New-Yorker Musikleben
Es gibt wenige Dinge, auf die der New-Yorker so zärtlich stolz ist, wie auf das hiesige Musikleben. „Was sagen Sie zu unserem Musikbetrieb?“ fragt er, und ist überzeugt, bei dem Gefragten den Ausdruck sprachloser Bewunderung zu finden. Die Erklärung liegt in dem Bewusstsein, dass gerade auf diesem Gebiet der Business-Geist keinen Zutritt hat, zum mindesten keine Entscheidungen trifft. Der Amerikaner liebt Musik leidenschaftlich, er hat immer noch ein erstaunliches Aufnahmebedürfnis und alles, was Musik anbetrifft, spielt für ihn sozusagen in der guten Stube. Dazu kommt freilich, dass Quantität und Qualität des Gebotenen eine Reichhaltigkeit zeigen, wie sie eben nur aus den heutigen europäischen Verhältnissen erklärbar ist. Wobei im übrigen nicht vergessen sei, dass die Schwierigkeiten der Wirtschaftsnot sich hier ebenfalls fühlbar machen und zu erheblichen Einschränkungen gegenüber früheren Jahren geführt haben.
Hierzu gehört die Verkürzung der Spielzeit in der Metropolitan-Oper. Sie wird erst um die Weihnacht herum beginnen. Vorläufig flüstert man über die Nachfolgerschaft des Direktors Gathi-Casazza,[1] von dem man annimmt, dass er mit Ablauf der Spielzeit ausscheidet. Unter den Anwärtern wird an erster Stelle der Berliner Generalintendant Tietjen genannt, andere wünschen einen Amerikaner für diese Stellung.
Indessen mag der New Yorker nicht so lange ohne Oper sein, zumal die Metropolitan der Preise wegen doch das Theater der reichen Leute bleibt. Also hat sich unter dem Namen „Cosmopolitan Opera“ eine Art Gegengründung aufgetan, die als Volksoper gelten will. Sie spielt im Hippodrom, einem mächtigen, mit amphitheatralischen Tribünen aufsteigenden Theater, das etwa 5.000 Zuschauer fasst. Die Darbietungen sind nicht gleichartig, halten aber in der Hauptsache gutes Niveau. Man gibt deutsche, italienische, russische Oper, jede in ihrer Landessprache mit den entsprechenden Sängern, Michael Steimann und Cesare Sodero sind die Dirigenten. Bei der Schnelligkeit des Aufführungswechsels wird von ihnen keine geringe Elastizität verlangt, man lebt künstlerisch sozusagen von der Hand in den Mund. Das gleiche gilt von der Szene, für die Ernst Lert mit musikverständiger Theatergewandtheit und sicherem Bühneninstinkt eintritt.
Ebenfalls volkstümlich, aber mit stärkerer Betonung künstlerischer Eigenwilligkeit versucht die Oper in Philadelphia zu arbeiten. Auch hier handelt es sich um eine durch die Spielzeitverkürzung der Metropolitan veranlasste Neugründung, denn bisher wurde das nur zwei Schnellzugstunden entfernte Philadelphia von New York aus bespielt. Da aber in Philadelphia das von Leopold Stokowski geleitete vorzügliche Orchester zur Verfügung steht, so hat man um dieses herum jetzt ein eigenes Opern-Ensemble gebildet. Die Eröffnungsvorstellung „Tristan und Isolde“, von Fritz Reiner geleitet, bedeutete insofern eine Sensation, als dies die erste strichlose ‚Tristan’-Aufführung in Amerika war. Auch sollte szenische Reformarbeit geleistet werden, was freilich unter Leitung von Herbert Graf mit Mitteln geschah, die an die Stelle des alten Kitsches nur den neuen Kitsch setzten und den zweiten Akt der Originalität halber auf einem Eisberg spielen liessen. Es scheint, dass diese Art missverstandener Modernität, die sich in Europa allmählich totgelaufen hat, nun in Amerika eine Auferstehung zu finden sucht. Ob mit Erfolg, steht zu bezweifeln. Auf der Opernbühne ist der Amerikaner freilich noch den allerältesten Zauber gewöhnt, aber das Auge ist doch durch das Kino bereits zu einer Fähigkeit der Kritik erzogen, die sich nicht leicht bluffen lässt.
Während so die Operntheater noch auf volkstümliche Art präludieren, ist das Konzertleben seit Anfang Oktober in vollem Betrieb. Den Kern bilden die allwöchentlich (mit je drei Wiederholungen zu kleinen Preisen) veranstalteten Konzerte des Philharmonischen Orchesters. Sie finden in Carnegiehall statt, dem durch seine stille Vornehmheit und vorzügliche Akustik repräsentativen, theaterförmig in mehreren Rängen gebauten Konzertsaal. Eigentlich ist Toscanini der Leiter dieses Orchesters, dessen Weiterexistenz erst im vorigen Jahr durch Stiftung einer halben Million Doller gesichert wurde. (Das amerikanische Kunstleben wird ausschliesslich vom Mäzenatentum getragen, es gibt nicht einmal eine Art behördlicher Aufsicht in Form eines Ministeriums.) Da Toscanini aber erst in der zweiten Hälfte der Spielzeit zurückkehrt, ist die Leitung der Konzerte an eine Vielzahl von Dirigenten aufgeteilt. Den Beginn machte Otto Klemperer mit vier Konzerten. Getreu seiner früheren Haltung stellte er je ein gewichtiges zeitgenössisches Werk in den Mittelpunkt: Hindemiths „Mathis“-Sinfonie, Bruckners Neunte in der authentischen Fassung, Strawinskys „Psalmen“-Sinfonie nebst dem „Feuervogel“ und Janaceks „Sinfonietta“. Eine charaktervolle Novitätenfolge, von den Habitués dieser Konzerte zwar widerspruchslos, aber nicht durchweg mit reinem Vergnügen genossen, von der anderen Gruppe umso lebhafter begrüsst, zugleich geeignet, Klemperers Dirigentenqualitäten von der vorteilhaftesten Seite zu zeigen.
Die Solistenkonzerte bedürfen keiner besonderen Erwähnung, sie zeigen über Kreisler, Rachmaninoff, Heifetz,[2] Elman alles, was gut und teuer ist, zeigen vor allem den immer wieder erstaunlichen Musikenthusiasmus des Publikums. Er bewährt sich auch gegenüber den Gastkonzerten des Philadelphia-Orchesters mit Leopold Stokowsky an der Spitze, einem Dirigenten, der, ohne Taktstock dirigierend, sein Orchester noch mit den alten Ausdrucksmanieren des romantischen Klaviervirtuosen führt, aber trotz diesem vieux jeu eine hervorragende Klangdisziplin übt.
So gibt es vielerlei, nicht nur Zerstreuendes oder Sensationelles, sondern auch manches Ernsthafte, und der Bedarf danach ist sicher ebenso aufrichtig, dabei vorurteilsfreier, als im alten Erdteil.