RE:Accusatio

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Anklage im Strafprocess
Band I,1 (1893) S. 151 (IA)–153 (IA)
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Accusatio ist die Anklage im Strafprocess (Dig. XLVIII 2. Cod. IX 2) doch giebt es auch eine accusatio suspecti tutoris (Dig. XXVI 10, 1, 7. Rudorff Vormundschaftsrecht III 176ff. § 193–200) und accusatio testamenti von Seiten des Pflichtteilserben (Dig. V 2, 6, 2; vgl. Kuntze Kursus des röm. Rechts §, 871. 905). Die strafrechtliche A. besteht in der Übernahme der Rolle eines Verfolgers vor Gericht und ist daher mehr als die blosse Anzeige einer Strafthat bei der Obrigkeit. Anklagerecht und Anklageform haben im Laufe der römischen Rechtsgeschichte mannigfache Abänderungen erfahren. Hinsichtlich des ersteren unterscheidet man den Anklageprocess, welcher ohne einen Ankläger nicht geführt werden darf, von dem Inquisitionsverfahren, welches von Amtswegen geleitet wird. Ob und wie weit die eine oder die andere dieser Strafprocessformen in Rom bestand, ist zweifelhaft (vgl. hierüber insbesondere Geib Geschichte des röm. Kriminalprozesses 101–109. 254–261. 515–563). Man muss hierbei die von Geib nicht genügend (namentlich nicht in der Beurteilung der S. 526 Anm. 82 u. 83 angezogenen Texte) auseinandergehaltenen Fragen unterscheiden, ob die Erhebung einer Anklage für das Urteil notwendig war und ob die Obrigkeit eine Anklage veranlassen konnte oder musste. In der ersteren Hinsicht scheint das römische Verfahren die Grundsätze des Anklageprocesses niemals aufgegeben zu haben; vgl. Cic. pro Rosc. Am. 56; Verr. II 98f. Dig. L 4, 6, 2. Dagegen waren einerseits die Voruntersuchungen, wo sie im allgemeinen Interesse nötig schienen, von einer Anklage unabhängig (Liv. XXXIX 8, 19. Dig. XLVIII 18, 22), obwohl auch hier Ankläger zugelassen werden konnten, (Liv. XXIX 21), und andererseits suchten die Behörden da, wo es ihnen angemessen schien, die Erhebung von Anklagen zu veranlassen (Cic. Verr. II 92, ähnlich Val. Max. IV 1, 10, vgl. Cod. Theod. IX 3, 1, woselbst von einem Ankläger die Rede ist, welchen publicae sollicitudinis cura produxit; s. auch Biener Beiträge zu der Geschichte des Inquisitionsprozesses Leipzig 1827, 10–15 und über die Veranlassung von Anklagen von Seiten des Senats Mommsen röm. St.-R. III 1067) Sogar ein Zwang zur Anklageerhebung kam vor (Tac. Ann. IV 29), [152] wurde aber verboten, Cod. III 7. Allerdings wurde in späterer Zeit von dem Erfordernisse eines besondern Anklägers namentlich anonymen Anzeigen gegenüber mehrfach abgewichen: Binding de natura inquisitionis processus criminalis Romanorum, Habilitationsschrift, Heidelbergae 1864, 19f., woselbst die allmähliche Verschmelzung der Begriffe delatio und accusatio nachgewiesen (14–19) und die inquisitorische Natur des späteren römischen Strafprocesses behauptet wird; vgl. auch das anscheinend ohne Zuziehung eines Anklägers vorgenommene Verfahren gegen die Märtyrer (Le Blant, les actes des martyrs Paris 1882. 169ff.). Jedenfalls erfuhr insoweit die inquisitorische Beschaffenheit des Strafprocesses Wandlungen, als der Kreis der zur Anklage Berechtigten in verschiedenen Zeiten einen verschiedenen Umfang hatte. Die älteste Zeit scheint dies Recht noch jedem Bürger gewährt zu haben, doch waren Anklagen wider den Patron und den Clienten verboten (Dion. ant. II 10), wahrscheinlich wohl auch wider andere nahestehende Personen (so mit Recht Geib a. a. O. 99). Vor dem Volksgerichte durfte nur ein Magistrat Anklage erheben; war er zur Berufung der Comitien nicht zuständig, so ersuchte er den hierzu befugten um Abhaltung des Gerichtes. Liv. II 35. 61. III 11. 24. 31. 56. 58. IV 21. 44. V 11. 32. VI 1. 20. VII 4 und sonst, namentlich XLIII 16. Insbesondere waren die quaestores parricidii zur Anklageerhebung verpflichtet. Varro de l. L. VI 90–92. In dem späteren Processe der quaestiones perpetuae fällt das Anklagerecht einem jeden Bürger zu. Sein Missbrauch führte dazu, dass seine häufige Anwendung verächtlich machte (Quint. inst. or. XII 7, 3) und dass es durch beschränkende Ausnahmebestimmungen eingeengt wurde. Cod. IX 1 qui accusare possunt. Dig. III 1. Cod. II 6 de postulando (vgl. hierzu Schulin Lehrbuch der Geschichte des röm. R. 555f.). Auch richten sich Strafbestimmungen wider die temeritas accusatorum (vgl. über diesen Begriff Dig. XLIII 18, 1 pr. und dazu Rein das Kriminalrecht der Römer 803–21. Rudorff röm. Rechtsgeschichte II § 138–140. Pernice M. Antistius Labeo I 250 f.). In dem Strafverfahren vor dem Magistrate, welches ursprünglich als extraordinaria cognitio die Ausnahme, später die Regel bildet, steigerte sich die Freiheit des richterlichen Ermessens in der Beurteilung des Anklagerechtes (vgl. Inst. IV 13, 11), und die Zahl der Fälle, in welchen das Gesetz ein Einschreiten von Amtswegen gebot, vermehrten sich (vgl. die von Geib a. a. O. 526 Anm. 82. 83 angeführten Texte).

Was die Form der Anklage betrifft, so musste im Volksgerichte der Ankläger den Beschuldigten dreimal laden (diem dicere) und konnte erst, nachdem an drei Vorbereitungstagen in Contionen verhandelt war, in den Comitien durch quarta accusatio (trinum nundinum prodicta die) eine Verurteilung erzielen (vgl. die oben angeführten Stellen aus Livius und ausserdem Liv. X 23. XXVI 2. XXXVIII 50. 52. 56. XLIII 8. 16. Cic. p. Mil. 36. Gellius VI 9. Val. Max. VI 1. 7. Plin. h. n. XVIII 41 und namentlich Cic. pro domo 45 und hierzu Mommsen in der neuen Jenaischen allgemeinen Litteraturzeitung III [153] 1844, 251; St.-R. III 355). Ein Formular des magistratischen Anklageaktes, welcher anquisitio hiess und in einer rogatio populi sive plebis bestand, findet sich bei Varro de l. L. VI 90–92. Im Verfahren der quaestiones perpetuae stellte der Ankläger zunächst bei dem Magistrat eine postulatio auf Erlaubnis der Anklage. Drang er damit durch, so reichte er eine nominis delatio ein, worauf ein contradictorisches Verfahren vor dem Magistrat erfolgte, in welchem unter anderem auch darüber verhandelt wurde, welchem von mehreren Anklägern der Vorrang gebühre, Cic. pro Cluentio 131 (siehe Divinatio). Liess der Magistrat die Anklage zu, so trug er den Beschuldigten in die Liste der Angeklagten ein (nominis receptio) und setzte einen Gerichtstag an: Cic. Verr. II 101. Die kaiserliche Gesetzgebung verlangte vom Ankläger eine schriftliche Anklage (professio), wovon jedoch die zur Anklage verpflichteten Behörden entbunden waren. Dig. XLVIII 2 l. 3 pr. § 1. 2; l. 7 pr. Cod. IX 2, 7; vgl. Rudorff römische Rechtsgeschichte II § 127. 128. Zumpt das Criminalrecht der römischen Republik I 1, 14. 121. 241. 287. I 2, 5. 143ff. 168ff. 239ff. 262ff. 324ff. II 2, 29ff. 435ff. Walter Geschichte des röm. Rechts, B. 5 Cap. 6 S. 869ff. und über Constantins Edict de accusationibus Κlenze in der Ztschr. f. geschichtl. R. W. IX 56–90 und Binding a. a. O. 20.