Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt (3)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Paul Lindenberg
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt. III.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 704–708
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Verbrecherkartei der Berliner Polizei
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[704]
III.
Das Verbrecheralbum und andere Register. – Vigilanten. – Eigenschaften, Abzeichen und Bewaffnung der Kriminalbeamten.

Die Hilfsmittel, welche der Kriminalpolizei bei der Jagd auf den Verbrecher zu Gebote stehen, sind ebenso mannigfach wie sinnreich und versetzen den, der zum ersten Mal einen Einblick in dieselben erhält, in das lebhafteste Erstaunen. Obenan steht das Verbrecheralbum.

Ja, die Photographie ist ein getreuer Bundesgenosse bei der Ueberführung eines Schuldigen und der Vertheidigung eines Unschuldigen geworden. Mehr und mehr wird daher die photographische Wissenschaft von der Polizei zu Hilfe gezogen. Nicht nur, daß man Verbrecher und Verdächtige photographiert und ihre Bilder in Hunderten von Exemplaren an die auswärtigen Polizeibehörden versendet, damit diese erforderlichenfalls den Betreffenden bei „Gastreisen“ die nöthige Aufmerksamkeit schenken oder die Flüchtigen ergreifen; auch andere Dinge, die für die Aufklärung eines Verbrechens von Wichtigkeit sind, werden durch die Platte festgehalten und tragen durch ihre photographische Verbreitung zur Entdeckung bei.

Vor mehreren Jahren war in Berlin eine alleinstehende Frau ermordet und beraubt worden. Man hatte keinerlei Anhaltspunkte, wer der Mörder sein könnte, außer einem Zettel, welcher in der Wohnung unter den Sachen der Ermordeten gefunden wurde und zwei Zeilen Schrift von einer männlichen Hand enthielt, natürlich ohne daß ein Name genannt war. Diesen Zettel ließ die Polizei photographieren und den Berliner Zeitungen in Abzügen zustellen mit der Bitte um Veröffentlichung. Es geschah, der Schreiber eines Rechtsanwalts sah in einer Zeitung die Handschrift, sie kam ihm bekannt vor, er blätterte die Akten durch und traf wirklich bei einer Zeugenaussage auf dieselbe Schrift. Sofort benachrichtigte er die Polizei, diese verhaftete jenen Zeugen und stellte nach kürzester Zeit in ihm den Mörder fest.

In einem anderen Fall wirkte die Photographie als Retter eines Unschuldigen: ein junges Mädchen war ermordet und ein Mann als muthmaßlicher Thäter eingezogen worden; an der Schulter des Mädchens hatte man ein Haar gefunden, welches man für ein Barthaar des Angeklagten hielt. Die durch Photographie erzielte sechzehnhundertfache Vergrößerung des Haares zeigte aber, daß dasselbe von einem Hunde stamme, und zwar von einem älteren, gelben, kurzhaarigen, und in dem Besitzer eines solchen Hundes wurde denn auch später der Mörder ermittelt.

Kriminal-Polizeiinspektor v. Meerscheidt-Hüllessem,
der Gründer des Verbrecheralbums.

Namentlich bei der Untersuchung, ob Blutspuren von Menschen oder Thieren herrühren, ist die Photographie von größter Wichtigkeit. Ein eines Mordes Verdächtiger, an dessen Kleidung sich Blutflecken befanden, behauptete, daß diese von einer Ziege herrührten, die er geschlachtet habe, und er konnte auch die Wahrheit seiner Aussage nachweisen. Die Photographie aber zeigte bei zehntausendfacher Vergrößerung, daß außer dem Ziegenblut noch Menschenblut an dem Rock klebte, und der Verhaftete wurde seiner Schuld überführt.

[705] Aehnliche große Dienste leistet die Photographie bei Entdeckung von Urkundenfälschungen, da die verschiedenen Tinten im Bilde je nach ihrer chemischen Zusammensetzung verschieden erscheinen. So war einmal ein Zeuge zum 21. eines Monats vor Gericht geladen; er hatte die Frist versäumt und dann, um der kleinen Geldstrafe zu entgehen, aus der 1 eine 4 gemacht; die Photographie wies ihm seine „Verbesserung“ nach, und er erhielt wegen Urkundenfälschung eine Gefängnißstrafe. Auch Radierungen treten in der vergrößerten photographischen Abbildung deutlich hervor, welche so die Entlarvung manches klug angelegten Betruges zur Folge gehabt hat.

Doch nun zum Verbrecheralbum! Auf seine Einrichtung und seinen Umfang darf die Berliner Kriminalpolizei mit vollem Recht stolz sein, denn es hat sich in unzähligen Fällen als ein unschätzbares Hilfsmittel erwiesen. Seine eigentliche Anlage verdankt es der Umsicht des Inspektors der Kriminalpolizei, des um letztere hochverdienten Herrn von Meerscheidt-Hüllessem, der sich 1876 für seine persönlichen Zwecke eine Sammlung von Photographien aller möglichen Verbrecher anlegte und diese rasch erweiterte, bis er sie zum Besten des Dienstes an die Polizei abtrat. Heute besteht das vielgerühmte „Verbrecheralbum“ aus zwölf dunkel eingebundenen Großfoliobänden und enthält insgesammt an achttausend Photographien, von dem mehrfachen Mörder an, bei welchem ein Kreuz auf einem Grabhügel seine Hinrichtung bedeutet, bis zu der zwölfjährigen Spitzbübin, die in einem Laden einige Meter Seidenband gestohlen. Die Eintheilung der Bände ist folgende: I. Mörder und Einbrecher. II. Taschendiebe. III. Laden- und Marktdiebe. IV. Schlafstellendiebe. V. Bauernfänger. VI. Hochstapler, Fälscher, Betrüger. VII. Boden-, Colli-, Paletot-, Billardball-, Gasarm- und Thürklinkendiebe. VIII. Verschiedene Verbrecher, die keine „Spezialität“ erwählt haben. IX. Dirnen, welche stehlen. X. Zuhälter. XI. Photographien von auswärts, Landstreicher. XII. Photographien internationaler Diebe und Betrüger.

Man sieht, eine nette Sammlung, mit deren einzelnen Typen wir uns später zu beschäftigen haben werden.

Jeder Photographie sind nähere Angaben über den Photographierten beigefügt: zunächst der Name, dann sein Körpermaß, weiter eine kurze Personalbeschreibung. Also zum Beispiel: „187. Friedrich Karl Schulze. 1,73. Haar schwarzbraun, Augen braun, Nase lang und schmal, Lippen aufgeworfen, Schnurrbart braun.“ Oder: „510. Ernst August Lehmann. 1,85. Haar dunkelblond, kraus, etwas meliert, Augen blaugrau, Nase gestülpt, Vollbart dunkelblond, Stirn links eine gezackte weiße Narbe, nach unten gebogen.“

Beim Photographieren für das Verbrecheralbum.

Die Durchsicht dieser Bände ist einerseits sehr fesselnd, andrerseits wieder in höchstem Grade abstoßend; zwar entspricht es nicht eigentlich den Thatsachen, wenn man von einem „Verbrechertypus“ spricht, denn manche dieser Mörder und Einbrecher sehen äußerst harmlos aus und würden selbst gewiegte Physiognomiker irreführen. Dann aber kommen wieder Gesichter vor, die soviel Rohheit, Heimtücke und Haß ausdrücken, daß man sich mit Entsetzen abwendet. Unter den Bauernfängern fällt uns eine ganze Reihe eleganter Erscheinungen auf, die, wenn man sie irgendwo träfe, niemals den Verdacht erwecken würden, daß ihres Daseins einziger Zweck Betrug und Gaunerei ist. Auch unter den „Damen“ fehlt es nicht an reizvollen, scheinbar vornehmen Gestalten, ebenso wenig unter den internationalen Dieben, die mehrere Sprachen gewandt sprechen und geschickt mit dem Ordensbändchen im Knopfloch zu kokettieren verstehen. Für Mannigfaltigkeit in der Toilette ist ebenfalls gesorgt: hier sehen wir eine vom Ball weg in Haft gebrachte schlanke Blondine in pikantem Maskenkostüm, dort eine Marktdiebin mit dem Korb in der Hand, einen Einbrecher als Postboten verkleidet, einen Collidieb in der Tracht eines Rollkutschers, eine ganze Zahl von Männern in Frauenkleidungen, einen Paletotdieb, den dürren Körper in zwei gestohlene Ueberzieher gehüllt, einen mit Schaffellmütze und Schnürrock versehenen Perser, der gelegentlich eines kleinen Einkaufes in einem Juweliergeschäft mehrere Diamantringe „aus Versehen“ einsteckte, und einen Mulatten, der umfassende Gasthofschwindeleien verübte.

Manche der Bilder zeigen uns, daß es den also Ausgezeichneten durchaus nicht erwünscht war, gratis abkonterfeit zu werden, mehrfach sieht man theilweise oder vollständig verzerrte Gesichter, hier ein zugekniffenes Auge, dort einen verzogenen Mund oder eine heruntergeklappte Kinnlade. Auf anderen Porträts erblickt man den Verbrecher in der Zwangsjacke, oder es werden als Randverzierung die Hände und die Gestalten der Polizisten sichtbar, welche den zu Photographierenden mit Gewalt auf seinen Sitz niederdrücken. Früher mußten derartige Maßregeln, die in schroffem Gegensatz zu dem sonstigen: „Bitte, recht freundlich!“ der Photographen stehen, häufiger angewendet werden, heute macht die Blitzphotographie ihrem Namen zu sehr Ehre, als daß der Verbrecher zu besonderen Verstellungen noch Zeit behielte.

Das photographische Atelier befindet sich dicht bei den Zimmern des Inspektors der Kriminalpolizei und besteht aus einem kleinen halbdunklen Raum, in welchem stets Gas brennt; an zwei Seiten flackern mehrere Spiritusflammen, ein leichter Druck auf einen Gummiball entzündet das Magnesiumpulver, bei dessen Licht photographiert wird, und im selben Augenblick ist auch schon die Aufnahme fertig, die fast immer lebendig und anschaulich ausfällt. Ist der Verbrecher halsstarrig, so schreitet man gegenwärtig nur noch im äußersten Nothfalle zur Gewalt, meistens versucht man durch List, ihn zur Ruhe zu bringen; ein Beamter plaudert mit ihm oder stellt sich, als ob er ihn verhöre, Akten werden ihm vorgelegt und Fragen an ihn gestellt, bis plötzlich das Magnesium aufzischt und der Beamte ironisch lächelnd sagt: „Schönsten Dank, das Bild wird vorzüglich werden!“ Kann man aber einen Verbrecher um keinen Preis zum „ruhigen Sitzen“ bringen, so wird er, ohne daß er es merkt, während einer Verhandlung oder eines Verhörs gezeichnet; nach dieser Zeichnung fertigt man dann eine Photographie an. Von jeder Photographie werden vier Abzüge gemacht: [706] einer kommt in das Verbrecheralbum, einer in die Personalakten, den dritten erhält der Vorstand der Kriminalabtheilung und der vierte gelangt an die Beamten derselben zur genauen Kenntnißnahme.

Welche Dienste das Verbrecheralbum thut, geht am besten daraus hervor, daß es täglich mehrfach benutzt wird und jährlich einige hundert Entdeckungen vermittelt.

Eine Dame hat ein Dienstmädchen angenommen und ist mit dem bescheidenen, fleißigen, am liebsten Plattdeutsch sprechenden Landkinde sehr zufrieden; nach acht Tagen jedoch ist die Küchenfee verschwunden und mit ihr allerhand Wäsche, Kleider, Gold- und Silbersachen aus dem Besitze der Herrschaft; man räth der Dame, sich an die Kriminalpolizei zu wenden, und hier legt man ihr sofort das Verbrecheralbum, Band IX, vor. „Auf der sechsten Seite wird sie wohl sein, diese Emma Schubel,“ sagt mit ruhiger Bestimmtheit der Beamte. „Sie hieß aber Auguste Pechow,“ versetzt schüchtern die Dame. „O, die hat noch mehr Namen, auch adlige, – sehen Sie her, diese ist es doch?“ und der Kriminalbeamte weist auf eine der Photographien. Aber die Dame schüttelt den Kopf: „Nein, nein, das ist sie nicht!“, denn ihr blickt eine vornehme Salonerscheinung entgegen, in enganschließendem Sammetjaquet, mit modernem Hütchen, unter dem kunstvolle Löckchen hervorgucken, mit dem zierlichsten Sonnenschirm und den elegantesten Handschuhen. „Sie wird’s wohl doch sein,“ meint der Polizist, „diese Emma Schubel liebt die Verkleidungen: heute Baronin und morgen Dienstmädchen, dann wieder Bonne oder Stütze der Hausfrau; aber wir haben ja mehrere Aufnahmen von ihr – wie steht’s denn mit dieser?“ und er zeigt auf ein hübsches Dienstmädchen mit einem Hamburger Häubchen auf dem glattgescheitelten Haar, mit weißer Schürze und baumwollenem Kleide. „Ja, das ist die Auguste!“, ruft die Dame fast erschrocken aus. – „Ja, ja, die macht gern solche Späße,“ versetzt der Beamte, „wir müssen uns beeilen, sie zu fassen, sonst finden wir von den Sachen überhaupt nichts mehr; ’s ist ’ne alte Bekannte von uns, sechsmal bestraft!“ –

Aus dem Verbrecheralbum:
Taschendieb.

Neuerdings hat die Berliner Kriminalpolizei auch die Messungen der Verbrecher eingeführt, gemäß dem[WS 1] von Dr. Bertillon in Paris begründeten „anthropometrischen System“, welches, gestützt auf die Ergebnisse der Anatomie, in der Messung gewisser Gliedmaßen besteht und auf diesem Wege das spätere Wiedererkennen erleichtern will. In Berlin geht man nicht so weit wie in Paris, man nimmt hier nur vier Messungen vor, die der Schädellänge, der Schädelbreite, der Länge des Mittelfingers der linken Hand und der Länge des linken Armes vom Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers. Ob und wie sich diese Messungen in der Praxis bewähren, kann erst nach einer längeren Erfahrung entschieden werden.

In Verbindung mit dem Verbrecheralbum stehen die Registerblätter sowie die Merkmalverzeichnisse, welch letztere noch als Anhang eine Sammlung der Verbrecherspitznamen haben. Die Registerblätter, deren Nummern mit denen des Verbrecheralbums gleichlaufen, enthalten die für die Untersuchung nothwendigen Personalangaben. Angenommen, ein Dieb sei aus dem Verbrecheralbum festgestellt worden. Nummer 310 steht unter seiner Photographie; schlägt nun der Beamte Nummer 310 der Registerblätter auf, so findet er zunächst nochmals ein Bild des Diebes, neben diesem sodann die schriftlichen Ergänzungen: „Himmelmann, Friedrich (eigentlich Herschel); Schuhmacher, Handelsmann. Geboren 7. März 1853 in Warschau. W. 2931, A. G. (Aktennummern der Warschauer Polizei). 1883 wegen bandenmäßigen Taschendiebstahls zu Saarlouis – 2 Jahre Zuchthaus. 10. April 1884 Taschendiebstahl (Constanz) – 2 Monate Gefängniß. 13. Juli 1888 Bandendiebstahl (Bonn) – 2 Jahre 9 Monate Zuchthaus.“ Mit Leichtigkeit kann der Kriminalkommissar oder Untersuchungsrichter sich nun weitere Aufschlüsse über diesen Dieb verschaffen.

Taschendiebin.

Die Merkmalverzeichnisse, welche gleichfalls einen sehr starken Großfolioband füllen, sind eingetheilt nach Haaren, Augen, Nasen. Ohren, Händen, Füßen, Narben, Buckel, Tätowierungen und Stottern. Schlagen wir einmal das Kapitel der Nasen auf, so finden wir beispielsweise: „Thiele, Ernst, 2201 (dies ist wieder die Nummer der Registerblätter, folglich auch die des Verbrecheralbums), Nasenrücken nach links gebogen“; bei den Füßen etwa: „Werktag, Friedrich, 751, das linke Bein kürzer als das rechte,“ oder bei den Tätowierungen, die man häufig bei den Verbrechern antrifft: „Schmidt, Ernst, 6610, auf der Brust einen Adler, auf dem rechten Arm zwei gekreuzte Schwerter, einen Engel und eine Frau, auf dem linken Arm ein Schlächterwappen und eine Schlange.“ –

Ganz merkwürdig ist die alphabetische Zusammenstellung der Verbrecherspitznamen, theils mit den Vornamen, theils mit dem Geburtsort oder den ehemaligen Gewerben oder endlich mit dem Aeußern ihres Trägers in Verbindung stehen. Diese Aufzeichnungen lauten etwa: „Kellner-Emil. – Emil Bäcker, Kellner; 21. Mai 1862 geb. in Berlin. – Einbrecher.“ Oder: „Stralsunder Albert. – Albert Brutz, Schlächter; 18. Juni 1856 geb. in Stralsund. – Bauernfänger.“ Oder: „Karambolagen-August. – Karl Friedrich Ernst Schneider, gen. Schulze; 4. Januar 1859 geb. in Berlin. – Einbrecher.“ – Um nur noch einige Namen zu nennen, erwähnen wir, daß die Berliner Verbrecherwelt einen „Totenkopf“, „Ulanen-Otto“, „Bäcker-Ede“, „Grauen Anton“, „Matrosen-Albert“, „Kameruner-Fritze“, „Glatzköpfigen Adolf“, „Schwarzen-Richard“, „Kühnen Oswald“, „Maler-Gustav“, „Sammetkäppchen“, „Blonden August“, „Studenten-Oswald“, „Kuchen-Otto“ etc. kennt.

Alter Einbrecher und Totschläger.

Auch diese Zusammenstellung von Spitznamen hat schon manchen Vortheil gebracht. Einst war in der Mauerstraße ein verwegener Einbruchsdiebstabl verübt worden und man fahndete vergeblich auf die Thäter; da meldete sich eines Tages ein in derselben Straße wohnender Handwerker bei der Kriminalpolizei und theilte mit, sein zwölfjähriger Sohn habe mehrere Abende hindurch zwei Männer vor der Hausthür getroffen, von denen er zufällig zweimal den Namen „Rother Otto“ gehört habe. Die Kriminalpolizei ließ von nun an den „Rothen Otto“, auf den sie bis dahin keinerlei Verdacht gehabt hatte, scharf beobachten, dann Haussuchungen bei ihm halten und entlarvte ihn richtig als einen der bei jenem Einbruch betheiligten Verbrecher.

Sehr umfangreich ist ferner das Material, um jener Betrüger habhaft zu werden, die in Handschriftenfälschungen und Stempelnachahmungen „arbeiten“. Ein vielumfassender Kasten ist ganz mit derartigen Fälschungen gefüllt, und auf jedem Blatt steht der Name des Fälschers. Nehmen wir an, auf Grund eines gefälschten Briefes oder Firmastempels sei bei einem Kaufmann ein Posten Waren entnommen worden und der Geschädigte setze unter Vorlegung des gefälschten Schriftstücks die Kriminalpolizei davon in Kenntniß. Ist der Betrüger nicht ein „Neuling“, so darf man mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, daß sich unter den vorhandenen Papieren schon eine Fälschung von ihm befindet und er durch den mit dieser Aufgabe [707] betrauten und in der Schriftkunde sehr erfahrenen Beamten leicht entdeckt wird.

Scheinbar sehr umständlich und doch ungemein einfach ist auch die Einrichtung, daß binnen zwei Stunden sämmtliche Berliner Gasthöfe und Pensionate von der Polizei durchsucht werden können, um zu erforschen, ob ein von auswärts nach Berlin geflüchteter Verbrecher sich in einem derselben verborgen hält. Berlin ist in dreißig Bezirke eingetheilt; die Gasthäuser und Fremdenwohnungen jedes Bezirks sind auf je einem Blatt verzeichnet. Soll nun eine derartige „Razzia“ stattfinden, so werden dreißig Kriminalbeamte abgesandt, von denen jeder die auf seinem Blatt verzeichneten Häuser zu durchsuchen hat; nach zwei Stunden kann jeder an den Chef berichten, ob die Untersuchung von Erfolg begleitet war oder nicht.

Mörder.

So groß auch diese Hilfsmittel der Kriminalpolizei sind, so reichen sie doch nicht aus, um den Kampf mit dem Berliner Verbrecherthum siegreich durchzuführen – es gehören auch noch dazu lebende Unterstützungstruppen, und dies sind die sogenannten „Vigilanten“ oder „Fünfgroschenjungen“; den letzteren Namen führen sie noch von jenen Zeiten her, wo sie für jeden ihrer Dienste fünf Silbergroschen erhalten haben sollen. Die Vigilanten sind meist aus den Verbrecherkreisen hervorgegangen oder halten mit diesen doch so enge Fühlung, daß man sie zu ihnen rechnen kann; sie bekommen auf diese Weise manche Kunde von einem beabsichtigten Streich und theilen ihre Beobachtungen der Polizei rechtzeitig mit, sodaß diese ihre Maßregeln zu treffen vermag. Sind die Verbrecher erst dahintergekommen, daß einer der Ihrigen den Angeber spielt, so ist dieser auf alle Zeiten verfehmt; oder aber er wird zum unabsichtlichen Werkzeug seiner früheren Genossen, indem sie ihm absichtlich falsche Nachrichten zutragen und auf solche Weise die Polizei täuschen. Zuweilen steht auch der Vigilant gleichzeitig in den Diensten der Polizei und der Verbrecher, das heißt, er dient der Partei, welche ihn am besten bezahlt, und läßt sich insbesondere von seiten der Verbrecher sein Schweigen theuer bezahlen. Fast immer hat man es hier mit unlauteren, wenig verläßlichen Charakteren zu thun, aber die Kriminalpolizei kann der Vigilanten nicht entbehren und muß ihre Zuträgereien beachten.

Bauernfänger.

Vor allem gilt jedoch auch bei der Kriminalpolizei wieder das Wort: „Hilf Dir selbst!“ und die Kriminalbeamten sind in den meisten Fällen einzig auf ihre eigene Thätigkeit angewiesen; Willenskraft, Findigkeit, gewandtes Wesen, Verstellungskunst, körperliche Stärke – das sind etwa die Eigenschaften, über die ein tüchtiger Kriminalbeamter verfügen muß, wenn er Hervorragendes leisten will. Ihre Pflichten sind die schwersten, die man sich denken kann, ihre Entschlüsse können Menschenleben retten, können aber auch ganze Familien in Unglück und Elend stürzen. Oft in persönlicher Gefahr, im Kampfe mit dem Abschaum der Menschheit, müssen sie stets Ruhe und Klugheit bewahren, eingedenk ihrer großen Verantwortlichkeit. An ihren Scharfsinn werden die weitesten Ansprüche gestellt: heute auf der Spur eines durchgegangenen Kassierers, steht der Beamte in der Tracht eines Packträgers auf einem der Bahnhöfe, anscheinend den soeben eingetroffenen Reisenden keinerlei Beachtung schenkend und doch jeden aufs genaueste beobachtend; morgen finden wir ihn in eleganter Kleidung unter den „Linden“, wo er den naiven Fremden spielt, um diesen oder jenen Gauner anzulocken; an einem der nächsten Tage folgt er, als Arbeiter verkeidet, einem verdächtigen Verbrecher auf Schritt und Tritt durch Berlin, gesellt sich in Kneipen unauffällig zu ihm und beobachtet dort seinen Verkehr. Oder er läßt sich in eine Wohnung einschließen, in welche Diebe einzubrechen beabsichtigen, und überrascht die Herren, wenn sie in emsiger Thätigkeit sind. –

Kriminalbeamte, als Packträger verkleidet.

Kriminalbeamte und Verbrecher stehen – Ausnahmen sind selbstverständlich auch vorhanden – durchaus nicht auf so gespanntem Fuße, wie man annehmen sollte. Der Verbrecher sieht natürlich in dem Kriminalisten seinen Feind, aber wie er von der Wahrheit seines Grundsatzes: „Eigenthum ist Diebstahl“ überzeugt ist, so ist er es auch davon, daß es eben der Beruf des Kriminalisten ist, ihn, den Verbrecher, zu verfolgen und möglichst unschädlich zu machen; das ist dessen Amt und dafür wird er bezahlt; man kann ihm also die Sache nicht gar so übelnehmen! Ja, man ist versucht, zu sagen, es bestehe zuweilen zwischen diesen sich so schroff gegenüberstehenden Parteien eine Art gegenseitiger Achtung vor der List und Mühe, mit der man einander habhaft zu werden, beziehungsweise einander zu entgehen sucht, und es ist nichts Seltenes, daß man aus dem Munde eines Verbrechers das Lob eines besonders tüchtigen Kriminalbeamten vernimmt. Es kommen daher auch nur wenig blutige Kämpfe zwischen Kriminalbeamten und Verbrechern vor, und es kann sogar sein, daß Vertreter beider Gattungen einträchtig bei einem Glase Bier sitzen und von ihren Erlebnissen berichten, wenn so ein Spitzbube gerade seine letzte Strafe verbüßt und eine neue noch nicht verwirkt hat.

Die Hauptmasse der Kriminalbeamten bilden die Kriminalschutzmänner. Sie sind aus der uniformierten Schutzmannschaft hervorgegangen, aus der sie zunächst versuchsweise auf sechs Monate entnommen und der Kriminalpolizei zugetheilt werden; bewähren sie sich, so treten sie endgültig in deren Dienst ein und hängen die Schutzmannsuniform für immer an den Nagel, da sie in ihrer neuen Eigenschaft nur Civil tragen. Ihr Erkennungszeichen ist eine thalergroße Medaille aus Metall, welche auf der einen Seite den Adler über der Stadt Berlin, auf der anderen die Worte [708] „Königlich Preußischer Polizeibeamter“ sowie die Nummer der Medaille trägt. Auf Grund dieses Zeichens kann jeder Kriminalbeamte sofort Verhaftungen vornehmen und die Hilfe der uniformierten Polizeimacht beanspruchen.

Eine Bewaffnung der Kriminalbeamten, und zwar mit Revolvern, ist erst vor kurzer Zeit verfügt worden. Die Leute benutzen die Waffe jedoch nur in den alleräußersten Nothfällen – wie vor einigen Monaten, wo ein Kriminalbeamter einen Einbrecher, übrigens nicht einmal mit Absicht, erschoß; sonst vertrauen sie ihrer Körperkraft, die sie denn auch fast nie im Stiche läßt. Ebenso selten verwenden sie bei der Weiterbeförderung eines Verhafteten die Handschellen. Es sind dies zwei kleine, an einem kurzen aus feinen Darmsaiten gedrehten Strick befindliche Holzknebel, welche der Beamte in der linken Hand behält, nachdem er den Strick um das rechte Handgelenk des Verhafteten geschlungen hat; bei der geringsten fluchtähnlichen Bewegung des letzteren schneidet der Strick aufs empfindlichste in das Fleisch ein; zudem hat der Beamte stets die rechte Hand frei, um jeden Widerstand seines Gefangenen bewältigen zu können. –

Mit jedem neuen Tage treten an die Kriminalpolizei neue Aufgaben heran, und mit jedem Tage wächst ihre Arbeitslast, die bewunderungswürdig schnell und sicher erledigt wird; nimmt man doch an, daß gegenwärtig in Berlin 30000 Menschen auf verbrecherische Weise ihren Erwerb suchen!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: em