Populär-wissenschaftlicher Vortrag des Dr. Sulphurius über Schule und Erziehung

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Textdaten
Autor: Franz Bonn
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Titel: Populär-wissenschaftlicher Vortrag des Dr. Sulphurius über Schule und Erziehung
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aus: Fliegende Blätter, Band 73, Nr. 1846–1847
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Braun & Schneider
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Michigan, Commons
Kurzbeschreibung:
Illustrationen von Adolf Oberländer
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Populär-wissenschaftlicher Vortrag des Dr. Sulphurius über Schule und Erziehung.

Von allen Fragen, welche unsere Zeit bewegen, ist wohl eine der wichtigsten die der Erziehung und des Unterrichtes. Es ist nicht genug, daß der Mensch geboren wird – er muß auch erzogen werden; und wie jener General mit Recht ausrief: „Was nützt mich der Mantel, wenn er nicht gerollt ist,“ so kann man auch vom Menschen sagen: „Was nützt mich ein Mensch, wenn er nicht gebildet ist!“

Bildung macht bekanntlich frei, und da wir Deutsche gewohnt sind, bei jedem Anlasse zu sagen: „Ich bin so frei!“ so sind wir auch wohl zunächst berufen, die Frage der Erziehung und des Unterrichtes zu lösen.

Der Gelehrte steht gewöhnlich auf den Schultern seiner Vorgänger, wir möchten sofort auf unseren eigenen stehen, d. h. wir entwickeln unsere Anschauungen über die Schule, ohne die bestehenden Erziehungssysteme und Schulverhältnisse irgend einer Erörterung zu unterziehen.

Unser oberster Grundsatz ist: „Der Zweck des Menschen ist seine Bildung.“ Aus diesem Principe folgt, daß der Mensch nie genug, also nie früh genug und nie lang genug lernen kann.

Der Schwerpunkt der Erziehung liegt nicht in der moralischen Anleitung und Dressur des Willens, oder in der Bildung des Herzens und Gemüthes, sondern in der Beibringung möglichst vieler Kenntnisse. Die Schule muß deßhalb, wie die Wissenschaft unendlich sein, d. h. sie darf nicht auf eine gewisse Zeit des Lebens beschränkt werden, sondern jeder Mensch muß von seiner Geburt bis zu seinem Tode die Schule besuchen.

Es mag dieser Gedanke auf den ersten Anblick etwas [186] Verblüffendes haben und man könnte einwenden, daß das Gebiet einer jeden Wissenschaft ein abgeschlossenes und in bestimmter Zeit zu bewältigendes sei, aber, wenn wir erwägen, daß gerade in neuerer Zeit die Systeme der einzelnen Zweige des menschlichen Wissens einem steten Wechsel unterliegen, werden wir zugeben müssen, daß man in keiner Disciplin auslernen und es daher an Unterrichtsstoff nie fehlen kann. Soll endlich das Ziel, daß Jeder Alles weiß, praktisch erreicht werden, so kann der Gedanke einer zeitlich unbeschränkten Schule in seiner vollen Berechtigung wohl nicht beanstandet werden.

Wenn wir diesen principiellen Gedanken in Folgendem des Näheren auszubauen versuchen, so bewegen wir uns auf dem Gebiete rein wissenschaftlicher Erörterung, auf welchem praktische Bedenken keinen Raum finden können.

Wir denken uns also verschiedene Arten von Schulen, die wir entsprechend zu bezeichnen versuchen. Die erste Schule wird die Säuglingsschule sein müssen.

Sobald der Mensch geboren ist, hat er in dieselbe einzutreten. Da die Impfung erst später stattfindet, kann von Vorlage eines Impfscheines bei der Aufnahme Umgang genommen werden und genügt ein standesamtlicher Ausweis über richtig erfolgte Geburt. In der Säuglingsschule, welche unter Leitung wissenschaftlich gebildeter Ober- und Unter-Hebammen steht, kann vorläufig und bis die Menschheit eine höhere Stufe der Entwicklung erlangt haben wird, selbstverständlich nur von einem Anschauungsunterrichte die Rede sein. Wir schlagen deßhalb vor, daß die wichtigsten Dinge der Welt zunächst in leichtfaßlichen Abbildungen dem Auge des Säuglings eingeprägt werden sollen und daß zu diesem Zwecke Alles, was das Kind umgibt, solche Abbildungen an sich tragen muß.

So sollen die Wände der Kindszimmer, die Wiegen und die Windeln Bilder aus der Mineralogie, Botanik und Zoologie, später etwa aus der Astronomie und Anatomie zur Anschauung bringen. Es wären demnach zum Beispiel Windeln und Geiferschürzchen mit Schweinchen zu bemalen, um an die Pflicht der Reinlichkeit zu mahnen, Schürzchen mit Bienen und Ameisen, um den Fleiß dieser Thiere als gutes Beispiel zu veranschaulichen, und ließen sich ebenso auch die Kleidungsstücke der kleinen Kinder in geschmackvoller Weise mit Bildern aus der Thierwelt versehen.

Prägen sich so dem Säuglinge von selbst die wissenswürdigsten Dinge ihrer äußeren Form nach ein, so ist es auch von Wichtigkeit, durch sprachliche Mittheilung frühzeitig dem Säugling spielend höhere Begriffe beizubringen. So würde es nicht schaden, wenn die Ammen statt der bisher üblichen sinnlosen Kinderlieber, wie:

„Schlaf’, Kindlein, schlaf’!
Im Garten geh’n die Schaf’,“

die wichtigsten Lehrsätze in leichtverständlichen Versen den Kleinen vorsingen würden. Wie lieblich müßte es zum Beispiel klingen, wenn man den bekannten Pythagoräischen Lehrsatz so den Säuglingen beibrächte:

„Iß, mein Kind, Dein Muuß,
Denn das Quadrat der Hypothenus’
Ist gleich – Du kannst d’rauf wetten –
Denen der beiden Katheten.“

Hiedurch ließe sich der Uebergang in die erste Kinderschule mit Leichtigkeit bewerkstelligen. Für diese erste Kinderschule, welche sich unmittelbar an die Säuglingsschule anzuschließen hat und in welche der Säugling eintritt, sobald er selbständig gehen und stehen kann, empfiehlt sich als erster Unterrichtsgegenstand von selbst – die Mathematik.

Keine Wissenschaft ist so geeignet, die Denkkraft des Menschen zu schärfen, als diese. Darum gebe man dem Kinde statt der sinnlosen Puppen und Bilderbücher sofort geometrische Figuren als Spielzeug in die Hand, und man wird sich bald von den überraschenden Fortschritten seines Verstandes überzeugen.

[187] In der ersten Kinderschule müssen auch dem Kinde die gewöhnlichen Funktionen seines Daseins physikalisch zum Verständnisse gebracht werden, und hat deßhalb, außer der Mathematik und der Geometrie, die Physik einen obligaten Gegenstand der ersten Kinderschule zu bilden. Eigentlich müßte schon dem Säugling zum Beispiel die Lehre vom Saugen durch einen die Function begleitenden, entsprechenden Anschauungs-Unterricht zum Verständnisse gebracht werden.

Ist das Kind mit diesen Wissenschaften vertraut, so werden bald Gleichungen, Wurzelausziehen, das Suchen der Unbekannten, dem Kinde eine angenehmere Unterhaltung bieten, als alle die tausend sinnlosen Spielwaaren, mit denen der Phantasie der Kinder geschmeichelt wird, ohne ihrem Verstande zu nützen.

Ist aber nach unserem Systeme der Verstand des Kindes durch die mathematischen Disciplinen schon in frühester Jugend gereift, so wird das Kind in der der ersten Kinderschule folgenden höheren Kinderschule mit Leichtigkeit nicht nur die Muttersprache, sondern auch alle anderen lebenden Sprachen erlernen. Es kommt nur auf die Anwendung eines richtigen Systems an. Dieses System besteht einfach darin, daß das Kind jedes Wort, das es sprechen lernt, sofort in allen Sprachen zugleich lernt, so daß es in dem Augenblick, in welchem es seine Muttersprache geläufig sprechen kann, zugleich auch aller andern Sprachen mächtig ist.

Statt durch Erzählung langweiliger und sinnloser Märchen unterhalte man das Kind durch geschichtliche Vorträge. Wie Anders stünde es um unsere Jugend, wenn zum Beispiel die Kinder, statt der schläfrigen Geschichte vom Dornröschen, die Geschichte der französischen Revolution, statt des Märchens vom gestiefelten Kater, die Lebensgeschichte Julius Cäsars erzählt bekämen.

[194] In dieser höheren Kinderschule müßte außer dem Sprechen sämmtlicher Sprachen auch das Schreiben derselben geübt werden, bis die allgemeine Verbreitung des Telegraphen und des Telephon die Bedeutung der Handschrift stets mehr in den Hintergrund treten lassen wird.

Was das Rechnen anlangt, so wird es nicht schwierig sein, dem mathematisch geschulten Kinde, ohne es mit dem großen und kleinen Einmal-Eins zu plagen, so viel beizubringen, daß es mit Leichtigkeit Wucherzinsen, Coursdifferenzen und was man sonst in’s Haus braucht, im Kopfe zu berechnen versteht.

Als einen besonders empfehlenswerthen Gegenstand für die höhere Kinderschule müssen wir auch die Anatomie bezeichnen, welche jedoch nicht etwa nur nach Abbildungen, sondern am Cadaver selbst zu dociren wäre.

Es würde für unseren Vortrag zu weit führen, die zahllosen Disciplinen der höheren Schulen des Näheren zu erörtern; es genügt uns, im Allgemeinen anzudeuten, was wir wollen.

Umfaßt die Säuglingsschule alle menschlichen Geschöpfe vom Momente der Geburt bis zum vollendeten 1. Lebensjahre, besuchen alle Kinder vom 1.–8. Lebensjahre die erste und die höhere Kinderschule, so erstreckt sich die Jugendschule vom 8.–18. Lebensjahre, und kann es deßhalb den Schülern und Schülerinnen der obersten Klassen gestattet werden, neben der allgemeinen Bildung sich besondere Fachkenntnisse anzueignen, für irgend einen bestimmten Wirkungskreis sich vorzubereiten und auch je nach Umständen Liebesverhältnisse anzuknüpfen.

Mit dem vollendeten 18. Lebensjahre beginnt für Jünglinge und Jungfrauen die Wehrpflicht und Alle treten in die Militärschulen, welche sie mit dem vollendeten 26. Lebensjahre wieder verlassen, um dann in die einzelnen Berufsschulen einzutreten, für welche sie sich entschieden haben. Der Fachschulen sind natürlich so viele, als es Berufsarten gibt. Zur Vereinfachung können indessen verwandte Berufsarten in einer Schule vereint werden, z. B. Aerzte und Professoren der Magie, Juristen und Friseure wegen der Haarspaltereien, Architekten und Improvisatoren wegen der raschen Einfälle, Privatiers und Geldwechsler, Financiers und Bader wegen der Uebung im Schröpfen, Hausbesitzer und Auktionatoren wegen der Gewandtheit im Steigern u. dergl.

Den Schülern und Schülerinnen der Fachschulen kann es gestattet werden, ihren Beruf auch praktisch auszuüben, was jedoch vom Besuche der Fachschule nicht befreien kann. Neben den Fachschulen ließen sich etwa auch lebenslängliche Fortundfort-Bildungsschulen errichten.

Es springt in die Augen, daß nach unserem System der Mensch nach und nach sich alle Kenntnisse aneignen muß, deren er überhaupt fähig ist. Dem Einwande, daß es auf diese Weise nur Schüler und keine Lehrer geben könne, begegnen wir damit, daß es eben auch eine besondere Lehrer-Fachschule geben müßte, in welcher stets der Gescheidteste der Lehrer wäre und da sich natürlich jeder für den Gescheidtesten hält, der Katheder von Woche zu Woche unter Allen wechseln würde.

Widmen wir noch ein Wort der moralischen Erziehung in der Schule, so dürfte in allen Schulen die Religion nicht anders als durch das stille Beispiel der Lehrer beigebracht werden. Statt mit Ruthe züchtige man das Kind durch stille Verachtung.

Als Zuchtmittel in der Schule dürfen nur mündliche oder noch besser schriftliche Zurechtweisungen der Schüler angewendet [195] werden. Dabei hätten sich die Lehrer strengstens jeder beleidigenden oder verletzenden Ausdrucksweise zu enthalten. Sollte ein Lehrer sich so weit vergessen, die Schüler etwa Lausbuben zu schimpfen oder gar denselben Tatzen zu geben, so würde nicht nur Klage bei dem über jeden Lehrer stehenden Oberlehrer, sondern unter Umständen sofortige Selbsthilfe von Seite der Schüler durch Züchtigung des Lehrers zu gestatten sein.

Das Vortheilhafteste an unserem Systeme ist, daß man bei dessen Durchführung keiner weiteren Gesetzgebung mehr bedarf, um die Menschheit in den Schranken der Ordnung zu halten, denn da alle Menschen der Schule angehören, bedarf es nur einer einfachen Schuldisciplin und deren Handhabung, um den Egoismus des Einzelnen mit der Rücksicht auf die Allgemeinheit auszugleichen. Tritt an die Stelle des Strafgesetzes das Schulgesetz, so werden auch Todes-, Zuchthaus- und alle dergleichen Strafen von selbst in Wegfall kommen, und wäre bei der Mehrung der Kenntnisse des Einzelnen ein solches Bedürfniß je denkbar, so könnten ja etwa Schüler, die aus Gründen der Disciplin von ihrer betreffenden Schule auszuschließen wären, in eigenen Verbrecherschulen vereinigt werden.

Welche Vereinfachung endlich für die medicinische Wissenschaft, wenn es nur mehr eine Krankheit geben würde – die Schulkrankheit! Selbstmorde von jungen Leuten, wie sie neuerlich nicht selten vorzukommen pflegen, würden wohl undenkbar sein, wenn der Menschheit die Schule zur zweiten Natur geworden wäre, wie dieses aus unserem Systeme von selbst sich ergeben müßte! –

Sollten wir so glücklich sein, durch diese kurze Darlegung unserer Gedanken ein oder das andere Auge eines Schulmannes geöffnet zu haben, so wäre uns das eine um so größere Genugthuung, als wir, wie jeder Pädagoge es von sich ist, überzeugt sind, daß wir allein Recht haben.

v. Miris.