Nur ein Baum
Wenn einer weiß, daß er zum Tode verurteilt ist, so geht er in sich und stellt sich recht still und bußfertig dar. Man sollte es meinen. Den ich aber heut’ abend gesehen habe, der schaute überaus fröhlich aus. Sein bestes Festgewand hatte er angelegt, gab große Gesellschaft, und seine Gäste lärmten und sangen, als sollte die Freude gar kein Ende nehmen.
Es war aber freilich kein Mensch, es war nur ein Baum. „Nur ein Baum!“ sagen wir Menschen. Wir sollten billig bedenken, daß so ein armes Gewächs mit dem Tode noch ganz anders hin ist als unsereins. Für uns ist der Tod nur ein Uebergang, ein Umsteigen, wenn wir auch über die Richtung des nächsten Zuges nicht ganz einig sind. Aber solch ein Baum – der ist wirklich tot, wenn er gestorben ist. Ganz tot. Und er war doch einst so lebendig, als ich ihn zuerst sah. Das ist jetzt erst vier Jahre her. Damals war er schöner als der schönste Apfelbaum, den sich manche Eva denken könnte. Er stand auf dem „Zuckerweck“, und das ist das Merckwürdigste. Denn der „Zuckerweck“ trug gewiß mancherlei seltsame Blüten, aber Apfelblüten hätte dort keiner gesucht.
Der „Zuckerweck“ war die schmalste, krummste und bauplanwidrigste Gasse der Stadt. Eine alte Festungsmauer war nach und nach so weit verwittert und eingestürzt, daß sie mit ihren Trümmern den dazugehörigen Graben notdürftig ausfüllte. Darüber hatte sich von den zerbröckelnden Steinen etwas Erdreich angesetzt, eilfertige Füße hatten einen Pfad getreten: nach links den Berg hinauf, nach rechts den Berg hinunter, und beiderseits an diesem Pfad hatten arme Leute ihre Hüttchen gebaut, bis allmählich eine ordentliche Straße im Westentaschen-Format daraus geworden war – bergauf, bergab, krumm wie ein Zuckerweck.
Es waren nur sechs oder sieben Häuschen auf jeder Seite. Die in der Mitte standen so hoch, daß man von der Hausthür aus den Bewohnern der untersten aufs Dach husten konnte. Es that’s aber keiner, denn die hier wohnten, hielten Frieden. Sie hatten meist gar keine Zeit, sich mit anderen Leunten zu zanken.
Ziemlich zu unterst am inneren Ende, da wo es zur Altstadt hin ging, lag das kleinste Häuschen, und daneben, auf einem neun Quadratfuß großen Gärtchen, wuchs der Apfelbaum. Weiß der Himmel, wer ihn dorthin gepflanzt hatte. Gewiß war es nicht mit Willen geschehen. Auch sah der Baum krumm und krüpplig aus, ganz als ob er um Entschuldigung für sein Dasein bitten wollte. Aber er blühte trotzdem sehr schön und reichlich.
Als ich ihn zuerst sah – ich war gewiß nicht um seinetwillen den „Zuckerweck“ hinauf und hinab gestiegen und wußte überhaupt nicht, daß hier ein Baum stand – da that er es mir sogleich dermaßen an, daß ich nicht vorbei mochte. Ein unwiderstehliches Gelüst befiel mich, einen von seinen Zweigen mit den rötlichweißen süßduftenden Blüten mitzunehmen. Also ging ich hinein in den sogenannten Garten, den außer dem Baum ein Tischlein mit zwei Schemeln völlig ausfüllte, und bat um ein blühendes Reis. An dem Tischlein saßen die zwei Bewohnerinnen des Häuschens, eine bucklige Näherin und ihre junge Nichte, das war ein schlankes Mädchen, kaum aus den Kinderschuhen heraus, mit dicken blonden Flechten, blassen zarten Wangen und zwei großen fragenden Augen, von einer Farbe wie Syringenblüten, die lange in der Sonne gestanden haben. Sommersonne bei Frühlingsblüten und dumpfe enge Dämmerung der Armut bei Menschenblumen haben das miteinander gemeinsam, daß sie alles ungeduldige Keimen und Leben in eine trügerische Blässe kleiden. Was im Keller treibt, wird blaß. Es treibt aber doch.
Das ältere Fräulein nickte geschmeichelt, als ich ihren Baum lobte und um ein Zweiglein bat. Die Nichte sollte mir eins abschneiden. Unterdes mußte ich auf dem verlassenen Schemel Platz nehmen. Die Tante erzählte dann, wie still und friedlich sie hier lebten, wie sie gar nichts merkten von der Welt draußen, und wie ihr das besonders lieb sei um ihrer jungen Nichte willen. Denn da draußen lauerten ja tausend Gefahren für ein unerfahrenes Mädchen. Sie trug das alles mit ziemlich klangloser Stimme vor, eintönig und überzeugt, wie ein langgewohntes Gebet, und nähte unterdessen eifrig weiter.
Die Nichte stand derweil hinter dem Stuhl der Redenden, suchte prüfend mit ihrer Schere in der Hand den Zweig für mich aus und ein paarmal bewegte sie die Hand mit der Schere zierlich lebhaft hin und her. Ich dachte, es geschehe, um die Fliegen und Käfer abzuwehren, die sich’s in dieser Oase von Blüten wohl sein ließen. Dann sah ich aber jenseit der Maner in der sonnigen Stadtgrabenstraße einen Studenten mit bunter Mütze stehen, der lächelte und winkte auch herüber. Es war eine wunderliche Erläuterung zu dem Vortrag der Alten. Ich nahm meinen Zweig in Empfang, dankte und ging.
Seitdem haben die Bäume schon viermal wieder Blüten angesetzt und die alte Stadt hat sich merkwürdig rasch verändert. Es ist ein neuer Trieb in sie gefahren, ich habe sie kaum wieder erkannt, als ich aus dem eben erbauten Bahnhof heraustrat. Der Bahnhof liegt diesseit des „Zuckerwecks“, in der Neustadt, das alte Sträßlein mit seinem Auf und Ab von baufälligen Hütten hemmte den mächtig anschwellenden Verkehr zwischen Bahn und Stadt. Sonach hat man die Häuslein angekauft und weggerissen, der Hügel wird abgetragen, es soll eine neue, breite, stolze Straße werden.
Einstweilen ist von der neuen Straße noch nicht viel Rühmliches zu sagen: es ist ein lehmiger unebener Pfad zwischen Kalkpfützen und Haufen von Ziegelsteinen. Aber der Durchgang ist schon frei, und von der Bahnhofseite aus sind sogar schon die ersten Geschäftshäuser erbaut und besiedelt. Trockenwohner nennt man in den großen Städten die armen Leute, die um ein Geringes die neuen Villen zuerst ein halbes Jahr einnehmen dürfen, um die Feuchtigkeit und sonstige Krankheitsträger wegzuwohnen. Was sich jetzt zunächst in den ersten Häusern der neuen Geschäftsstraße breitmacht, könnte man Trockenläden nennen. Später kommen dann die wahren Läden nach, mit glänzender Einrichtung, [229] festen Preisen, lächelnden Ladennymphen und den „neuesten Nouveautés der Saison“.
Gerade bis zu dem alten krüppligen Apfelbaum sind die Neubauten schon vorgerückt. Neben ihm, dort, wo einst das Häuschen der Näherin stand, wird schon der Grund für die Kellermauern eines umfangreichen Geschäftshauses ausgeworfen. Der graue verwitterte Stamm ist von Kalkspritzern entstellt, und als ich heut’ abend vorüberging, sah ich, wie ein Polier mit dem Finger an ihm vorbeistrich und sagte: „Morgen muß er dran glauben!“
Der alte Baum aber stand in voller Frühlingspracht. Seine unzähligen duftenden Blüten leuchteten, als wäre ein Teil der rosigen Abendwolken droben vom Himmel auf ihn herabgesunken. Und die Sperlinge und Buchfinken in den Zweigen sangen und zwitscherten, als müßte das ewig so wiederkehren, als wären sie überzeugt, daß die Menschen, wenn sie ihre Städte verschönern wollen, vor allem die Bäume als schönste Zier der Städte stehen und blühen lassen.
Mir machte dies alles einen überaus traurigen Eindruck, und als ich draußen vorm Thor meinen eigenen schönen Garten erreicht hatte, wo in den blühenden Büschen die Nachtigall sang, mußte ich immer wieder an den armen verlorenen Posten drinnen in der Stadt denken. Es trieb mich, ihm ein kleines Wort der Erinnerung zu weihen. Das habe ich denn hiermit gethan, viel eilfertiger als es einem Dichter geziemt. Wie manches hätte ich noch hinzu erfanden können von dem Geschick und Ende der alten Näherin und ihrer jungen Nichte, die in ihrer weltabgeschiedenen Stille doch auch schon die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu kosten gewußt! Es ist aber am Ende viel alltäglicher und begreiflicher, daß ein Mägdlein, wo immer es leben mag, Liebe weckt und erwidert, als daß ein Apfelbaum auf dem „Zuckerweck“ stand und blühte jahrzehntelang.
Wenn es erlaubt ist, einem Baume zu wünschen, was wir alle uns einander zudenken, so möchte ich sagen: Gott geb’ ihm einen sanften und schnellen Tod! Mir und manchem anderen, der vorüberschritt, war er in trübseliger Umgebung ein liebliches Bild, armen und redlichen Leuten bot er jahraus jahrein vielleicht die einzige blühende Frühlingsfreude. Er ist gefallen als ein Opfer dessen, was wir die Kultur unserer Zeit nennen, als ein Opfer des Zeitalters des Verkehrs. Behüte der Himmel, daß ich diesen Verkehr, diese Kultur schelte! Wir alle sind ihre Kinder, und wir würden uns sehr unglücklich fühlen in jedem andern Zeitalter, auch in den gepriesensten unter allen Jahrhunderten, die gewesen sind. Ob nicht wieder andere, stillere, rückfällige Zeiten folgen, wer mag das wissen! Aber gewiß, ob und wie die Sitten sich ändern mögen, auch in allen kommenden Zeiten wird mit der Blütezeit jedes Jahres der Lenz in jungen Menschenherzen neu erwachen. Unter den blühenden Bäumen wird sich auch die Blüte der Jünglinge und Mädchen vereinen und mit scheuen Lippen den Schaum vom Kelch der Seligkeiten schlürfen. Und wenn sich dann zwei unter einem duftenden Wipfel zusammenfinden, dessen Ahnenkette zu dem bescheidenen Baume im Armengärtchen auf dem „Zuckerweck“ zurückführt, so sei ihnen im voraus mein Segen gespendet.