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Pariser Bilder (Die Gartenlaube 1866/40)

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Pariser Bilder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 631–632
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Paris
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[631] Pariser Bilder. Kürzlich hatte ich einmal gar keine Arbeitslust und bummelte auf den Straßen umher. Ich sehnte mich nach Deutschland und zwar um so lebhafter, je schwächer für mich damals die Aussichten waren heimkehren zu können. Unwillkürlich sang ich zu einer passenden Melodie die ersten Verse von Heines Gedicht:

„O Deutschland, meine ferne Liebe,
Gedenk’ ich Deiner, wein’ ich fast.“

„Ha, Freund Eugen,“ rief eine mir wohlbekannte Stimme, „wo kommen Sie her, wo gehen Sie hin?“

„Ich komme vom Hause und gehe in’s Blaue hinein.“

„Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, gehen Sie mit mir, meine Frau soll uns Thee machen, vielleicht kommt Mademoiselle Fleurette, und haben Sie heute Lust einen guten Zuhörer zu machen, so lese ich Ihnen mein neuestes kleines Lustspiel vor. Fleurette ist ein Mädchen voll Mutterwitz, sie hat mir schon manchen guten Wink gegeben, sie soll in dem Stück eine Hauptrolle spielen.“

„Ich danke für diese freundliche Einladung und nehme sie an.“

„Schön, erst aber muß ich noch einen Bekannten besuchen; wollen Sie mit mir hingehen?“

„Zu wem?“

[632] „Zu einem Herrn, der in diesem Augenblick den kranken Chef der Claque am Odeontheater vertritt; ich versprach ihm gestern ein Buch und will es bei ihm abgeben.“

„Finden Sie es nicht traurig für den Dichter und Künstler, daß es dahin gekommen ist, daß dieselben Claqueure brauchen?“

„Besser wäre es freilich, wir hätten das nothwendige Uebel nicht; indeß was ist zu thun? Das Publicum ist so indolent, und dann, wenn wir Autoren auch gern die Claque abschaffen wollten, die Darsteller leisten nicht so viel, wenn der Beifall des Publicums sie nicht erfreut; zwischen Künstler und Publicum muß Wechselwirkung stattfinden. Uebrigens was wollen Sie? Hatte nicht Nero schon seine Claqueurs? Ernsthaft gesprochen, bin auch ich empört über die Claque, welche den Talentlosen so dreist und unverschämt macht, aber was ist zu thun? Niemand kann gegen den Strom schwimmen! Doch da sind wir. Freund Louis wohnt dem Himmel näher als der Erde, dafür aber höchst behaglich, die Treppen sind etwas dunkel, folgen Sie mir nur.“

Dagobert, dies ist der Taufname meines Freundes, klopfte an Herrn Louis’ Thür und trat endlich in das Wohnzimmer des wichtigen Mannes. Herr Louis ist ein kleines, mageres Männchen. Was ihm an Größe abgeht, ersetzt er durch hohe Absätze, einen großen Schnurrbart, den er sehr sorgfältig pflegt, und eine aufrecht stehende ganz eigenthümliche Frisur. Als wir erschienen, ging er eben heftig auf und ab, gesticulirte dabei und hielt einen Brief in der rechten Hand, ungefähr mit dem Ingrimm wie ein travestirter Macbeth seinen Dolch.

„Ah, Herr M.,“ rief er und sein Gesicht klärte sich auf, „ich freue mich zwiefach Sie jetzt zu sehen, da kann ich doch mein Herz ausschütten. Großer Gott, wie viel Aerger hat ein Mann in meinem Berufe! Hören Sie nur, welchen Brief mir da Herr A. geschrieben hat.“

„Bester Herr Louis, erlauben Sie mir nur, Ihnen meinen Freund vorzustellen, Herrn Eugen –“

„Sehr erfreut, es ist mir genug, daß Sie dieses berühmten Autors Freund sind. Vielleicht auch Autor, kann ich dienen?“

„Schriftsteller allerdings, aber, wie Sie an meinem Accent wohl hören, ein Deutscher.“

„O, ich hätte Sie für einen Franzosen genommen. Sie können Alles hören, vielleicht sind bei Ihnen zu Lande die Schauspieler nicht so undankbar. Hören Sie nur, meine Herren,“ und lebhaft auf und abgehend und in allerhand theatralische Stellungen verfallend, las der geärgerte Vicechef der Claque: ‚Mein Herr Louis, ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen, Herr Louis, und fange an, Sie für meinen Feind zu halten. Was war das gestern Abend? Kein Empfang, in einer Rolle, in welcher ich das Publicum hinreiße, kein anständiger Applaus bei den Abgängen. Dagegen erbebte das Haus vom Händegeklatsch, als der lächerliche O. vor dem ersten Actschlusse seine stereotype Grimasse geschnitten hatte, und die kleine Intrigantin Fleurette erhielt ein Bouquet. Aber, mein lieber, theurer, mir allzutheurer Freund Louis,‘ – „theuer nennt mich dieser Breterheld, der sich gegen mich stets sehr schmutzig benommen,“ schaltete Herr Louis ein, um dann mit krächzender Stimme fortzufahren: ‚es muß, es soll anders werden, sonst werde ich an R. schreiben, und er wird sich nach einem andern Stellvertreter umsehen.‘ – „Was sagen Sie, verehrter Herr M.? Ist das gerecht? Kann ich es hindern, wenn das Publicum, das ganze unparteiische Publicum dem Herrn O. wie wahnsinnig applaudirt? Darf ich es dem tollen Baron von V. verbieten, daß er der hübschen, pikanten Fleurette einen Rosenstrauß auf die Bühne wirft? Und doch hat Herr A. sehr viel Einfluß; er kann mich stürzen, ich muß also seinen Willen thun.“

Es wurde gepocht, auf Herrn Louis’ Ruf trat ein großer, gut gekleideter, etwas trinklustig aussehender Mann herein.

„Guten Tag, Herr Louis, ich habe die Ehre mich Ihnen als Bruder von Herrn Maçon vorzustellen. Er ist heute verhindert in das Theater zu gehen, und läßt Sie bitten, mich als Stellvertreter anzunehmen.“

„Gut, hat er Sie bereits instruirt?“

„Oberflächlich, ich soll tüchtig applaudiren.“

„Tüchtig applaudiren? Als ob es damit gethan wäre, daß man die Hände zusammenschlägt, wie Kinder, wenn sie ‚backe, backe Kuchen‘ oder ‚pitschi patschi‘ machen. Mann, Ihre Unwissenheit flößt mir wahrhaft Mitleid ein. Wie oft waren Sie in Ihrem Leben im Theater?“

„Hm, seit ich in Paris bin, alle Jahre einige Mal.“

„Armer Mensch! Doch Sie haben eine hohe Gestalt und große Hände. Als Solist werden Sie wohl niemals Ihren Bruder erreichen, aber im Chor sicher verwendbar sein.“

„Im Chor? Herr Louis, ich kann nicht singen, habe gar keine Stimme.“

„O, Ignorant ohne Gleichen! Wissen Sie denn nicht, daß es sich durchaus nicht um das Singen handelt? Ihr Bruder ist Solist; das ist so zu verstehen, passen Sie auf, Herr Maçon. Es kommt zum Beispiel Mademoiselle R. in einem bezaubernden Gewande, sie schwebt nur, sie lächelt. Der Chor der Claque applaudirt ihr, der Solist dagegen benutzt einen ruhigen Moment, er legt die Hand auf das Herz und seufzt, aber so laut und dabei doch so fein, daß es das ganze Haus hört; dabei flüstert er: ‚Sublim! göttlich!‘ Verstehen Sie mich, Herr Maçon?“

„Vollkommen, Herr Louis.“

„Ein andres Mal wird ein neues Lustspiel aufgeführt. Die Witze darin sind selten und nicht prägnant, jetzt kommt eine Bemerkung im Dialog, welche der Bonvivant macht, da hat der Solist ein Gelächter zu leisten, aber nicht gezwungen, sondern frisch, herzlich. Damit ist aber noch nicht Alles gethan, der Solist hat sein Gesicht in so komischer Weise zu verziehen, daß seine Nachbarn, falls sie den Witz des Autors nicht belachen, über den Solisten lachen. Nichts ist ansteckender, als das Lachen; also ist der Solist fähig, einen Act – was sag ich, einen Act? er ist fähig ein Stück zu retten!“

„Das begreife ich, Herr Louis.“

„Schön, sobald Sie die Wichtigkeit Ihres Berufes erkennen, sind Sie schon auf dem Wege ein guter Solist zu werden. Für heute ist die Zeit zu kurz, um Ihnen mehr Belehrungen zugehen zu lassen. Sie müssen, bevor Sie in das Theater gehen, noch das heutige Stück lesen. Hier ist es. Merken Sie auf alle Randbemerkungen, und führen Sie die Angaben geschickt aus. Ich werde Sie beobachten.“

„Ganz wohl; guten Abend, Herr Louis; guten Abend, meine Herren.“

„Halt, noch Eins. Ihr Bruder ruft bei’m Erscheinen der Mademoiselle Fleurette gewöhnlich: ‚Schön‘ oder ‚göttlich!‘ – Sie dürfen dieselben Worte nicht brauchen, schon der Nachbarn wegen nicht. Nehmen wir: ‚lieblich‘, ‚graziös!‘ oder ‚bewundernswerth, himmlisch!‘“

Herr Maçon empfahl sich. Mein Freund wechselte noch einige Worte mit Herrn Louis, plötzlich wurde eine laute Frauenstimme im Vorgemach hörbar, die eine leisere zu übertönen suchte.

„Ich muß aber Herrn Louis sprechen, ich bin schon dreimal hier gewesen. Soll ich stets vergebens kommen?“

„Was ist nun wieder das ?“ brummte Herr Louis, „Ich will Nachmittags nur für meine Freunde zu sprechen sein.“

Die Dame im Vorgemach schien sich wenig um den Wunsch des Herrn Louis zu kümmern. Sie schob die Dienerin auf die Seite und drang in das Heiligthum. Louis warf mit gerunzelter Stirn einen finstern Blick auf sie, doch seine Physiognomie veränderte sich bald, denn vor uns stand eine noch junge, elegant gekleidete Dame mit höchst interessantem Gesicht.

„Ich muß mich selbst vorstellen,“ sagte sie mit einer anmuthigen Verbeugung. „Mein Name ist Claire Leoni; ich hörte, daß Sie, Herr Louis, gegenwärtig Vicechef der Claque sind, und möchte mit Ihnen sprechen.“

„Stehe zu Diensten, mit Vergnügen zu Diensten. Erlauben Sie mir, Ihnen hier den dramatischen Dichter Dagobert vorzustellen –“

„Ich habe bereits die Ehre, ich kenne alle Dramen dieses Herrn und sah ihn schon mehrmals, als derselbe gerufen wurde.“

„Sehr gütig, daß Sie sich meiner erinnern, Mademoiselle,“ sprach, Dagobert, sich verbindlich verbeugend.

„Wie kann ich Ihnen dienen? Wann, in welchem Stück treten Sie auf?“

„Ich bin nicht Schauspielerin, Herr Louis, sondern ich war bei’m Theatre Français engagirt als Solistin der Claque. Ich saß zuweilen im Parterre, da war es meine Aufgabe, zur rechten Zeit das Taschentuch an die Augen zu halten und zu weinen; zuweilen hatte ich meinen Platz in einer Loge, da sank ich in Ohnmacht bei den Auftritten, die geeignet sind, Frauen, welche zarte Nerven haben, zu erschüttern.“

„Aha,“ rief Dagobert, „Sie sind die schöne Marchesa, von welcher es in den Journalen hieß: ‚Besonders hinreißend ist die große Scene im vierten Act. Eine junge bezaubernde Marchesa wurde von der vom Dichter mit Meisterschaft zur Anschauung gebrachten Situation Angela’s so tief erschüttert, daß sie ohnmächtig ward. Ein Hauptmann von der Garde trug sie an die Luft.‘“

„Ja, das bin ich gewesen,“ rief Mademoiselle Claire und lachte.

„Und am nächsten Abend gingen Hunderte in das Theater, in der Hoffnung vielleicht die schöne Marchesa zu sehen,“ sagte Herr Louis.

Mademoiselle Claire ließ diese Schmeichelei fallen, sie sagte: „Ich muß einmal den Schauplatz wechseln, das Publicum des Theatre Français kennt mich jetzt. Ich wünschte im Odeontheater thätig zu sein. Ist ein Platz frei?“

„Ich glaube wohl, Mademoiselle, und wenn auch nicht, für eine so bezaubernde Dame, wie Sie sind, Mademoiselle, wird Platz gemacht. Ich will noch heute mit dem Chef sprechen und werde die Ehre haben Ihnen morgen zu schreiben.“

„Ich verlasse mich darauf, Herr Louis.“

Die Dame machte eine reizende Verbeugung und entfernte sich.

„Ein anziehendes Wesen, sie wird unserm Theater nützlich sein,“ bemerkte Herr Louis.

Wir verließen den würdigen Mann, welcher mit einer Ernsthaftigkeit sprach, die für mich etwas höchst Komisches hatte.

„Ich glaube nicht,“ sagte ich draußen zu Dagobert, „daß in Deutschland ein junges hübsches Mädchen diese Art von Thätigkeit anziehend fände, denn ich bin geneigt, Mademoiselle Claire Leoni für ein anständiges Mädchen zu halten.“

„Auch ich,“ antwortete mein Freund; „wahrscheinlich ist sie von Haus aus arm und hält es für sittlicher sich als Solistin der Claque zu ernähren, denn als Lorette. Mit der Nadel erwirbt sie unmöglich so viel, als wenn sie, da sie schön und graziös ist, zur rechten Zeit im Trauerspiel und Schauspiel in Ohnmacht fällt.“