Abstufungen von Erstaunen, Bedauern und Entrüstung aufgenommen worden.“ Er dürfte damit die allgemeine Stimmung richtig gekennzeichnet haben. Dass die Direktoren der Philharmonie sich in eine schwierige Lage gebracht haben, stand ausser Zweifel. Stimmen sympathisierender Art waren überhaupt nicht laut geworden, wohl aber regte sich eine Bewegung zur Boykottierung der Konzerte. Es handelte sich dabei nicht nur um den Widerstand gegen die Person Furtwänglers. Man wünschte, dass die nur Toscanini zuliebe vorgenommene Aufteilung der Spielzeit an mehrere Dirigenten unterbleibe. Man wünschte ebenfalls, dass die Primadonnen-Wirtschaft am Pult aufhöre und einer gesunden Musikpflege Platz mache. Ob diese Strömung sich durchzusetzen vermag, auch jetzt, nachdem Furtwängler verzichtet hat, bleibt abzuwarten. Die Atmosphäre ist auf jeden Fall sehr geladen und die Stimmung gegenüber der Philharmonie alles andere als rosig. Zunächst dominiert noch die allgemeine Trauer um Toscanini, dessen Konzerte jetzt mehr denn je überfüllt sind. Jeder weiss, dass mit dem Ausscheiden dieses wahrhaft grossen Künstlers das New Yorker Musikleben seines höchsten Glanzes beraubt wird.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: ein