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Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt (4)

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Autor: Paul Lindenberg
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Titel: Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt. IV.
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 812–816
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Diebeswesen in Berlin
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Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.

Von Paul Lindenberg. Mit Abbildungen von L. Manzel
IV.
Einbrecher und Diebe. – Der „Corpsgeist“. – Gaunerrothwelsch und Verbrechernamen.

Es giebt in Berlin keine gewerbsmäßigen Räuber und Mörder“ – so erklärte vor einigen Jahren anläßlich des Dickhoffschen Mordprozesses ein ebenso gewiegter wie mit den Nachtseiten der Residenz vertrauter Kriminalist, und seine Worte kennzeichnen das Berliner Verbrecherthum vollkommen zutreffend. Den eigentlichen „Kern“ des letzteren bilden die Diebe, welche sich in die verschiedensten Klassen und Gruppen theilen, vom verwegenen Einbrecher an, der planmäßig, nach wochenlangen Vorarbeiten, mit mehreren Gefährten den nächtlichen Angriff auf die eisengepanzerten Geldschränke eines Bankhauses unternimmt, bis zu dem gewohnheitsmäßigen Gelegenheitsdieb, der von früh bis spät durch die Straßen streift und aufmerksam seine Augen umherwandern läßt, wo er durch einen geschickten schnellen Griff irgend einen Gegenstand in seine Taschen oder Mantelfalten verschwinden lassen kann. Ein zu Raubzwecken vorher ausgeklügelter und entschlossen durchgeführter Mord kommt äußerst selten in Berlin vor; die Mordthaten werden zumeist von Einbrechern begangen, die bei ihrem dunklen Werke überrascht werden und keinen anderen Ausweg mehr finden können, als über die Körper der Entdecker hinweg. Aber auch dies geschieht nur im alleräußersten Falle und nur von seiten der tollkühnsten Verbrecher, die bei Ertappung wegen ihrer Vorstrafen eine langjährige Zuchthausstrafe zu gewärtigen haben und aus diesem Grunde vor dem Furchtbarsten nicht scheuen. Die Mehrzahl der Berliner Verbrecher schreckt vor Blut zurück. Ein großer Theil der jährlich in Berlin vorkommenden Mordthaten hat mit der gewohnheitsmäßigen Verbrecherwelt nichts zu thun; Haß, Neid, Eifersucht, Rache, Jähzorn, Verzweiflung sind in den weitaus meisten Fällen die Beweggründe.

Daß die Zahl der Verbrecher in Berlin eine so beträchtliche ist, liegt in dem Wesen der Millionenstadt, in der Masse fremder, unruhiger, verkommener oder unglücklicher Existenzen, welche hier zusammenströmen.

Aus diesen sich in die ansässige Bevölkerung mischenden Bestandtheilen erhält die Berliner Verbrecherwelt ihren wesentlichen Zuzug, und wer erst in ihren Bannkreis gezogen ist, der entrinnt ihm in den seltensten Fällen. Da kommt ein junger Mensch nach Berlin, er versucht alles, um eine Unterkunft zu finden, täglich sieht er die Zeitungen nach ausgeschriebenen Stellen durch, und täglich wandert er in athemloser Hast und Aufregung durch Berlin, um abends erfolglos zu seiner Schlafstätte zurückzukehren: der Mitbewerber waren zu viele! Die mitgebrachte geringe Barschaft geht auf die Neige, hatte er vorher vielleicht ein kleines Zimmerchen gemiethet, so muß er jetzt mit einer Schlafstelle vorlieb nehmen und dementsprechend auch geringere Lokale besuchen, um seinen Durst und Hunger zu stillen; an beiden Orten schließt er leicht Bekanntschaften mit Leuten, die schon einen Schritt abseits vom Wege gethan, und ihre bald aufreizenden, bald verlockenden Reden finden ein willfähriges Echo in dem durch Unzufriedenheit und Entmuthigung verdüsterten Gemüth. Aber noch widerstrebt er der Versuchung, noch einmal und immer wieder bemüht er sich, eine Beschäftigung zu finden – vergebens! Verbittert und verzweifelt sucht er häufiger die Destillationen und Kellerlokale auf, um dann die Nacht, weil er die Schlafstelle nicht mehr bezahlen kann, in einer der Pennen zu verbringen; immer schlimmer ist sein Umgang geworden, immer eindringlicher ertönt die Stimme des Versuchers, bis irgend eine Gelegenheit den letzten Widerstand beseitigt: in einem Warenmagazin soll ein Diebstahl verübt werden, und er soll die gestohlenen Waren bei Seite schaffen helfen, ein ganz ungefährliches Unternehmen, welches jedoch guten Lohn verheißt, und – er schlägt ein! Damit ist er fast immer verloren für die menschliche Gesellschaft; denn wird er bei diesem ersten Versuche nicht ertappt, so findet er Gefallen an dem abenteuerlichen, verhältnißmäßig leichten Verdienst, er geräth mehr und mehr in die verbrecherischen Kreise hinein und steigt schnell vom Mithelfer zum Mitthäter „empor“ – denn auch in dieser „Laufbahn“ giebt es eine Ranggliederung – um doch über kurz oder lang mit der Polizei Bekanntschaft zu machen. Wird er aber gleich beim ersten Mal ergriffen, so ist das Ergebniß meist dasselbe, denn selbst wenn er umkehren will, ist für ihn die verbüßte Strafe ein schweres Hemmniß, außerdem aber kommt er im Gefängniß, – nach einem oft angewandten Wort – der „Hochschule der Verbrecher“, mit anderen älteren Verbrechern zusammen, wird in ihre Schliche eingeweiht, schließt mit diesem und jenem von ihnen nähere Freundschaft und wird häufig, noch hinter Schloß und Riegel, für eine neue That verpflichtet, die er dann nach der Entlassung ausführen hilft.

Wir haben nur dieses eine Beispiel, wie jemand zum Verbrecher werden kann, eingehender skizziert, wir könnten noch eine große Zahl anderer folgen lassen; nicht immer sind Noth und Elend die Beweggründe zum ersten, verhängnißvollen Schritt, oft ist es Leichtsinn und der Hang zum Wohlleben, oft eine Liebschaft oder die Sucht, es den besser gestellten Bekannten im Ausgeben von Geld gleichzuthun, oft auch nur eine günstige Gelegenheit oder endlich der angeborene Drang zum Bösen, genährt durch schlechte Lektüre und Versuchungen aller Art, denen zumal die Berliner Jugend ganz besonders ausgesetzt ist. Hieraus erklärt sich auch die große, in erschreckendem Wachsthum begriffene Menge der jugendlichen Verbrecher in Berlin, die zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß giebt und ihre Ursache zum wesentlichen Theile in der schlimmen Beschaffenheit der Wohnungen unserer ärmeren Klassen, in dem überhandnehmenden Schlafstellenwesen hat.

So vielfache „Spezialitäten“ die Diebe auch unter sich aufweisen, so brauchen wir hier nur zwei Sorten zu unterscheiden, die der Gelegenheits- und die der Gewohnheitsdiebe. Unter den letzteren wieder stehen die auf gewaltsamen Diebstahl ausgehenden oben an, sie gehören zu den gefährlichsten Elementen Berlins und bilden den Schrecken der begüterten Einwohner. Für sie, diese Einbrecher, in der Diebssprache „Schwere Jungen“ genannt, giebt es eigentlich kein Hinderniß – im Umsehen öffnen sie die kunstvollsten Schlösser, schneiden sie Thürfüllungen aus, drücken sie mittels Terpentin- oder Pechpflasters die Fenster ein, heben sie an diesen die Eisenstäbe aus, schieben sie Jalousien empor, ja, wenn es sich um reiche Beute handelt, durchbrechen sie Mauern und bahnen sich einen Weg durch den Fußboden. Sind sie erst in den zu beraubenden Räumlichkeiten angelangt, so macht das Oeffnen der verschlossenen Schränke und Schubläden wenig Mühe mehr; entweder passen die Nachschlüssel oder es genügt ein Druck mit dem Stemmeisen, um das Ziel zu erreichen. Mehr Umstände verursachen schon die eisernen Geldspinden, aber auch ihre Panzerplatten halten, mit wenigen Ausnahmen, den kunstvollen Instrumenten der Einbrecher nicht Stand, zumal die meisten von diesen sich aufs genaueste mit den neuen Konstruktionen vertraut gemacht und – oft nur zu diesem Zweck – als Lehrlinge oder Gesellen in Schlosserwerkstätten oder Kassenfabriken gearbeitet haben. Daher rührt denn auch die Leichtigkeit und Schnelligkeit her, mit der die erfahrenen Verbrecher die Korridorthüren öffnen; hat doch ein oft bestrafter Mensch im Verlaufe des Dickhoffschen Prozesses offen eingestanden, daß er ein Schloß nur einmal genau zu betrachten brauche, um den passenden Nachschlüssel anzufertigen.

Es liegt auf der Hand, daß die Einbrecher, um alle Hindernisse schnell aus dem Wege räumen zu können, mit einem umfangreichen „Hilfsmaterial“ ausgerüstet sein müssen; zu demselben gehören neben einer größeren Zahl von Nachschlüsseln und Dietrichen sowie starken Drähten eine etwa einundeinhalb Fuß lange und höchstens zwei Zoll starke Brechstange mit breiter und scharfer Spitze, am unteren Ende etwas gebogen, dann ein Zentrumbohrer, mehrere größere und kleinere Bohrer, eine Stichsäge, ein Stemmeisen, Hammer, Zange und Nägel, Terpentinpflaster, einige Stückchen Licht nebst Streichhölzern, in einer Tasche loser Schnupftabak, um ihn den Verfolgern in die Augen zu werfen, und schließlich, als besondere Waffe, wenn als solche nicht Brechstange [813] oder Stemmeisen genommen werden, ein Messer, meistens ein sogenannter Genickfänger, in den seltensten Fällen ein Revolver.

Schmierestehen.

Zur Ausführung eines gewaltsamen Einbruchs vereinigen sich fast immer mehrere Verbrecher, die sich willig der Führung des gewandtesten unter ihnen anvertrauen und diesem blindlings gehorchen. Stets wird ein solcher Einbruch vorher genau ausgekundschaftet, und die Thäter verschaffen sich die eingehendste Kenntniß der Oertlichkeiten, der besten Gelegenheiten zum Einbruch, der Lebensgewohnheiten der Eigenthümer, des Dienstbotenpersonals, der Vortheile bei einer Flucht etc. Unter den verschiedensten Verkleidungen suchen die Kundschafter – in der Gaunersprache „Ausbaldowerer“ genannt – ihre Zwecke zu erreichen: bald meldet sich ein elegant gekleideter Herr, um die Wohnung (falls sie zu vermiethen ist) zu besichtigen, bald kommt ein Arbeiter, um die Gasröhren auf ihre Dichtigkeit zu prüfen, eine Frau klingelt und wünscht die Dame des Hauses zu sprechen, um dann irgend eine nichtige Frage oder Bettelei an sie zu richten, ein Paket wird für den Hausherrn abgegeben und – angeblich wegen Verwechselung der Adresse – bald wieder abgeholt, an der Küchenthür meldet sich ein Kolporteur und knüpft mit dem Dienstmädchen ein Gespräch an, oder ein Kohlenträger fragt, ob hier Kohlen bestellt seien, und auf das erfolgende „Nein“ bittet er, sich einen Augenblick ausruhen zu dürfen u. s. f. Häufig geschieht es auch, daß vorher mit den Dienstmädchen Liebschaften oder mit den Dienern Freundschaften angeknüpft werden; ja, es ist schon vorgekommen, daß der eine oder andere Verbrecher in den Dienst einer Herrschaft trat, auf deren Beraubung es abgesehen war.

Ist alles zur That vorbereitet, so geht es an die Ausführung, meistentheils unter dem Schutze der Nacht, wobei hervorgehoben werden muß, daß der Eintritt in die Häuser äußerst selten auf gewaltthätige Weise versucht wird, sondern der oder die Thäter sich vorher einschleichen und sich irgendwo verbergen, um zur geeigneten Stunde ihr Versteck zu verlassen. Zur selben Zeit oder bereits vorher haben auch auf der Straße die Aufpasser – „Schmieresteher“ – ihr „Amt“ angetreten und warnen erforderlichen Falls ihre Gefährten, von denen oft wieder einer auf dem Flur oder auf der Treppe Wache hält, durch ein verabredetes Zeichen, einen leisen Pfiff, ein Wort, einen Ruf.

Ist der Dieb in die Wohnung eingedrungen, so hält er zunächst Umschau, ob eine Entdeckung droht, dann macht er sich hastig und doch planmäßig auf die Suche nach Werthsachen, wobei er stets zwischen echten und unechten Stücken unterscheidet und nur die ersteren mitgehen heißt; sind einzelne Dinge zum Fortschaffen zu groß oder zu beschwerlich, so zerstückelt er sie und bemächtigt sich der werthvollsten Theile; am willkommensten ist ihm natürlich Geld in bar oder in Scheinen, auch Werthpapiere läßt er nicht liegen, wenn sie nicht, wie ausländische, schwer zu verkaufen sind. Welche Frechheit oft die Diebe bei diesen Einbrüchen entwickeln, geht daraus hervor, daß sie selbst in die Schlafstuben der Bewohner dringen und dort nach Geldtaschen, Uhren, Ringen etc. forschen; an anderen Stellen wieder verschmähen sie eine Stärkung mit Wein oder Bier nicht und rauchen behaglich beim Ausräumen der Kisten und Kasten die Cigarren des Besitzers. Im Gegensatz zu dieser Frechheit steht wiederum ihre Angst und Fassungslosigkeit bei unerwarteter Ueberraschung. So unternahm vor einer Reihe von Jahren ein Dieb einen Einbruch in die Wohnung eines Arztes; als er behutsam in das Arbeitszimmer desselben trat, befand er sich plötzlich einem menschlichen Skelett gegenüber und erschrak dermaßen, daß er in epileptische Krämpfe verfiel; spät nachts wurde er von dem nach Hause kehrenden Mediziner in diesem Zustande aufgefunden und natürlich der Polizei übergeben.

Einbrecher bei der Arbeit.

Hat der Dieb die Räumlichkeiten durchsucht, findet er nichts Mitnehmenswerthes mehr oder kann er nichts weiter fortbringen, so lauscht er geraume Zeit, ob alles ruhig ist; dann giebt er den Schmierestehern ein leises Signal, welches diese in entsprechender Weise erwidern, damit er weiß, ob er noch bleiben soll oder kommen kann. In letzterem Falle wird der Einbrecher möglichst bald das gestohlene Gut loszuwerden suchen, indem er es einem der Aufpasser oder einem besonders dazu bestellten Helfer übergiebt, welcher es seinerseits sofort zu dem meist schon vorher unterrichteten Hehler bringt. Dieser in mittelbarer oder unmittelbarer Verbindung mit den Dieben stehenden Hehler giebt es in Berlin eine große Zahl, und sie machen der Polizei mehr zu schaffen als die Diebe selbst, denn abgesehen davon, daß sie von ihren „Kunden“ fast nie angegeben werden, verfügen sie über die verborgensten Absatzquellen und handeln mit einer List und Schnelligkeit, daß sich wenige Stunden nach einem Einbruch die gestohlenen Sachen schon in vierter oder fünfter Hand, vielleicht sogar bereits außerhalb Berlins, befinden. Daher erklärt es sich auch, daß es viel häufiger gelingt, die Diebe zu fassen, als das gestohlene Gut wieder herbeizuschaffen. Hundertfach sind die Kanäle, in welche diese Hehler den Raub ableiten, für die seltsamsten Gegenstände haben sie ihre besonderen Abnehmer, die wiederum für den Weitervertrieb sorgen oder die gestohlenen Sachen unkenntlich zu machen wissen durch Einschmelzen, durch Umändern, durch Vertilgung der Fabrikmarken und dergleichen mehr. Daß die Hehler und ihre Unterhändler den größten Nutzen bei diesem Ab- und Umsatze für sich herausschlagen und der Dieb nur einen verschwindenden Bruchtheil des eigentlichen Werthes der gestohlenen Waren erhält, braucht kaum erst hervorgehoben zu werden. So ist denn auch die Lage des Verbrechers bald nach der That so übel wie zuvor: das aus dem Raub erübrigte Geld ist rasch in Saus und Braus durchgebracht, und die Noth treibt zu neuen Verbrechen. Oft sind es gerade die Hehler, welche die Rolle des Anstifters spielen oder gar neue Gelegenheiten zu erfolgversprechenden Einbrüchen nachweisen.

Im Gegensatz zu den aufs eingehendste „baldowerten“ Einbrüchen stehen die Gelegenheits-Einbrüche, [814] vor allem die sogenannten „Klingelfahrten“, bei denen der Dieb irgend ein beliebiges, nicht sehr belebtes Haus betritt und an einer Korridorthür mehrmals klingelt; wird nicht geöffnet und läßt sich auch kein verdächtiges Geräusch in der Wohnung vernehmen, so ist im Umsehen durch einen Dietrich das Schloß geöffnet; um nicht durch die Heimkehrenden überrascht zu werden, schiebt der Dieb von innen einen Riegel vor oder bohrt einen kleinen Bohrer durch die Thür, da ihm fast immer noch ein Ausweg durch die Küche, die Hintertreppen hinunter, offen steht. In größter Eile rafft er alles zusammen, was er mitnehmen kann, und macht sich aus dem Staube. Diese „Klingelfahrten“ werden namentlich gern in der Reisesaison unternommen; wie ungestört sich die Diebe in jenen Sommermonaten fühlen, erhellt daraus, daß sie zuweilen ein und derselben Wohnung mehrere Besuche an verschiedenen Tagen abstatten, ja, daß sie in fremden Quartieren mit ihren Gefährten ganze Gelage feiern, endlich sogar übernachten, bequem ausgestreckt in den Betten derer, die ahnungslos im Gebirge oder an der See ihre Erholung suchen.

Die umfangreichste Klasse der Berliner Diebeswelt ist die der Taschendiebe – der „Torfdrücker“ – von denen Berlin mehrere tausend beherbergen mag. Sie sind überall zu finden, und unter ihnen giebt es wieder die verschiedensten Abstufungen, von dem mit vornehmen Manieren auftretenden, nach der neuesten Mode gekleideten Elegant an bis herab zu dem Herumstreicher, der sein Beutefeld auf Märkten, bei öffentlichen Schaustellungen, im ausgelassenen Volkstrubel sucht, – womit nicht gesagt sein soll, daß sein vornehmerer Kollege dort etwa nicht anzutreffen wäre. Lieber freilich hält sich dieser an solchen Orten auf, wo die Fremden verkehren, auf den Bahnhöfen, in Museen und Galerien, in den Theatern und Konzerten, im Cirkus und auf der Rennbahn, im Zuhörerraume des Reichstages und auf Festtribünen, sogar in Kirchen und natürlich auch im Straßengewühl der reicheren Stadtviertel.

Abholen gestohlener Gegenstände aus einem Hehlerneste.

Zahlreich vertreten unter der Berliner Diebsgesellschaft sind ferner die Laden-, Schaufenster- und Kollidiebe. Die Ladendiebe – „Schottenfeller“ genannt – unternehmen ihre Diebszüge meist zu zweien; gemeinsam oder auch einzeln betreten sie den Laden, und während der eine von ihnen den Kaufmann beschäftigt und sich immer neue Sachen vorlegen läßt, bringt der andere dies oder jenes Stück beiseite, indem er es unter den Rock knöpft oder in eine der im Futter des Mantels befindlichen langen Diebstaschen steckt; Juwelendiebe haben besondere Vorrichtungen an den Aermelaufschlägen der Röcke oder benutzen den mitgebrachten Schirm zum Verschwindenlassen der Gegenstände. Am gefährlichsten sind in diesem Fache die Frauen und Mädchen, die oft unter hochtrabenden Namen und mit Dienerschaft in den großen Luxusgeschäften erscheinen, sich die kostbarsten Spitzen, Shawls und Seidentücher vorlegen lassen, immer wieder prüfen und mustern und handeln, bis sie endlich ein stattliches Packet zusammenlegen lassen mit dem Bedeuten, daß es noch im Laufe des Tages durch einen auch die Rechnung begleichenden Diener abgeholt werden würde. Das geschieht natürlich nie, und zu spät merkt der Geschäftsmann, daß er von einer abgefeimten Gaunerin ganz empfindlich bestohlen worden ist. Auf Schuhgeschäfte haben es manche Diebinnen besonders abgesehen. Hier besteht ihre Praxis darin, daß sie unter dem Kleide eine Schnur tragen, von der andere Schnüre mit eisernen Haken am unteren Ende herabhängen; während sie eine größere Zahl Stiefel anprobieren, befestigen sie in unbewachten Augenblicken rasch einige davon an den Haken. Alle diese Ladendiebe und -diebinnen suchen sich, wie die Taschendiebe, sofort der gestohlenen Sachen zu entledigen, indem sie dieselben den Helfershelfern übergeben; tritt eine Verfolgung ein und werden sie verhaftet, so ist eine nähere Körperuntersuchung meist ergebnißlos.

Mit unbegreiflicher Frechheit gehen zumeist die Schaufensterdiebe an ihr Werk; oft drücken sie einen Theil des Schaufensters mit Terpentinpflaster ein und nehmen die Waren heraus, oft bohren sie an der unteren Kante des Schaufensters mit einem Centrumsbohrer ein Loch durch das Holz und ziehen mit einem gebogenen Stück Draht Ketten, Ringe, Spangen u. s. w. heraus, gedeckt vor den Blicken der Passanten durch ihre Genossen, die, sich lebhaft unterhaltend, scheinbar aufmerksam die Schaufensterauslagen betrachten. Mit gleicher Verwegenheit werden die Schaukästendiebstähle verübt; als Arbeiter verkleidet oder auch ohne Hut, im bloßen Rock, einen Federhalter hinter dem Ohr, sodaß man ihn für einen Gehilfen des Geschäftsinhabers halten kann, tritt der Dieb an den Schaukasten heran, hakt ihn ruhig ab, da er alle Kniffe der Befestigung kennt, und verschwindet mit ihm in einem Hause, um ihn dort an einem verborgenen Fleckchen zu zertrümmern und seinen Inhalt in Taschen und unter der Kleidung zu bergen; nicht selten ist es aber auch schon passiert, daß er ruhig und ungehindert mit dem ganzen Kasten abmarschierte.

Zu einer wahren Zunft haben sich die Kollidiebe ausgebildet; sie treten an unbeaufsichtigte Fuhrwerke heran und nehmen von diesen, was sie fortschleppen können; dabei tragen sie häufig den Anzug eines Rollkutschers, sodaß keiner der Vorübergehenden ein Arg hat. Der jährliche Schaden, den sie hauptsächlich den Speditionsfirmen zufügen, ist ein sehr bedeutender, und sie ergänzen sich immer von neuem, trotzdem gerade in jüngster Zeit viele von ihnen dingfest gemacht worden sind. Die Polizei bediente sich hierbei einer erfolgreichen List: ein mit Kisten und Ballen beladener Rollwagen, der mit einem Plantuche bedeckt war, fuhr die Straßen entlang, gelenkt von einem scheinbar schon angeheiterten Kutscher, der wiederholt hielt und sich in Destillationen und Restaurationen stärkte, seinen Wagen auf dem Fahrwege unbeaufsichtigt stehen lassend. Dies benutzten die Kollidiebe; allein oder auch zu zweien kamen sie heran, um einen Ballen unter der Leinwand hervorzuziehen – im selben Augenblick aber wurden die diebischen Finger von der kräftigen Faust eines Kriminalschutzmannes ergriffen, der mit einem Gefährten unter der Decke verborgen war und auf diese Weise im Laufe mehrerer Tage die Verhaftung von über zwanzig Kollidieben bewerkstelligte.

Von den weiteren Mitgliedern der Berliner Diebswelt erwähnen wir noch die Schlafstellendiebe, welche sich eine Schlafstelle miethen und, sobald die Wirthe die Wohnung verlassen haben, mit ganzen Droschkenladungen von Sachen spurlos verschwinden; dann die Bodendiebe, die sogenannten „Flatterfahrer“, welche nur den Bodenkammern ihre Besuche abstatten und Wäsche wie Kleidung unter ihre Obhut nehmen; die Küchendiebe, welche, wenn das Dienstmädchen die Küche auf einen Augenblick verlassen und hierbei die Thür nicht zugemacht hat, schnell sich silberne Löffel, Serviettenringe, Suppenkellen etc. aneignen; die Kellerdiebe, die es hauptsächlich auf Weinlager abgesehen haben; die „Kinderdiebe“, welche Kindern das diesen zum Einkaufen gegebene Geld fortnehmen oder ihnen auch die Ohrringe aushaken; die „Leichenfledderer“, die den auf Bänken in Parkanlagen Eingeschlafenen die Taschen ausräumen; die Paletotdiebe, deren Wirkungskreis in Schanklokalen und Cafés liegt; dann [815] jene Diebe, welche eine besondere Neigung für Billardbälle, Gasarme, Thürklinken u. s. w. haben – eine Liste, die wir noch vielfach fortsetzen könnten.

Festnahme eines Taschendiebes.

Was alles in Berlin gestohlen wird, ist wirklich mehr als erstaunlich – Lackstiefel und Oberhemden, Kaviarbüchsen und eiserne Nägel, wollene Unterkleider und Schachteln mit Zahnpasta, Theekannen und Fettpuder, medizinische Bücher und angerauchte Meerschaumpfeifen, vernickelte Stahlkämme und Dosen mit Insektenpulver, Suppenterrinen und eingemachte Früchte, selbst mehrere Dutzend Flaschen mit „Antidiphtheritis“ und Leberthran beschlagnahmte beispielsweise die Polizei bei einem einzigen Hehler. Wurde doch vor wenigen Jahren vom Tegeler Schießplatze das Bronzerohr eines Vierundzwanzigpfünders gestohlen, und die Entdeckung erfolgte nur, weil man wegen eines in derselben Nacht gefallenen leichten Regens noch die tiefen Räderspuren des Fuhrwerks, auf welchem das Rohr fortgeschafft[WS 1] worden war, verfolgen konnte: es war höchste Zeit, denn die „Kanonendiebe“ waren bereits eifrig daran, die Bronze zu zersägen! Mehrfach ist es vorgekommen, daß die Zinkdächer einzelner abseits liegender Gebäude theilweise oder ganz abgedeckt und die Platten zentnerweise auf Handwagen fortgeschafft wurden. Auch einen „fetten Braten“ verschmähen die Spitzbuben nicht; mit langen Stangen haken sie abends die an den Küchenfenstern hängenden Hasen, Gänse, Rehkeulen etc. ab. Einem dieser Diebe stach einst ein feister Martinsvogel in die Augen, aber seine Mühe, ihn abzuheben, war vergeblich, weil der zu fest angebunden war; durch das Geräusch mochte das Dienstmädchen aufmerksam geworden sein und sie öffnete das Fenster, worauf der Dieb ihr warnend zurief: „Sie, Rieke, eben war ein Mann hier, der die Gans mausen wollte, sehen Sie sich vor!“ Natürlich beeilte sich die Küchenfee, den Braten loszubinden, im selben Augenblick aber, als sie den Faden gelöst, erhielt sie mit dem Stocke einen solchen Schlag auf die Hand, daß sie erschrocken die Gans fallen ließ, mit welcher der eigennützige Warner flugs verschwand. –

Auf die unzähligen, täglich in Berlin verübten anderen Gaunereien und Schwindeleien einzugehen, würde uns hier zu weit führen; die einst so gefürchteten „Bauernfänger“ sind infolge der polizeilichen Maßregeln und der steten Zeitungswarnungen fast gänzlich verschwunden, nur sehr Dumme fallen den wenigen Uebriggebliebenen in die Hände. Dagegen ist das Hochstaplerthum bei der enormen Vergrößerung Berlins und dem wachsenden Fremdenzufluß üppig emporgeblüht.

Im Gegensatz zu anderen Weltstädten giebt es in Berlin keine eng verbundenen größeren Verbrecherbanden, die hintereinander eine Reihe planmäßiger Raubzüge unternehmen und zuweilen eine wahre Schreckensherrschaft ausüben. Nur gelegentlich des Dickhoffschen Prozesses (1883), der ja in ganz Deutschland Aufsehen erregte, wurde eine ganze Schar Hand in Hand arbeitender Verbrecher entlarvt oder eigentlich noch mehr nur vermuthet. Im allgemeinen „arbeiten“ die Berliner Verbrecher in kleinen, aus höchstens vier bis sechs Personen bestehenden Gruppen, und auch in solcher Zahl bloß, wenn es sich um etwas ganz Besonderes handelt. Die einzelnen Gruppen und Verbrecher aber haben selbstverständlich untereinander Fühlung und verkehren „kameradschaftlich“ zusammen; sie treffen sich, falls sie sich der Freiheit erfreuen, in bestimmten Lokalen, denen man äußerlich keinen Unterschied von anderen Kneipen anmerkt, helfen sich gegenseitig vor dem Kriminalkommissar und dem Untersuchungsrichter oder wo sonst einer des anderen Unterstützung bedarf. Dieser „Corpsgeist“ ist ein ganz außerordentlich reger und erstreckt sich auch auf materielle Hilfe, wenn dieser oder jener Kumpan in Noth gerathen ist, er läßt ferner fast nie Streitigkeiten aufkommen und regelt auch ohne Zwist die Theilung der Beute, ja, er geht soweit, daß ein Dieb gern die Schuld seines bei einem gemeinsamen Unternehmen betheiligten Genossen auf sich nimmt, weil er weiß, daß jener wegen seiner Vorbestrafungen eine empfindlichere Strafe als er selbst zu erwarten hat.

Dem Zweck eines festen Zusammenschlusses dienen auch die Verbrechersprache und die Verbrechernamen. Hat die Berliner Spitzbubenzunft einen neuen Genossen erhalten, so wird ihm sofort ein Beiname zugelegt, der in irgend einer Beziehung zu ihm steht und den er sein Lebtag nicht wieder verliert, über dem seine Gefährten alsbald seinen eigentlichen Namen vergessen und der oft noch nach seinem Tode lange Zeit in der Erinnerung der übrigen weiterlebt. Derartige Namen sind beispielsweise: „Blechkopf“, „der schöne Robert“, „der Regierungsrath“, „Pulverkopf“, „Schuster-Karl“, „Opernsänger“, „Glatter Adolf“, „Schiefmaul“, „Plattbein“, „Sonntagsreiter“, „Blücher-Max“, „Langer Ede“, „Platzmajor“, „Gärtner-August“, „Strippen-Friedrich“, „Spitzmaus“, „Staatsanwalt“, „Droschken-Karl“, „Mohrenschmidt“, „Goldfasan“ etc. Daß auch die Verbrecherinnen hierbei nicht leer ausgehen, beweist folgende Blumenlese: „Chokoladen-Minna“, „Falsche Gräfin“, „Keller-Jette“, „Lange Klara“, „Schottische Marie“, „Bouillonkopf“, „Blubber-Juste“, „Schiefe Laterne“, „Langnasige Pauline“, „Spitzbuben-Ida“, „Mohren-Hedwig“, „Perl-Agathe“, „Dragoner-Anna“, „Königin der Nacht“ und „Bankierswitwe“. –

Die Sprache der Berliner Verbrecher, das „Gaunerdeutsch“ oder „Gaunerrothwelsch“, hat einen großen Vokabelreichthum dem Hebräischen entnommen; aber im Laufe der Zeit sind die Worte etwas verändert oder auch theilweise berolinisiert worden und weisen daneben häufige Anklänge an die Zigeunersprache auf. Der Neuling auf der Verbrecherbahn wird sich bemühen, dieses Idiom sobald wie möglich zu erlernen, und es bereitet ihm wenig Schwierigkeiten, denn die Unterhaltung wird in „diesen Kreisen“ eben nur in dieser Sprache geführt. Der „berufsmäßige“ Dieb heißt „Gannew“, der Einbrecher „schwerer Junge“, der Taschendieb „Torfdrücker“, der Kollidieb „Johlegänger“, der Bodendieb „Flatterfahrer“, der Schaufensterdieb „Abhänger“, der Ladendieb „Schottenfeller“, der Bauernfänger „Thürmer“, der gewerbsmäßige Spieler „Zocker“, der Bettler „Schmalmacher“. Vereinigen sich mehrere Diebe, so bilden sie eine „Chawrusse“, stehlen sie gelegentlich, so „schießen“ sie, während der Diebstahl selbst mit „Masematten“ bezeichnet wird; fast immer wird dieser, wie oben geschildert, „ausbaldowert“, während die Helfer „Schmiere“ stehen. Alles ist vorher aufs genaueste „bedibbert“ (besprochen) worden, und zwar „betuch geschmust“ (sehr leise); ist der mit den „Kabbern“ (Gefährten) unternommene Diebstahl „koscher“ (gut) gegangen und hat das „Geschäft“ (die That) gelohnt, so wird die „Sore“ (Beute) sofort zum „Schärfer“ (Hehler) gebracht, der sie „verschiebt“ (weiter befördert) und den „Draht“ (das Geld) „abladet“ (hergiebt). Oft geht aber alles nicht so „keß“ (gut), die „Schmieresteher“ „bekommen Lampen“ (wittern Gefahr) und „stechen Zinken“ (geben ein Zeichen), worauf, wenn diese Störung nur eine vorübergehende ist, alles „verduftet“ (kurze [816] Zeit verschwindet) oder, wenn ernste Störung droht, „wandert“ (flüchtet); dabei wird leicht dieser oder jener „verschüttet“ (gefangen genommen), der hoffentlich nichts von den übrigen „pfeift“ (verräth) und sich auch nicht „reinrudert“ (schlecht vertheidigt), sondern dem Richter „einen Putz vormacht“ (sich herauszulügen sucht), damit er nicht mehr wie „Schurf“ (ein Jahr Zuchthaus) bekommt oder auch nur das „Tfieze“ (Gefängniß) bezieht, wo er leichter mit anderen Gefangenen „kaspern“ (verstohlen sprechen) und sich mit ihnen trotz der „Amtsschauter“ (Gefängnißwärter) „Zinken“ geben sowie schriftlich durch „Kassiber“ (kleine Zettel) verständigen und womöglich neue Pläne „bedibbern“ kann.

Verbrecherkneipe.

Auch für die „Technik“ des Einbrechens oder Diebstahls hat diese merkwürdige Sprache ihre besonderen Ausdrücke; „ein Ding schwenken“ heißt einen schweren Einbruch vollziehen, zu welchem die ganze „Tandelei“ (Diebswerkzeug) und namentlich „der Lude“ (Brecheisen) nöthig ist; kann man nicht „tandeln“ (mit falschen Schlüsseln öffnen) und helfen auch die „Haken“ (Dietriche) nicht, so muß man „knacken“ (aufbrechen), wozu nur „kesse Jungen“ (muthige, erfahrene Verbrecher) und nicht „schalfe“ (Anfänger) benutzt werden können, die Furcht vor „Greifern“ (Kriminalbeamten) und „Eulen“ (Nachtwächtern) haben. Ist das Geschäft glatt gegangen, hat man vom „Schärfer“ genug „Männer“ (Thaler) erhalten, so sucht man die „Klappe“ oder „Kaschemme“ (Verbrecherkneipe) auf, um sich dort mit anderen „Geschäftsgängern“ (Dieben) zu erholen und dann in der „Bleibe“ (Schlafstelle) zu „joschen“ (ruhen), falls man sich nicht „plattmacht“ (obdachlos umhertreibt) oder in eine „Penne“ geht.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fortgeschafst