Musikalisches
[367] Musikalisches. Die Tonkunst hat für das Culturleben der Gegenwart eine von Vielen willkommen geheißene, von Anderen beklagte, von Niemand aber bestrittene Bedeutung. Wenn wir absehen einerseits von den strengen Fachwerken, andererseits von dem breiten trüben Strome, der sich in zahllosen Büchern und Tagesblättern über die Lesewelt ergießt [368] und nur unter die Rubrik „Musikgeschwätz und Parteigezänk“ fällt, so lassen sich die eigentlich ästhetisch-musikalischen Schriften in zwei Classen theilen. Die eine sucht ihren Schwerpunkt in einer tiefeingehenden Zergliederung der einzelnen Tonstücke, bringt allerdings dem Künstler die reichere wissenschaftliche Ausbeute, vermehrt, verbessert, schärft sein „Handwerkszeug“, ist aber Allen, denen es nicht um Studium behufs eigenen Schaffens und Reproducirens, sondern nur um Anregung und allgemeine Bildung zu thun ist, ein unnahbares Gebiet. Die sehr wenigen Schriftsteller der zweiten Gattung bekunden zwar, daß sie in die Geheimnisse der musikalischen Baustyle eingeweiht, mit ihren technischen Hülfsmitteln vertraut sind, ziehen jedoch hiervon in den Bereich ihrer Darstellung nur so viel, wie nöthig ist, um ihren eigentlichen Zweck zu erreichen: die künstlerischen Persönlichkeiten der Tondichter in ihrem Gesammtwesen und in ihren Werken zu überzeugender Anschauung zu bringen, in der Weise, daß ein inneres und inniges Verhältniß zum Gegenstand vermittelt wird. Weiteren Leserkreisen lebendige und nachhaltige Wirkung einzuflößen, vermag allein diese letztere Classe von Schriften. Ihr gehört ein eben erschienenes Werk an, welches wir unseren Lesern mit gutem Gewissen empfehlen können; Verfasser desselben ist der auf dem Gebiete der musikalischen Kritik rühmlich bekannte geistvolle Otto Gumprecht in Berlin, und sein Buch führt den Titel „Musikalische Charakterbilder“.
In der Form von „Essays“ enthält das Werk die sechs bedeutendsten Componisten der nachclassischen, der Mozart-Beethoven’schen sich anschließenden Periode: Franz Schubert, Mendelssohn, Weber, Rossini, Auber, Meyerbeer. Streng genommen hätte Robert Schumann und Spohr wohl auch ein Platz in der Reihe gebührt, der erstere wird indessen von Vielen dem neuesten, noch nicht abgeschlossenen Zeitabschnitt zugerechnet, und beide Meister stehen gerade den großen Kreisen, an welche unser Verfasser sich wendet, weniger nahe.
An der wohlthuenden Wärme, welche die Schilderung der erstgenannten drei deutschen Tondichter, namentlich die Schubert’s, athmet, läßt sich wohl fühlen, daß sie dem Herzen des Autors wie dem des deutschen Volks die nächsten, die verehrtesten und vertrautesten sind; aber auch der Italiener Rossini, der Franzose Auber und der Kosmopolit Meyerbeer sind mit jener Unbefangenheit, Reife und Milde des Urtheils gewürdigt, welches sich nicht durch Nationales, der Sache zum Nachtheil, beeinflussen läßt. Das Biographische ist mit Recht äußerst knapp gehalten und dient nur der ästhetischen Charakteristik als Ausgangs- und Anhaltspunkt, den künstlerischen und allgemein menschlichen Entwickelungsgang jedes einzelnen Componisten erläuternd und belebend. Auch der Musiker von Fach, der nicht ganz in Formalismus verknöchert ist, wird eine Fülle von Anregungen aus dem Buche schöpfen, ganz besonders aber werden der Glanz und die Reinheit der Darstellung jeden gebildeten Leser fesseln, selbst einen solchen, den mit der Musik und ihren unsterblichen Vertretern kein engeres Band verknüpft. Das Ganze aber wird, um mit dem Wunsche unseres trefflichen Verfassers zu schließen, „Empfindungen und Eindrücke, die in jeder für die Seligkeit der Töne empfänglichen Brust ruhen, zu hellerem Bewußtsein und bestimmteren Vorstellungen erwecken und die Liebe zum Gegenstande, welche dem Verfasser die Feder geführt, auch andere Gemüther, dem Gesetze der musikalischen Sympathie gemäß, in mitschwingende Resonanz versetzen.“