O lieb, so lang du lieben kannst (Die Gartenlaube 1894/30)
[516] „O lieb’, so lang du lieben kannst.“ Die anmutige Freiligratherinnerung, welche Friedrich Fischbach in Nr. 2 dieses Jahrgangs den Lesern der „Gartenlaube“ mitteilte, hat in weiten Kreisen freundliche Beachtung gefunden, wie wir aus mannigfachen Zuschriften entnehmen. Unter anderen hatte die in England lebende Tochter Freiligraths die Güte, uns auf einige Ergänzungen aufmerksam zu machen, welche auf das Erlebnis von Ludwig Elbers ein neues Licht werfen. Elbers war nämlich nicht der einzige, an dem Freiligrath die versöhnende Kraft jenes ergreifenden Liedes erprobte, und der erste, später umgestaltete Entwurf desselben reicht in viel frühere Zeiten zurück, in das Jahr 1829, da Freiligraths Vater starb, da der neunzehnjährige Sohn mit blutendem Herzen an dem Grabe dessen stand, der ihm „längst vergeben“:
„Er aber sieht und hört dich nicht,
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst;
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: ich vergab dir längst!“
In der Barmer Zeit scheint das Lied dagegen die Form erhalten zu haben, in der es uns heute vorliegt und in der es zuerst 1849 in der bei Cotta erschienenen Sammlung „Zwischen den Garben“ gedruckt wurde.
Auf einen Vorfall, der viel Aehnlichkeit mit dem von Friedrich Fischbach erzählten hat, spielt ein Brief Freiligraths an seinen Freund Heinrich Köster an; auch hier leistet er in überströmender Reue Abbitte für einen Schmerz, den er dem Freunde „hingerissen vom Wein und einer mir noch zu dieser Stunde unerklärlichen momentanen Melancholie“ angethan. „Fluch meiner Heftigkeit und meinen augenblicklichen düsteren galligen Stimmungen! Wie oft habe ich nicht schon auf ähnliche Weise verletzt, und wie oft, leider! hab’ ich nie wieder gut machen können, was ich so verbrochen. Du erinnerst Dich, daß ich Dir zu Köln in jener schönen Morgenstunde von einem Liede erzählte, das ich bei einer solchen Gelegenheit gemacht. Es ist mir gelungen, es zum Teil wieder aus dem Gedächtnisse heraufzurufen, und ich lasse es folgen, soweit ich’s weiß:
O liebe, da Du lieben kannst!
O liebe, da du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo Du an Gräbern stehst und klagst!
u. s. w.
Schreib’ mir bald einmal, lieber Kerl! Laß mich bald schwarz auf weiß sehen, daß Du der aufrichtigen Reue ein unseliges Aufbrausen nicht mit der Kleinlichkeit nachträgst, die nur das Erbteil des Philisters zu sein pflegt. Sei mir gut und bleib’ mir gut und sei überzeugt, daß ich Dich seit vorgestern abend womöglich noch lieber habe als vorher. Deine Thränen haben mir vielleicht tiefer ins Herz geschnitten als Dir meine Worte.“
Dieser Brief ist vom 22. August 1838. Aber schon sehr bald nachher, in den ersten Septembertagen, riefen des Dichters „düstere gallige Stimmungen“ eine ähnliche Scene hervor. Diesmal war Heinrich Zulauff der Gekränkte. Die Freunde hatten in größerer Gesellschaft einen Ausflug nach Hohensyburg gemacht; abends im Ballsaale zu Limburg muß es Freiligrath außerordentlich wohl gefallen haben und er wollte nichts vom Nachhausefahren hören. Endlich gelang es Zulauff mit Mühe und Not, den Freund loszureißen, trotz der bösen Gesichter der Damen, die sich, meist junge Mädchen, klettengleich an den Dichter hingen und ihn nicht fortlassen wollten. Freiligrath stieg ärgerlichen Mutes in den Wagen und gab Zulauff auf ein scherzendes Wort eine barsche Antwort. Daraufhin ging dieser am nächsten Sonntag Morgen nicht wie gewöhnlich zu Freiligrath, sondern am Hause vorbei. Der Dichter lag im Schlafrock oben am Fenster und rief aus Leibeskräften Zulauffs Namen. Als dieser nunmehr, rasch begütigt, bei ihm eintrat, kam ihm Freiligrath entgegen mit einer Abschrift seines „O lieb’, so lang du lieben kannst“, und aller Hader war vergessen.
So sehen wir, wie dieses Mahnlied der Liebe in Freiligraths Händen zum Balsam für die Wunden ward, die er selbst unter dem Einfluß seines heißen Temperaments geschlagen, und mehr als einmal hat es seine herzbezwingende Kraft erprobt.