Quaestio de Aqua et Terra

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Textdaten
Autor: Dante Alighieri
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Titel: La Quaestio de Aqua et Terra
Untertitel:
aus: La Quaestio de Aqua et Terra: Edizione principe del 1508 riprodotta in facsimile: Introduzione storica e trascrizione critica del testo latino di G. Boffito, con introduzione scientifica dell’ ing. O. Zanotti-Bianco e Proemio del dott. Prompt: cinque versioni: italiana: (G. Boffito); francese e spagnuola: (dott. Prompt); inglese: (S. P. Thompson) e tedesca: (A. Müller); Firenze: Leo S. Olschki Edit., 1905; S. 59–86.
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum: 1320
Erscheinungsdatum: 1905
Verlag: Leo S. Olschki
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Erscheinungsort: Firenze (Florenz)
Übersetzer: Alphons Viktor Müller (1867–1930)
Originaltitel: Quaestio de situ et forma aquae et terrae
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Quelle: Commons, Google
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Wertvolle und überaus nützliche Untersuchung über die Natur der beiden Elemente Wasser und Erde, angestellt von dem berühmten Florentiner Dichter Dante Alighieri.

§ 1. Dante Alighieri aus Florenz, der geringste unter den wahren Philosophen, entbietet allen und jedem, welche diese Schrift lesen, Gruss in dem, der da ist der Urgrund und das Licht der Wahrheit.

Sie alle mögen wissen, dass bei meinem Aufenthalte in Mantua[1] eine Frage angeregt ward, welche, obschon sie des öfteren, allerdings mehr dem Scheine als der Wahrheit nach, besprochen wurde, dennoch ungelöst blieb. Da ich nun von meinen Kinderjahren an in der Liebe der Wahrheit erzogen bin, so konnte ich mich nicht damit zufrieden geben, genannte Frage ohne gründliche Untersuchung zu lassen, vielmehr trieb mich die Liebe zur Wahrheit und der Abscheu vor allem Unwahren dazu an, das Richtige an der Sache klar zu legen und die dagegen aufgeworfenen Schwierigkeiten zu lösen. Zudem habe ich durch dieses eigenhändige Schriftstück meine Ansicht und den ganzen [60] Gang der Untersuchung darlegen wollen, damit dieselbe nicht hinterrücks und in meiner Abwesenheit, von bosshaften, neidischen und lügenhaften Menschen, wie das wohl vorkommt, entstellt werde.

§ 2. Es handelte sich also um die Lage, Figur oder Form der beiden Elemente Wasser und Erde; und zwar verstehe ich hier unter Form jene, welche Aristoteles[2] bei den Praedicamenta zur vierten Species der Qualität rechnet.[3] Es sollte dabei zunächst untersucht und die Frage darauf beschränkt werden, ob das Wasser in seiner Sphäre, das heisst in seinem natürlichen Umfange an irgend welcher Stelle höher liege, als die Erde, die aus demselben hervorragt und die wir gewöhnlich als viertes bewohnbares (Element) bezeichnen. Die bejahende Ansicht stützte sich auf viele Gründe, von denen ich nach Ausscheidung einiger wertlosen, fünf behalten habe, die einige Beweiskraft zu haben schienen.

§ 3. Der erste Grund war folgender: Kreislinien, die ungleichen Abstand von einander haben, können unmöglich ein und denselben Mittelpunkt haben; nun stehen aber die Zirkumferenzen von Erde und Wasser ungleich von einander ab; also u. s. w. Dann schloss man weiter: Da der Erdmittelpunkt der allgemeinen Ansicht nach zugleich das Zentrum des Weltalls sei,[4] und was immer in der Welt ein anderes Zentrum habe, notwendigerweise [61] höher liege, so folge, dass der Umfang des Wassers höher liege, als jener der Erde, indem dieser sich ringsum nach der Lage des Zentrums gestalte. Der Vordersatz des Hauptschlusses schien geometrisch sicher, der Untersatz wurde bekräftigt durch die Erfahrung, dass an gewissen Orten der Umfang der Erde bald unter dem Wasser liegt, bald aus demselben hervorragt.

§ 4. Zweiter Grund: Dem vornehmeren Körper gebührt auch der vornehmere Ort;[5] nun ist aber Wasser vornehmer als Erde;[6] also muss es den vornehmeren Ort innehaben. Da ferner ein Ort um so vornehmer ist, je mehr er durch seine höhere Lage zu dem vornehmsten von allem, dem Himmelsgewölbe hinaufreicht, so folgt, dass die Lage des Wassers im Vergleich zur Erde die höhere, kurzum dass Wasser höher liegt als Erde; denn die Lage eines Ortes und dessen, was sich an dem Orte befindet, ist die nämliche.[7] Ober- und[8] Untersatz des Beweises schienen geradezu von selbst einleuchtend.

§ 5. Der dritte Grund war folgender: Jede den Sinnen widersprechende Ansicht ist zu verwerfen; nun widerspricht aber die Ansicht von der höheren Lage der Erde gegenüber dem Wasser dem Zeugnisse der Sinne; also ist sie zu verwerfen.

[62] Der Vordersatz sollte nach dem Commentator des III. Buches De anima[9] keinen Zweifel zulassen; zur Erhärtung des Untersatzes berief man sich auf das Zeugnis der Seeleute, welche auf hoher See die Berge unter sich sehen: auch berief man sich darauf, dass dieselben bei Besteigung des Mastbaumes Berge sehen, die sie im Schiffe selbst nicht sehen,[10] und zwar deshalb, weil die Erde vom Rücken des Meeres überragt, bedeutend tiefer liege.

§ 6. Viertens stellte man folgenden Beweis auf. Läge die Erde nicht wirklich tiefer, als das Wasser, so müsste sie auch ganz ohne Wasser sein, wenigstens in den blossliegenden Teilen, um die es sich ja zunächst nur handelt. Dann gäben es also weder Quellen, noch Flüsse, noch Seen. Da wir jedoch das Gegenteil gewahren, so muss auch das Gegenteil von dem, woraus dies folgte, wahr sein, das heisst, das Wasser liegt höher, als die Erde. Der Schluss findet auch darin seine Bestätigung, dass Wasser natürlicherweise nur nach unten fliesst; nun ist aber nach der Meteorologie[11] des Philosophen (Aristoteles) das Meer der Urquell aller Gewässer, also könnte das Wasser die (höhergelegene) Erde überhaupt nicht erreichen, falls es nicht schon höher läge; denn bei jedem natürlichen Abfluss von Wasser, muss der Behälter notwendig höher liegen.

§ 7. Fünfter Grund: Das Wasser scheint den Bewegungen des [63] Mondes sehr unterwürfig zu sein, wie man bei den Erscheinungen von Ebbe und Flut wahrnimmt;[12] da nun die Mondsphäre eine exzentrische Lage hat, so scheint es ganz folgerichtig, auch der Sphäre des Wassers eine ähnliche, der Mondsphäre angepasste Exzentricität zuzuschreiben; da ferner dieses, wie wir bereits beim ersten Grunde sahen, nur möglich ist, wenn das Wasser eine höhere Lage einnimmt, als die Erde, so folgt also wiederum dasselbe wie oben.

§ 8. Durch vorstehende und ähnliche, nicht weiter zu beachtende Gründe suchen also jene ihre Ansicht zu belegen, die dafürhalten, das Wasser liege höher, als die blossliegende, von uns bewohnte Erde, wie sehr auch Sinne und Verstand das Gegenteil dartun mögen. Die Sinne sagen uns doch, dass überall auf Erden die Flüsse bergab fliessen, sowohl zum südlichen, wie zum nördlichen, zum östlichen, wie zum westlichen Meere: ein Ding der Unmöglichkeit, falls die Quellen der Flüsse und die Flussbette selbst nicht höher lägen, als der Meeresspiegel. Auf die Vernunftgründe werden wir unten weiter eingehen, und zwar soll dabei die obenerwähnte Lage und Form der beiden Elemente einer allseitigen und gründlichen Untersuchung unterzogen werden.

§ 9. In folgender Reihenfolge soll nun dargetan werden: Erstens, dass das Wasser mit seiner [64] Oberfläche nirgendwo höher liegt, als die hervorragende oder blossliegende Erde; zweitens, dass die hervorragenden Erdteile überall höher sind, als die gesamte Wasserfläche; drittens sollen die vorgebrachten Gründe und Einwürfe widerlegt werden; viertens soll der letzte und wirkliche Grund angegeben werden, weshalb die Erde über das Wasser erhaben ist und aus demselben hervorragt; an fünfter Stelle werden dann die Gegengründe ihre Erledigung finden.

§ 10. Zunächst also sage ich: Wäre das Wasser seinem Gesamtumfange nach an irgend einer Stelle höher, als die Erde, so könnte dies nur auf zweierlei Art geschehen: Entweder müssten wir, wie an erster und fünfter Stelle behauptet wurde, eine exzentrische Lage desselben annehmen, oder aber mit Beibehaltung der konzentrischen Lage eine Aufbauschung desselben über die Erde an irgend einer Stelle zugeben. Eine andere Erklärung ist bei näherem Zusehen offenbar unmöglich. Beide Erklärungsweisen sind jedoch unzulässlich, also auch die Grundsätze, aus denen sie abgeleitet sind. Der Schluss hat in dem, was man über die hinreichende Einteilung eines Gegenstandes zu sagen pflegt, seine volle Berechtigung; die Folgerung selbst soll im folgenden näher nachgewiesen werden.

§ 11. Zur Klarstellung der Begründung bedürfen wir einer zweifachen [65] Voraussetzung: Erstens, dass Wasser natürlicherweise nur abwärts fliesse; zweitens, dass es ebenfalls von Natur aus ein zerfliessbarer, durch seine eigene Begrenzung nicht haltbarer Körper sei.[13] Wer diese beiden Sätze, oder auch nur einen derselben nicht zugeben wollte, mit dem wäre eine Unterhandlung unmöglich, da nach dem I. Buche Physicorum[14] in keiner Wissenschaft eine Discussion sich anstellen lässt mit einem, der die Grundsätze jener Wissenschaft leugnet, und zwar Grundsätze, die sich, wie es (nach I ad Nicomachum)[15] sein soll, auf die Erfahrung der Sinne stützen.

Figur 1 aus dem Faksimile der Ausgabe von 1508.

§ 12. Um also das erste Glied obiger Folgerungen zu entkräftigen, behaupte ich zunächst, dass es unmöglich ist, eine exzentrische Lage der Gesamtwassermasse zuzugeben. Hier der Beweis: Aus solcher Exzentricität würden drei unmögliche Dinge folgen: erstens eine natürliche Beweglichkeit des Wassers, sowohl nach oben, wie nach unten; zweitens würde das Wasser beim Absteigen sich der Erde nicht anbequemen; drittens müsste die Eigenschaft der Schwere in verschiedenem Sinne beiden Elementen zugeschrieben werden; alles das ist nicht bloss irrig, sondern geradezu unmöglich, wie aus folgendem erhellt. Der Kreis mit drei Kreuzchen in beistehender Figur (1) stelle die Sphaere des Himmels dar; der mit zweien die des Wassers, der mit einem die Erde. [66] Das Zentrum des Himmels und der Erde sei im Punkte A, das des Wassers im Punkte B. Ich behaupte nun, falls sich in A bewegliches Wasser befindet, so wird dies naturgemäss nach B hin fliessen, da jegliches, der Schwerkraft folgendes Ding sich naturgemäss nach dem Zentrum seiner Sphäre hin bewegt;[16] nun geht aber eine Bewegung von A nach B aufwärts; denn A ist im Vergleich zum Weltall der tiefste Punkt. Also wird das Wasser in gegebenem Falle naturgemäss nach oben streben; und damit wäre die Folge einer ersten Unmöglichkeit nachgewiesen. Nehmen wir noch an, ein Stück Erde befinde sich zugleich mit einem Teil Wasser in Z, beide ohne Unterstützung, dann würde, in Folge der Schwerkraft jedes Elementes nach dem Zentrum seiner Sphäre hin, die Erde sich von Z aus in gerader Linie gegen A, das Wasser gegen B hin bewegen; und zwar müssten die genannten Linien ZA und ZB (wie in der Figur) auseinander gehen. So etwas ist aber nicht nur unmöglich, sondern müsste selbst einem Aristoteles, falls er eine solche Behauptung hörte, lächerlich vorkommen. Damit ware auch der zweite Punkt klargelegt. Was den dritten angeht, so erkläre ich zunächst, dass schwer und leicht passive Eigenschaften einfacher Körper sind, die sich in gerader Linie fortbewegen, und zwar bewegen die leichten, sich nach oben, die schweren nach unter.[17] So nämlich fasse ich [67] die Beweglichkeit von leichtem und schwerem auf, wie es ja auch der Philosoph (Arist.) im Buche De Coelo et mundo[18] tut. Wenn nun Wasser sich nach B hin bewegte, Erde hingegen nach A hin, so müssten diese beiden schweren Körper ein verschiedenes, auf keine Weise übereinstimmendes Unten haben; einer ein allseitiges, der andere ein eindeutiges. Da ferner die Verschiedenheit des Endzieles auch eine Verschiedenheit in den Dingen selbst voraussetzt, die nach ihm hinstreben, so ist es klar, dass die Schwere des Wassers anderer Art sein müsste, als die der Erde; und da wiederum eine verschiedene Art bei gleichem Namen Aequivocation voraussetzt (nach Arist. in Antipraedicamentis),[19] so würde folgerichtig die Eigenschaft der Schwere dem Wasser und der Erde nur in aequivokalem Sinne beigelegt werden können; das war es aber, was wir an dritter Stelle darlegen wollten. Und so hätten wir also den wirklichen Beweis geliefert, nach Art der sogenannten negativen Beweise, dass das Wasser nicht exzentrisch liegen kann, wie der erste Teil des hauptsächlichsten, von uns zu widerlegenden Gegenbeweises folgerte.

Figur 2 aus dem Faksimile der Ausgabe von 1508.

§ 13. Um nun auch den zweiten Teil zu widerlegen, behaupte ich, dass es geradezu unmöglich ist, eine Aufbauschung des Wassers anzunehmen. Das beweise ich folgendermassen: (Fig. 2) Der Himmel [68] sei durch die vier Kreuze angedeutet, das Wasser durch drei, die Erde durch zwei; und zwar mögen Erde, Wasser und Himmel in D ihr gemeinschaftliches Zentrum haben; dabei ist vorauszusetzen, dass die Erde, um mit dem Wasser gleiches Zentrum zu haben, notwendigerweise an irgend einer Stelle über dasselbe erhaben sein, und wie allen Mathematikern klar sein wird, über die kreisförmige Zirkumferenz[20] an irgend einer Stelle aus dem Wasser hervorragen müsste. Die Aufbauschung des Wassers befinde sich also in H, die der Erde in G, man ziehe von D aus die beiden Geraden DH und DF. Offenbar ist die Linie DH länger als DF, also liegt H höher als F, und da beide sich an der Oberfläche des Wassers befinden, und nicht weiter, so ist es klar, dass das Wasser der Bauschung höher liegt, als der Wasserspiegel in F. Da jedoch die Bauschung durch nichts zurückgehalten wird, so müsste das Wasser nach dem oben Gesagten hier notwendig auseinanderfliessen, um sich ebenfalls naturgemäss konzentrisch um D zu lagern. Damit wäre es aber um die Aufbauschung geschehen, sie wäre ein Ding der Unmöglichkeit, was wir ja beweisen wollten. Zu dieser Hauptbeweisführung liesse sich noch ein zweiter Probabilitätsbeweis hinzufügen, dass das Wasser unmöglich eine dauernde Erhebung über seinen gewöhnlichen Spiegel aufweisen könne: Was nämlich durch ein einziges Mittel erreicht werden [69] kann, würde unpassenderweise durch mehrere erstrebt werden;[21] nun werden wir aber weiter unten sehen, dass die ganze Verschiedenheit durch die blosse Erhabenheit der Erde erreicht wird; also ist keine Erhebung des Wassers zuzugeben; denn Gott sowohl, wie die Natur, erstreben immer das bessere (vergl. Arist. De coelo et mundo[22] und II. De generatione animalium[23]). Damit dürfte der erste Teil erledigt sein, das heisst der Nachweis der Unmöglichkeit, dem Wasser eine Erhebung über seinen natürlichen Spiegel zuzuschreiben, eine Erhebung nämlich über die Oberfläche der bewohnten Erdteile: Das war ja der Punkt, den wir zunächst zu behandeln hatten.

§ 14. Kann also das Wasser, wie wir mit Hilfe der Fig. 1 nachwiesen, keine exzentrische Lage haben; kann es, wie Fig. 2 dartat, keine Aufbauschung haben, so bleibt nur übrig, dass es konzentrisch nivelliert[24] um den Erdmittelpunkt liege, also selbstverständlich, in allen Punkten seiner Oberfläche gleichweit von diesem Punkte abstehe.

§ 15. Nun fahre ich fort in der Beweisführung: Was immer über eine Kreislinie hinausragt, ist offenbar weiter vom Zentrum entfernt, als irgend ein Punkt der Kreislinie selbst; der Augenschein lehrt uns aber, dass alle Küsten des Ozeans überhaupt, die des Mittelmeeres im [70] besonderen, über den Spiegel der angrenzenden Wasser erhaben sind; also sind sämtliche Küsten weiter vom Weltmittelpunkte entfernt; denn das Erdzentrum und das des Wassers sind ein und dasselbe, und der Wasserspiegel an den Küsten ist nur ein Teil der Gesamtoberfläche. Da ferner je weiter etwas vom Zentrum absteht, als um ebensoviel höher gelegen zu betrachten ist, so folgt, dass alle Küsten höher liegen, als das Gesamtmeer; was von den Küsten gesagt, gilt mit viel mehr Grund von den übrigen Erdteilen, von denen sie, wie die zu ihnen absteigenden Flüsse beweisen, die tieferen Lager bilden. Der Obersatz dieser Beweisführung erhellt aus der Geometrie, die Schlussfolgerung fusst auf der Erfahrung, erhält übrigens auch in der oben nachgewiesenen Unmöglichkeit ihre Bestätigung. Damit wäre auch der zweite Punkt klargestellt.

§ 16. Kommen wir nun zu den Einwürfen gegen das bisher Gesagte: Die schwersten Körper, sagt man, sind es vor allem, die ringsum nach dem Zentrum hinstreben; nun ist aber der Erdstoff der schwerste unter den Körpern; also muss er vor allem gleichmässig ringsum nach dem Mittelpunkt streben; das heisst, wie noch näher erklärt werden soll, die Erdmasse hat an allen Punkten ihres Umfanges den gleichen Abstand vom Zentrum, was durch den Ausdruck gleichmässig angedeutet ist; auch bildet [71] sie Grundstock aller übrigen Körper, daher die Worte vor allem. Wäre nun das Wasser konzentrisch gelagert, so müsste es die Erde allenthalben überfluten und deren Oberfläche unsichtbar machen; und doch sehen wir das Gegenteil. Dass dem so sein müsste, lässt sich folgenderweise dartun: Nehmen wir statt eines allseitigen gleichmässigen Abstandes der Erdoberfläche das Gegenteil an, dass nämlich ein Teil etwa zwanzig Stadien,[25] ein anderer nur zehn (vom Zentrum) abstehe; dann wäre eine Halbkugel[26] grösser, als die andere; auf den grösseren oder geringeren Abstand kommt es dabei wenig an, es genügt, dass ein Unterschied vorhanden. Da nun aber offenbar die grössere Halbkugel auch ein grösseres Gewicht aufweisen müsste, so würde sie durch ihre Schwere die kleinere aus ihrer Lage verdrängen, bis ein Ausgleich der beiden Massen stattgefunden, und ringsum ein gleichmässiger Abstand von etwa fünfzehn Stadien hergestellt wäre; Gewichtsausgleichungen, wie wir sie beim Abwägen an der Wage sehen. Es ist also offenbar unmöglich, dass eine gleichmässig nach dem Zentrum strebende Erdmasse in den Teilen ihrer Oberfläche ungleichmässig und in verschiedenem Abstande vom Zentrum gelagert sei; sie muss also notwendig ein und denselben Abstand aufweisen, wo ein solcher vorhanden. Das bezüglich des gleichen Abstandes. Dass sie ausserdem, wie gefolgert wurde, den Grundstock alles [72] übrigen bilden würde, lässt sich folgenderweise klarstellen. Je stärker eine Kraft, um so eher erreicht sie ihr Ziel; denn darin liegt eben ihre Stärke, dass sie auf sichere und leichte Weise ihren Zweck erfüllt. Die grössere Schwerkraft befindet sich aber in dem Körper, der das grössere Bestreben hat, sich dem Zentrum zu nähern, und das ist die Erdmasse; also muss diese auch vor allem dem Zentrum nahekommen, sie muss tiefer liegen, als alles andere, eben weil sie, wie hiermit klar sein dürfte, schwerer ist. Damit ist aber auch die Unmöglichkeit der Annahme nachgewiesen, Wasser und Erde lägen, wie dennoch behauptet wurde, konzentrisch.

§ 17. Der Einwurf scheint wenig zu beweisen, und zwar darf zunächst der Vordersatz des Hauptschlusses nicht zugegeben werden. Es wurde nämlich behauptet, der schwerste von allen Körpern müsse von allen Seiten gleichmässig und vor allen andern zum Zentrum hinstreben. Das scheint nicht gerade notwendig; denn mag immerhin die Erdmasse im Vergleich mit anderen Körpern als schwerer gelten, so kann sie doch in sich ungleich schwere Teile aufweisen, und da ein Gleichgewicht schwerer Körper nicht durch die Ausdehnung beider, sondern durch das Gewicht herbeigeführt wird, so ist ein solches [73] Gleichgewicht selbst bei ungleicher Ausdehnung möglich. Jener Gegenbeweis war also nur ein Scheinbeweis ohne wirkliche Grundlage.

§ 18. Diese erste Lösung scheint jedoch unzulässig, da sie auf der Unkenntnis der Natur homogener und einfacher Körper beruht. Homogene Körper, wie reines Gold, und einfache, wie Feuer und Erde, werden gleichmässig in ihren Teilen von jeglicher natürlichen Einwirkung beeinflusst.[27] Da nun auch der Erdstoff ein einfacher Körper ist, so muss auch er für gewöhnlich und an und für sich in seinen Teilen gleichmässig beeinflusst werden. Da ferner die Schwere eine natürliche Eigenschaft des einfachen Erdkörpers ist, so folgt notwendig, dass dieser in all’ seinen[28] Teilen nach dem Masse der Ausdehnung gleiche Schwere aufweise: und damit wäre die Lösung sowohl im besonderen, wie im allgemeinen, auf ihr nichts, das heisst auf einen Trugschluss zurückgeführt. Es ist demnach wohl zu beachten, dass im allgemeinen die Natur ihr Ziel stets erreicht.[29] Wenn sie dennoch in dem einen oder anderen besonderen Falle, wegen der Unfügsamkeit der Materie, ihren Zweck nicht erreicht, so kann so etwas doch nie allgemein werden, da der Natur im allgemeinen Akt und Potenz der Dinge, die da sein oder nicht sein können, in gleicher Weise zur Verfügung stehen. Nun liegt es aber in der Absicht der Gesamtnatur, [74] dass alle Formen, die sich in der Potenz des Urstoffs finden, auch wirklich zur Ausbildung und nach ihrer Art zur förmlichen Existenz gelangen; der gesamte Urstoff steht somit unter dem Einflusse aller materiellen Formen, obschon er mit einer Ausnahme in einzelnen Teilen einer entgegengesetzten allgemeinen Privation unterliegt. Da nämlich alle Formen, die sich in der Potenz der Materie finden, eine ideale Aktualität in dem Beweger des Himmels haben, so würde nach dem Kommentator (de substantia orbis)[30] dieser Himmelsbeweger das Princip seiner allhin sich verbreitenden Güte verleugnen, falls alle jene Formen ohne Verwirklichung blieben; das kann man aber nicht annehmen. Da ferner alle materiellen Formen neuer Erzeugnisse und absterbender Dinge, mit Ausnahme der Elementarformen, eine gemischte Materie und vorgestaltetes Subjekt verlangen, welches den Elementen als Elementen zum Ziele dient; da ferner eine Mischung offenbar unmöglich, falls nicht die zu mischenden Dinge sich nicht zusammenfinden, so folgt hieraus die Notwendigkeit, dass es im Weltall einen Ort geben muss, wo alle zur Mischung erforderlichen Elemente sich vorfinden. Einen solchen aber gäbe es selbstverständlich nicht, wofern die Erde nicht irgendwo (aus dem Wasser) hervorragte. Insofern nun die Absicht der Gesamtnatur die Unterwürfigkeit jeder einzelnen voraussetzt, so musste also der Erdstoff, [75] ausser seiner einfachen natürlichen Strebekraft nach Unten, noch eine andere, jenem Zweck des Gesamten entsprechende Beschaffenheit haben, durch die er befähigt sei, wenigstens teilweise von der Kraft des Himmels emporgehoben zu werden, gewissermassen einem höheren Befehle gehorchend; ähnliches nehmen wir ja bei den begierlichen und sich auflehnenden Leidenschaften des Menschen wahr, welche, obschon aus sich auf das Sinnliche gerichtet, dennoch zuweilen, der Vernunft gehorchend, sich zügeln lassen. (Vergl. I. Ethicorum).[31]

Figur 3 aus dem Faksimile der Ausgabe von 1508.

§ 19. Obschon also der Erdstoff als einfaches Element, gleichmässig nach dem Erdmittelpunkte hinstrebt, wie bei Begründung des Einwandes gesagt wurde, so lässt er dennoch durch eine gewisse Beschaffenheit eine teilweise Erhebung zu, indem er hierin dem Bestreben der Gesamtnatur zur Ermöglichung einer Mischung nachgibt. Auf diese Weise kann man an der Konzentricität von Erde und Wasser festhalten, ohne dabei irgend etwas Unmögliches anzunehmen, oder mit der gesunden Philosophie in Widerspruch zu geraten. Figur 3 möge die Sache erklären: Der Kreis A stelle den Himmel dar, der mit B bezeichnete das Wasser, der mit C die Erde; es kommt dabei nicht darauf an, wie weit das Wasser die Erdoberfläche überrage. Die Figur zeigt die wahre Lage der beiden Elemente, während die beiden vorhergehenden eine fingierte [76] Sachlage darstellten; sie sollten (nach I. Priorum)[32] nur zur Veranschaulichung des oben Gesagten dienen. Es genügt, die Umrisse der emporragenden Erde zu betrachten, um einzusehen, dass sie durch eine Erhebung, und nicht in kugelförmigem Umkreis, aus dem Wasser hervorragt;[33] sie hat nämlich die Gestalt eines Halbmondes, die sie auf keinen Fall haben könnte, falls sie nach Art einer regelmässigen Kugel emporragte. Es lässt sich nämlich geometrisch beweisen, dass eine Kugel aus einer Ebene oder aus einer andern Kugelfläche; wie die Oberfläche des Wassers sie bilden würde, nur mit kreisförmigem Horizont sich erheben könne. Jene halbmondförmige Gestalt der Erde kann aber nach allen geographischen, astrologischen und kosmographischen Beschreibungen nicht bezweifelt werden. Alle geben nämlich zu, dass die bewohnbare Erde, wie Orosius[34] berichtet, sich der geographischen Länge nach von den Gades des Hercules[35] im Westen, bis zur Mündung des Ganges[36] im Osten erstreckt. Diese Ausdehnung ist aber eine so grosse, dass die zur Zeit des Aequinoctiums[37] an einem Ende untergehende Sonne am andern bereits aufgeht, wie bei Gelegenheit einer Mondfinsternis von den Sternkundigen beobachtet wurde. Es handelt sich also um einen Abstand von 180°, das heisst von einem halben Kreisumfange. In der Richtung der (geographischen) Breite[38] hingegen liegen nach denselben Sachverständigen die Erdgrenzen [77] zwischen dem Aequator[39] und dem nördlichen Polarkreis,[40] so dass die einen den Himmelsaequator,[41] die andern den nördlichen Pol der Ekliptik[42] bezüglich im Zenith haben. Dieser liegt aber vom eigentlichen Nordpol nahezu 23 Grad entfernt, so dass also offenbar die Ausdehnung in der Breiterichtung nur etwa 67 Grad umfasst. Daraus ergiebt sich nun von selbst, dass die Gestalt der hervorragenden Erde nahezu die eines Halbmondes sein muss, indem ihre Länge und Breiteverhältnisse es so mit sich bringen. Hätte sie einen kreisförmigen Horizont, so hätte sie auch eine kreisförmige konvexe Gestalt mit gleicher Ausdehnung in Länge und Breite, wie selbst einem Weiberverstande einleuchten müsste. Damit hätten wir auch den dritten Punkt unserer Aufgabe erledigt.

§ 20. Es erübrigt nun noch, den Endzweck und die Ursache der hinreichend bewiesenen Erhebung der Erde zu untersuchen. So will es ja die regelrechte Ordnung, dass man zunächst die Thatsache feststelle, dann das Warum erforsche. Bezüglich der Causa finalis[43] mag das bisher Gesagte genügen; was die Causa efficiens[44] angeht, so schicken wir voraus, dass es sich hier um [78] eine naturwissenschaftliche Frage handelt, da Wasser und Erde physisch veränderliche Dinge sind; in jeder Frage darf man aber nur die Gewissheit anstreben, deren die Sache überhaupt fähig ist (wie ausdrücklich im I. Buche Ethicorum[45] gesagt wird). Von Geburt an ist uns übrigens der Weg, die Wahrheit bezüglich natürlicher Dinge zu erforschen, vorgezeichnet, das heisst, von uns bekannteren Naturerscheinungen, mögen sie auch ihrem Wesen nach wenig erforscht sein, schreiten wir zur vollständigeren Erkenntnis des Wesens der Dinge voran (vergl. I. Physicorum).[46] Nun sind aber bei dergleichen Erscheinungen die Wirkungen stets leichter erkennbar, als die Ursache; denn von ersteren kommen wir erst zur Erkenntnis der Ursachen. So führte zum Beispiel die Erscheinung der Sonnenfinsternis[47] zur Erkenntnis, dass es sich dabei um eine Verhüllung durch den Mond handle, die blosse Bewunderung der Erscheinung führte zur philosophischen Erkenntnis;[48] kurzum bei dergleichen Naturerscheinungen muss die Untersuchung von der Wirkung zur Ursache fortschreiten. Dieser Weg, obschon hinreichend sicher, führt aber dennoch nicht zu jenem Grade von Gewissheit, den wir bei mathematischen Untersuchungen gewohnt sind, bei denen man umgekehrt von der Ursache oder von einem höheren Grunde, zur Wirkung oder Folgerung vorangeht. Suchen wir also nur die Gewissheit, deren unser Gegenstand überhaupt fähig [79] ist. Zunächst behaupte ich nun, dass die wirkende Ursache der Erhebung nicht die Erde selbst sein kann. Sich erheben heisst nämlich in die Höhe streben; nach oben streben ist aber gegen die Natur der Erde. Da nun aber kein Ding die Ursache von dem sein kann, was gegen seine eigne Natur ist, so folgt notwendig, dass die Erde selbst nicht Ursache ihrer Erhebung sein kann. Ebensowenig kann das Wasser die Ursache sein; denn Wasser ist ein homogener Stoff, der als solcher allenthalben dieselbe Fähigkeit besitzt; es läge mithin kein Grund vor, weshalb die Erhebung mehr an dieser, als an einer anderen Stelle erfolgte. Dasselbe gilt von der Luft und vom Feuer. Es bleibt also nichts anderes übrig, als der Himmel; weshalb wir in ihm die wahre Ursache jener Wirkung zu suchen haben, und da es mehrere Himmel gibt, so fragt es sich ferner, welcher von diesen als die eigentliche Ursache zu bezeichnen sei.[49] Die Mondsphäre[50] bleibt ausgeschlossen, denn der Mond selbst bildet das Organ ihrer Kraft oder Einwirkung; dieser bewegt sich aber längst der Ekliptik vom Aequator aus bis zu gleichem Abstande bald nach dem Südpol, bald nach dem Nordpol hin und müsste also diesseits wie jenseits des Aequators eine Erhebung verursachen, was nicht der Fall ist. Man wende nicht ein, dass letztere Erhebung wegen der grösseren Erdnähe in Folge der Exzentricität nicht habe stattfinden können; denn hätte der Mond überhaupt [80] jene Hebekraft, so müsste sie sich dort der grösseren Nähe wegen mehr äussern als hier.[51]

§ 21. Aus dem nämlichen Grunde müssen alle Planetensphären von der Kausalität ausgeschlossen bleiben. Das Primum mobile[52] aber, die sogenannte neunte Sphäre, bietet wegen ihrer Gleichartigkeit ringsum keinen Grund, weshalb die Erhebung eher an dem einem, als an einem andern Orte stattfand. Da es dann ausser dem Fixsternhimmel, d. h. der achten Sphäre, keinen beweglichen Körper mehr gibt, so bleibt nichts übrig, als in ihm die wahre Ursache zu suchen. Um dies einzusehen, möge man wissen, dass der Sternhimmel trotz seiner Wesenseinheit, dennoch einen vielfältigen Einfluss ausüben kann; diese Vielfältigkeit beruht auf den einzelnen sichtbaren Teilen, welche die verschiedenen Organe jenes Einflusses bilden; wer das nicht zugibt, mit dem ist überhaupt nicht weiter zu philosophieren. Sehen wir doch Verschiedenheiten in der Grösse der Sterne, in ihrer Helligkeit, in den Figuren, wie in den Sternbildern; solche Verschiedenheiten müssen doch, wie jeder Denkende leicht einsieht, ihren Zweck haben. Der Einfluss des einen Sternes ist somit verschieden von dem eines anderen, der des einen Sternbildes verschieden von dem des anderen; verchieden auch der der nördlichen Sterne von dem der südlichen.[53] Da ferner nach Ptolemaeus die oberen Aspecte den untern [81] ähnlich sind,[54] und wir nun einmal, wie gesagt, im Sternenhimmel die Ursache zu suchen haben, so bleibt nichts übrig, als eine besondere Ursächlichkeit in der Himmelsgegend anzunehmen, die jene Erderhebung überspannt. Oben sahen wir aber, dass letztere sich vom Aequator bis zum nördlichen Polarkreis erstreckt, also muss auch die Hebekraft jenen Sternen zukommen, welche sich zwischen genannten Himmelsstrichen befinden, mag es sich nun um eine Anziehungskraft handeln, ähnlich jener, mit der ein Magnet Eisen anzieht, oder um eine Triebkraft durch Erzeugung treibender Dämpfe, wie sie in einigen Gebirgen vorkommt. Dann aber entsteht die Frage, woher es komme, dass jene im Kreise sich umdrehende Himmelsgegend nicht ringsum eine Erhebung verursacht habe. Die Antwort ist: weil der vorhandene Stoff dazu nicht ausreichte. Darauf stellt man die schwierigere Frage, warum die Erhebung gerade die Hälfte der Erdkugel, und zwar gerade diese und keine andere umfasse. Darauf lässt sich nur die Antwort des Philosophen (II. De cœlo)[55] wiederholen auf die Frage nämlich, warum der Himmel sich von Osten nach Westen und nicht umgekehrt drehe, erwidert er, solche Fragen, die unsere Verstandeskraft übersteigen, rührten nur von Torheit oder Anmassung her. Sagen also auch wir als Erwiderung auf jene Frage, dass Gott, der glorreiche Ordner der Pole, des Zentrums und des [82] Umfanges des Weltalls, es so für gut befunden hat. Als er nämlich sprach : «Es sollen die Wasser sich an einem Orte ansammeln, und es komme die trokene Erde zum Vorschein»,[56] da erhielt der Himmel seine Kraft zur Beeinflussung, die Erde die Potenz, beeinflusst zu werden.

§ 22. Es mögen daher die Menschen vor allem davon abstehen, erforschen zu wollen, was für sie zu hoch ist; mögen sie sich mit dem erreichbaren begnügen, um so unsterbliches und göttliches, soweit es die Kräfte gestatten, zu erreichen; das zu Hohe lasse man! Hören wir die Worte des Freundes an Hiob: «Wirst du im stande sein, die Spuren Gottes zu verstehen und den Allmächtigen vollkommen zu begreifen?»[57] Man höre den Psalmisten: «Wunderbar ist deine Weisheit an mir geworden, sie ist bekräftigt und gegen sie vermag ich nichts».[58] Man höre Jesaias, wo er sagt: «So gross der Abstand des Himmels von der Erde, so weit liegen meine Wege abseits von den eurigen»;[59] er redete nämlich im Namen Gottes zum Menschen. Man höre die Stimme des Apostels an die Römer: «0 Tiefe des Reichtumes, [83] der Wissenschaft und der Weisheit Gottes: wie unbegreiflich sind seine Urteile und wie unerforschlich seine Wege».[60] Zum Schlusse höre man die Worte Gottes selber, wo er sagt: «Wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht kommen».[61] Das dürfte bei Erforschung der gesuchten Wahrheit genügen.

§ 23. Nach alledem ist es leicht, die oben vorgebrachten Schwierigkeiten zu lösen; das wollten wir ja an fünfter Stelle tun. Also auf den Einwurf: Zwei ungleich von einander abstehende Kreise könnten unmöglich ein gemeinschaftliches Zentrum haben, antworte ich, dass dies allerdings bei Kreisen ohne eine oder mehrere Ausbauschungen zutreffe. Den Untersatz, die Wasser- und[62] Erdsphären stellten solche Kreise vor, leugne ich einfachhin, da die Erde tatsächlich eine Erhebung aufweist; also ist der Einwurf wertlos. Was die zweite Schwierigkeit anbelangt, dem vornehmeren Körper gebühre der vornehmere Platz, so ist das richtig betreffs der eigenen Natur; auch kann der Untersatz zugegeben werden; wenn man aber hieraus den Schluss ziehen möchte – also muss das Wasser höher liegen – so ist auch das richtig, sofern die Natur beider Körper in Betracht kommt; dabei geschieht es aber, dass in Folge einer aussergewöhnlichen Ursache, wie wir oben auseinandersetzten, die Erde an einer Stelle dennoch höher liegt. Es fehlte also an jenem Schlusse etwas. Der dritte [84] Einwurf: Jede den Sinnen widersprechende Meinung ist zu verwerfen – beruht meines Erachtens auf einer falschen Vorstellung. Die Schiffsleute auf hoher See bilden sich nämlich ein, sie sähen deshalb die Erde vom Schiffe aus nicht, weil das Meer höher liege, als die Erde. Das ist aber unrichtig; in diesem Falle müssten sie sogar die Erde noch besser sehen. Die Täuschung erklärt sich durch die Unterbrechung des gradlinigen Visionsradius durch die konvexe Wasserfläche. Da diese nämlich eine allseitige Rundung um den Mittelpunkt bilden muss, so erscheint sie aus einiger Entfernung als gewölbte Fläche. Auf die vierte Schwierigkeit – wäre die Erde nicht tiefer gelegen u. s. w. – ist zu erwidern, dass sie sich auf etwas Falsches stützt, und damit hinfällig ist. Gewöhnliche Leute und solche, die von physischen Gesetzen wenig verstehen, glauben allerdings, das Wasser steige auf die Spitzen der Berge und zu den Flussquellen in Form von Wasser empor; das ist aber eine sehr kindische Anschauung; denn in Wirklichkeit, wie dies der Philosoph in Meteoris[63] erklärt, ist das dort entstehende Wasser in Dampfform hinaufgestiegen. Fünftens endlich hiess es – Wasser sei ein mondverwandter Körper, müsse also, da die Mondsphäre exzentrisch sei, ebenfalls eine exzentrische Lage haben. – Eine solche Folgerung ist nicht notwendig. Wenn nämlich ein Ding einem anderen ähnlich ist in einem Punkte, so folgt noch nicht, [85] dass es deshalb in jeder Hinsicht ihm ähnlich sein müsse. Das Feuer hat zum Beispiel Verwandtschaft mit dem kreisenden Himmel[64] und dennoch bewegt es sich in gerader Richtung und hat sonstige entgegengesetzte Eigenschaften. Jener Grund ist also nicht stichhaltig. Damit genug über die Schwierigkeiten. Und hiermit schliesst unsere Besprechung über die Form und Lage der beiden Elemente, zu der wir oben einluden.

§ 24. Vorstehende philosophische Discussion ward abgehalten unter der Regierung des ruhmreichen Herrn Can Grande della Scala,[65] des Vertreters des heiligen römischen Reiches, von mir Dante Alighieri, dem letzten unter den Philosophen, in der hehren Stadt Verona,[66] in der Kapelle der heiligen Helena, in Gegenwart des gesamten Klerus von Verona; auszunehmen sind einige wenige, die aus allzugrosser Nächstenliebe die Ansichten anderer verschmähen und die aus lauter Demut die Armen des h. Geistes nicht anhören wollen, um selbst den Schein zu vermeiden, deren Tüchtigkeit anzuerkennen. So geschehen im Jahre 1320 nach Christi Geburt, an einem Sonntage, welchen Tag unser göttlicher Heiland ja durch seine glorreiche [86] Geburt und wunderbare Auferstehung besonders ehrwürdig gemacht hat; es war aber der siebente Tag seit den Jdus[67] des Januar, also der dreizehnte vor den Kalenden des Monats Februar (20 Jan. 1320).




Anmerkungen (Wikisource)

Die „Quaestio de situ et forma aquae et terra“e („Untersuchung über Lage und Form des Wassers und der Erde“) ist ein Vortrag, den Dante am 20. Januar 1320 in der Kapelle der Heiligen Helena in Verona über ein zuvor in Mantua aufgekommenes Streitthema hielt. In dieser Untersuchung, die sich als naturwissenschaftlich ausgerichtetes (non est extra materiam naturalem) Werk der Philosophie versteht, geht es um die Frage, warum die Erde als niederstes der vier Elemente nicht vollständig von Wasser bedeckt ist.

Der vorliegende Text stellt die erste Übersetzung des Werkes in die deutsche Sprache dar. 1994 wurde der Text von Dominik Perler zum zweiten Mal übersetzt.

  1. Mantua, eine Stadt in der Lombardei.
  2. Aristoteles, griechischer Philosoph (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.). Seine Werke waren zu Dantes Lebzeiten die Standardlehrbücher der Scholastik.
  3. Gemeint ist der Abschnitt zu den Qualitäten in Aristoteles’ Werk Kategorien.
  4. vgl. Aristoteles: de caelo 2, 3, 13.
  5. vgl. Aristoteles: de caelo 2, 5, 13; De generatione animalium 3, 4.
  6. vgl. Thomas von Aquin: Physicorum 4, 8, 6.
  7. vgl. Aristoteles: Physik 4, 30; vgl. Thomas von Aquin: Physicorum 4, 6, 17.
  8. Vorlage: Ober-und
  9. De anima (dt.: Über die Seele) ist eine Schrift des Aristoteles, die dasjenige untersucht, was bewirkt, dass einem natürlichen Körper das Prädikat „lebendig“ zugesprochen werden kann. Der von Dante erwähnte Commentator ist wahrscheinlich Averroës, der zu nahezu jedem Werk Aristoteles’ einen Kommentar verfasste.
  10. vgl. Plinius der Ältere: Naturalis historia 2, 65.
  11. vgl. Aristoteles: Meteorologie 2, 2.
  12. vgl. Aristoteles: De mundo 4; Strabon: Geographica 1, 3, 11; Plinius der Ältere: Naturalis historia 2, 97.
  13. vgl. Aristoteles: De caelo 2, 4; De generatione et corruptione 2, 9.
  14. vgl. Aristoteles: Physik 1, 8; Dante Alighieri: Il Convivio 4; Monarchia 3, 3.
  15. vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1, 7.
  16. vgl. Aristoteles: De caelo 2, 14.
  17. vgl. Aristoteles: Physik 4, 42.
  18. vgl. Aristoteles: De caelo 1, 3–5.
  19. vgl. Aristoteles: Categoriae 1.
  20. Zirkumferenz: Ausdehnung; Umfang.
  21. vgl. Aristoteles: De caelo 2, 4; Thomas von Aquin: Summa contra gentiles 1, 42; 3, 70; Dante Alighieri: Monarchia 1, 14, 1.
  22. vgl. Aristoteles: De caelo 1, 4; 2, 5.
  23. vgl. Aristoteles: De generatione animalium 2, 1.
  24. nivelliert: gleichmachen; ausgleichen; auf das gleiche Niveau bringen; Unterschiede beseitigen.
  25. Das Stadion ist eine antike Längeneinheit, die durch regionale Unterschiede zwischen 157 Meter und 209 Meter lang ist. Gewöhnlicherweise geht man jedoch von 625 Fuß (185,22 Meter) aus.
  26. vgl. Aristoteles: De caelo 2, 14; Thomas von Aquin: De caelo 2, 27, 6.
  27. vgl. Aristoteles: Meteorologie 4, 10; De caelo 3, 5.
  28. Vorlage: all’seinen
  29. vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica 1, 22, 2; 103, 8; Albertus Magnus: Physik 2, 1, 5.
  30. De substantia orbis ist eine Abhandlung des spanisch-arabischen Philosophen Averroës.
  31. vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1, 13.
  32. vgl. Aristoteles: Analytica priora 1, 41.
  33. vgl. Albertus Magnus: Meteor. 2, 2, 6.
  34. vgl. Orosius: Historiarum Adversum Paganos Libri VII 1, 2, 7.
  35. Gemeint sind die Säulen des Herakles, wie man im Altertum den Felsen von Gibraltar und den Berg Dschebel Musa in Marokko nannte. Den Griechen zufolge hieß es, diese Meerenge würde das westliche Ende der Welt bilden und wäre einst von Herakles gesetzt worden.
  36. Der Ganges ist ein 2.511 km langer Fluss in Indien und Bangladesch, und galt zu Dantes Lebzeiten als östliches Ende der Erde.
  37. Aequinoctium: die Tagundnachtgleiche.
  38. vgl. Geographische Breite.
  39. vgl. Äquator.
  40. vgl. Polarkreis
  41. Die Projektion des Äquators auf die Himmelssphäre ist der Himmelsäquator.
  42. Die Ekliptik ist die Projektion der scheinbaren Bahn der Sonne im Verlauf eines Jahres auf die Himmelskugel.
  43. Die Causa finalis ist der lateinische Begriff für die aristotelische Finalursache (auch Zielursache oder Zweckursache). Bei einer Finalursache wird die Ursache eines Geschehens als geplanter Zweck gedeutet.
  44. Die Causa efficiens (wirkende Ursache) ist eine der vier Ursachen der Naturphilosohie von Aristoteles; sie ist eine äußere Ursache, nämlich „die Quelle, worin die Veränderung oder die Ruhe ihren Ursprung hat“. Die causa efficiens bewirkt also, dass etwas erzeugt wird.
  45. vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1, 3.
  46. vgl. Aristoteles: Physik 1, 2.
  47. vgl. Aristoteles: De caelo 2, 17.
  48. vgl. Aristoteles: Metaphysik 1, 2.
  49. Nach Dantes Weltanschauung bestand der Himmel aus neun verschiedenen Sphären, die sich um die Erde bewegten. Angetrieben wurden sie von der neunten Sphäre, die primum mobile hieß. Oberhalb der neun Sphären ist das Empyreum, der Sitz Gottes. Genaueres zum mittelalterlichen Weltbild lässt sich in Dantes Divina Commedia finden.
  50. Mondsphäre: die erste von neun Sphären.
  51. vgl. Plinius der Ältere: Naturalis historia 2, 97.
  52. Primum mobile: die neunte Sphäre, welche alle unteren Sphären antreibt.
  53. vgl. Dante Alighieri: Il Convivio 2, 3, 15; Divina Commedia (Paradiso) 2, 64–66.
  54. vgl. Claudius Ptolemäus: Centiloquium 9.
  55. vgl. Aristoteles: De caelo 2, 5.
  56. vgl. Genesis 1, 9.
  57. vgl. Hiob 11, 7.
  58. vgl. Psalm 138, 6.
  59. vgl. Jesaja 45, 9.
  60. vgl. Brief des Paulus an die Römer 11, 33.
  61. vgl. Johannes 13, 33.
  62. Vorlage: Wasser-und
  63. vgl. Aristoteles: Meteorologie 1, 9.
  64. vgl. Thomas von Aquin: De caelo 2, 10, 12.
  65. Cangrande I. della Scala (1291 – 1329) war Stadtherr von Verona aus der Familie der Scaliger von 1308 bis 1329. Er nahm Dante für einige Zeit in Verona auf, als dieser im Exil lebte. Der Schriftsteller widmete ihm schließlich den letzten Abschnitt der Göttlichen Komödie, das Paradiso.
  66. Verona ist eine Stadt im Veneto in Norditalien.
  67. Die Iden (lat. Idūs) eines Monats sind bestimmte Tage im römischen Kalender. Im März, Mai, Juli und Oktober fielen sie auf den 15., in den anderen Monaten auf den 13. Tag des Monats.