Nothzustand in der Ferne
[869] Nothzustand in der Ferne. Aus Amerika, dessen deutsche Bevölkerungen sich stets hülfsbereit jeder Noth ihrer alten Heimath erinnert und namentlich in unseren letzten Erhebungskriege so treu und opferwillig zu uns gestanden haben, dringt seit längerer Zeit ein recht herber Schmerzensschrei zu uns herüber: die Kunde von den Verheerungen, welche das gelbe Fieber in den südlichen Theilen der Vereinigten Staaten angerichtet hat. Zwar ist die Wuth der entsetzlichen Seuche jetzt durch den Eintritt der kühleren Jahreszeit gebändigt, aber die Folgen zeigen sich in einem namenlosen Unglück. Unzähligen Familien sind ihre Ernährer dahingerafft, Tausende von Wittwen und Waisen, denen nicht weniger als Alles fehlt, verkommen in stillem Darben oder strecken jammernd ihre Hände um Beistand und Rettung aus. Außerordentlich stark ist besonders die ohnedies seit dem letzten Bürgerkriege schwer in ihrem Wohlstande geschädigte Stadt New-Orleans von dem Verhängniß heimgesucht worden. Hier ist in der That als Nachwirkung der Epidemie unter der meist aus deutschen Arbeitern und Handelsleuten bestehenden ärmeren Classe ein Massenelend ausgebrochen, das jeder Beschreibung spottet und gegen welches alle locale Hülfe sich ohnmächtig erweist.
Schon ist Kaiser Wilhelm seiner Nation mit dem Beispiele seiner Theilnahme vorangegangen, indem er aus eigener Schatulle dreitausend Mark zur Unterstützung jener Hülfsbedürftigen gespendet hat. Die deutsche Nation aber war seit dem Frühling dieses Jahres durch eine Aufeinanderfolge verschiedenster Schreck- und Wirrnisse so unablässig in Anspruch genommen, daß es fast erklärlich ist, wenn sie in dieser schlimmen Zeit nach außen hin einer schweren Versäumniß sich schuldig gemacht hat. Während von England und Frankreich bereits imposante Unterstützungssummen nach jenen Stätten des Hungers und Kummers gewandert sind, ist von dem großen deutschen Volke aus, das so viele Landsleute unter den Nothleidenden weiß, in dieser Hinsicht noch gar nichts gethan worden. Darf man sich wundern, daß diese Unterlassung drüben nicht unbemerkt geblieben ist? Deutsche Zeitungen in New-Orleans ergeben sich bereits in den allerbittersten Ausfällen wider unser Vaterland, und wenn man auch über die vorschnelle Grobheit, den plumpen und hämischen Ton dieser Angriffe den Kopf schüttelt, so muß man doch leider zugeben, daß der Vorwurf an sich selber ein begründeter und durchaus für uns beschämender ist.
Wir würden unsere deutschen Leser zu beleidigen glauben, wenn wir ihnen im Angesichte der betreffenden Angelegenheit erst vorstellen wollten, daß es sich dabei ebensowohl um eine Mahnung des Volksgewissens und eine dringende Pflicht der nationalen Ehre handelt, wie um ein unabweisliches Gebot der internationalen Humanität und Nächstenliebe. Wir sollen, können und dürfen, wenn wir unser unmenschliches Gefühl nicht in Frage stellen und unseren guten Namen nicht mit einem unverwischlichen Flecken behaften wollen, diesem Acte der Mildthätigkeit nicht fern bleiben. Und was geschehen soll, das muß in entsprechendem Maße, es muß vor Allem schleunig und ohne Säumen geschehen. Jede Entschuldigung, daß man von dem Umfange und der haarsträubenden Art des Leidens nicht unterrichtet sei und daß die Sache noch nirgends in die Hand genommen sei, ist hinfällig geworden. Bereits im Laufe des November hat sich in Berlin ein Central-Ausschuß gebildet, der sofort einen von hochangesehenen Namen, auch von den Abgeordneten Kapp und Loewe (Calbe) unterzeichneten Aufruf zur Anregung einer deutschen Beisteuer für die bezeichneten Nothleidenden in Amerika erlassen und versandt hat. Den Zweck dieses Aufrufs nachdrücklich zu fordern, ist die Absicht unserer Zeilen. Man darf erwarten, daß einer solchen Ansprache die Erfolge nicht fehlen und aus allen Kreisen die größeren und kleineren Gaben reichlich fließen werden. Gilt es doch, Thränen zu trocknen und ein grausames Geschick zu lindern, unter dessen Schlägen schon viele unserer deutschen Brüder und Schwestern auf fremder Erde hülflos zusammengebrochen sind. Für Diejenigen, denen der bezeichnete Aufruf nicht zu Gesicht kommen sollte, sei nur noch erwähnt, daß der Schatzmeister des Ausschusses, Herr Generaldirektor Hermann Rose in Berlin (Leipziger Platz 12), zur Annahme der Unterstützungsbeiträge sich bereit erklärt hat. Bericht über Ergebniß und Verwendung der Sammlung wird demnächst von Berlin aus erstattet werden.