Noch ein türkischer Kaiser
[461] Noch ein türkischer Kaiser. In der gegenwärtigen Krisis der türkischen Verhältnisse dürfte die Mittheilung nicht ohne Interesse sein, daß in irgend einem Winkel der Erde – wo, können wir für den Augenblick nicht angeben – ein türkischer Kron-Prätendent lebt, der durch ungewöhnliche persönliche Vorzüge, durch die für einen Orientalen ganz ungewöhnliche Vielseitigkeit seiner Bildung, namentlich durch die Kenntniß der meisten europäischen Sprachen im hohen Grade die Aufmerksamkeit englischer Touristen im Orient auf sich gezogen und später auch, nach Bekanntwerden seiner Ansprüche, das Interesse der englischen und französischen Presse erregte. Er nennt sich Nadir Bei und ist der Sohn eines ältern Bruders des verstorbenen Sultans Mahmud, der von Nadir Bei als Mörder seines Vaters bezeichnet wird. Durch die Großmuth eines der Meuchelmörder mit seiner Mutter aus dem allgemeinen Blutbade im Harem gerettet, erhielt er im Hause eines reichen Türken, der seine Herkunft kannte, eine glänzende Erziehung, ging dann nach dem Tode seiner Mutter und seines väterlichen Freundes mit den Diamanten und Papieren seines hohen Vaters nach Morea, von da unter dem angenommenen Namen nach Rußland, studirte hier, wie er selbst oft sagte, „die Macht, Politik, die Gesetze und Schwäche der Hülfsquellen und auch die Regierungsformen seines Erbfeindes“ und blieb dann einige Zeit in Polen und Lemberg, um die Theorien der Kriegskunst zu erlernen. Rache und Liebe zogen ihn in’s Vaterland zurück, wo er indeß vorläufig die Rachegedanken aufgab, als er die Reformbestrebungen seines Onkels erkannte.
In Konstantinopel entdeckte er sich einigen hohen Beamten der Pforte, u. a. auch dem Reis Effendi, die das Geheimniß zwar bewahrten, aber ihn mit Zärtlichkeiten aller Art überschütteten. Er ward zum Commandanten eines Reiterregiments ernannt und stand bald darauf in Adana an der Spitze einer Heeresabtheilung [462] von 19,000 Mann auserlesener Kavallerie, die ganz und gar zu seiner Disposition waren. Das war, nach seiner eigenen Aussage, der günstigste Augenblick, den Tod seines Vaters zu rächen. Er unterließ es auch dieses Mal, um die Reformbestrebungen seines Onkels nicht zu stören und ging zurück nach Konstantinopel. Dort erwarb er sich durch sein humanes und edles Betragen und durch seine hervorragende Bildung viele Freunde. Im Jahre 1831 ward er mit geheimen Depeschen von Chosrew Pascha nach Warschau an die revolutionäre Regierung gesandt, kam aber in Wien erst an, als bereits Warschau gefallen war und blieb in Oestreichs Hauptstadt, dessen Kaiser und Adel ihn sehr auszeichnete. Plötzlich aber ward er, weil man ihn für einen angesehenen Polen hielt, mit seinem ganzen Gefolge verhaftet. Französische Zeitungen besprachen damals vielfach das auffallende Ereigniß. Eine Depesche aus Konstantinopel befreite ihn aus seiner Haft. Metternich entließ ihn in einer Mitternachtsaudienz mit vielen Entschuldigungen und Nadir Bei kehrte nach Konstantinopel zurück, wo er – aus ihm noch jetzt räthselhaften Gründen – sofort in ein neues Gefängniß geworfen wurde, aus dem er nur durch die Verwendung des französischen Gesandten, Baron von Varennes, befreit wurde.
Brennend vor Wuth ging er nach Egypten, ward dort im Dienste Mehmed Ali’s Generalinspektor der gesammten Kavallerie und später, wie das Januarheft der Revue britannique 1834 meldet, Generaladjutant Ibrahim Pascha’s. Der Friede mit der Pforte bewog ihn, seinen Abschied zu nehmen. Er bereiste dann zu seiner Belehrung Europa und Amerika, nahm später und zwar incognito wieder türkische Dienste und wurde Commandant von Silistria. Als solcher hatte er Gelegenheit, die schreckliche Verwirrung und die vielen schreienden Mißbräuche in der Civil- und Militärverwaltung kennen zu lernen; er beschloß nach Konstantinopel zu gehen und seinem Oheim einen Plan zur Abhülfe vorzulegen. Obwohl er die Gunst des Sultans und der ersten Würdenträger erlangte, wollte es ihm doch nicht gelingen, sie zur Annahme seiner Vorschläge zu bewegen. Unmuthig darüber kehrte er nach Europa zurück und setzte von da aus seinen Oheim, der bald darauf starb, von seiner Geburt und seinen Absichten in Kenntniß.
Von dieser Zeit an beginnt, wie er sagt, seine Verfolgung. Von Spionen und Mördern umgeben, mußte er nach der Thronbesteigung des jetzigen Kaisers, seines Vetters, von einem Ort zum andern wandern, ohne Ruhe zu finden. Er ging nach Afrika und war lange Zeit verschwunden. Erst vor einigen Jahren tauchte er wieder auf, als er, immer noch in seiner Eigenschaft als kaiserlicher Prinz, eine Petition um Gastfreundschaft und Aufenthalt an die Gesandten der christlichen Mächte am Hofe des Königs beider Sicilien richtete und die damals in einer englischen Zeitschrift abgedruckt war. Ob ihm das Asyl gewährt wurde, ob und wo er augenblicklich noch lebt, ob überhaupt alle seine Aussagen auf Wahrheit beruhen – wir wissen es nicht und wollen ihn weder verwerfen noch anerkennen.