RE:Coercitio
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Zwangsrecht | |||
Band IV,1 (1900) S. 201–204 | |||
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Coercitio, das Zwangsrecht, die Disciplinierung 1. vor und neben der strafrechtlichen Judication, und 2. als historische Grundlage dieser Judication und ihren Charakter zum grossen Teil bestimmend.
1. Während den Privatdelicten gegenüber der Civilprocess fungiert, tritt das Amtsverfahren bei Verletzungen des Staates ein. Die Administrativjurisdiction schützt die vermögensrechtlichen Festsetzungen des Staates bei seiner Schädigung, während die sittlich-politischen Delicte gegen den Staat entweder der Coercition oder der Judication anheimfallen. Die Judication bestraft den Verbrecher, die Coercition geht darauf aus, den Ungehorsamen zu beugen und seinen Gehorsam zu erzwingen. Es sind zum Teil dieselben Übel, welche den von der Coercition oder von der Judication Betroffenen zugefügt werden können, aber in dem einen Falle sind es Coercitionsmittel, und nur bei der Judication sind es Strafen. Coercitio und iuris dictio stehen neben einander bei Hygin. de condicionibus agrorum (Gromat. p. 118, 13 Lachm.) iuris dictio cohercitioque.
Über das Coercitionsrecht des römischen Königs giebt es keinerlei Überlieferung, aber es versteht sich von selbst, dass es mindestens ebenso frei gewesen sein muss, wie das der Consuln anfangs war. In der Republik steht das Coercitionsrecht bei den Magistraten bis auf die Quaestoren exclusive, welche dieses Recht nicht besitzen. Volles Coercitionsrecht haben die Magistrate mit imperium, also auch die Provincialstatthalter, und ausserdem die Volkstribunen; die Coercitionsgewalt des Princeps ruht auf seinem proconsularischen imperium und auf seiner tribunicia potestas. Minderes Coercitionsrecht steht von den Magistraten ohne imperium den Censoren und Aedilen zu, und ebenso den mit Ackerassignation beauftragten Beamten; auch der Pontifex maximus besitzt dies Recht gegenüber den Pontifices. Diese mindere Coercition beschränkt sich auf das Recht zu büssen und zu pfänden, während das Coercitionsrecht der Magistrate mit imperium und das der Volkstribunen darüber hinausgeht. Mandierung dieses Rechtes an einen Gehilfen ist im Gebiete des imperium domi ausgeschlossen, innerhalb des imperium militiae aber zulässig. Die patricischen Magistrate können die Coercition auch durch Gehilfen und Diener vollstrecken, die plebeischen aber können das nur persönlich thun. Als Coercitionsmittel finden wir 1. die Tötung, 2. den Verkauf in die Sclaverei, 3. die Verhaftung und Einsperrung, 4. die körperliche Züchtigung, 5. die Einziehung des Vermögens, die consecratio bonorum, 6. die Vermögensbusse, 7. die Pfändung.
Unbeschränkt ist die C. geblieben gegenüber Frauen und Fremden, sowie ausserhalb der Stadt, im Gebiete des imperium domi aber ist sie seit der Einführung der Provocation beschränkt. Seitdem darf hier die C. kein Übel mehr zufügen, das, als Strafe verhängt, Provocation zulässt, [202] d. h. Berufung von dem Spruche des Magistrates an die Volksversammlung und Cassierung dieses Spruches durch diese. Die Provocation ruht auf der lex Valeria de provocatione, die im Gebiete des imperium domi dem Magistrate die endgültige Entscheidung über das Leben des römischen Bürgers entzieht. Diese lex Valeria, welche die Provocation begründete, ist nicht etwa eine Zurückspiegelung der lex Valeria de provocatione des M. Valerius Corvus, Consuls im J. 454 = 300 v. Chr., sondern sie ist älter als die lex Aternia Tarpeia vom J. 300 = 454 v. Chr., welche für die Vermögensbusse eine Maximalgrenze feststellte. Zu einer Begrenzung der Vermögensbusse kann man nicht geschritten sein, ehe man das Wichtigere und Notwendigere, die Sicherung des Lebens, gewährleistet hatte. Andererseits fällt aber die lex Valeria auch nicht in das J. 245 = 509 v. Chr. oder überhaupt in das erste Jahr der Republik, in dem nach der ältesten Überlieferung kein Valerius Consul war. Dass der Anfang der annalistischen Consulnliste einschliesslich der Fasti Capitolini gefälscht ist, bis zu welchem Jahre die Fälschung reicht und aus welchem Motive sie erfolgte, wird an anderem Orte eingehend zu zeigen sein. Die Entscheidung über die Zeit des grundlegenden valerischen Provocationsgesetzes hängt ab von dem Urteil über die Entstehungszeit der servianischen Centurienverfassung, und dies Urteil ruht wieder auf der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis dieser Verfassung zur Tribusordnung. Das Bewusstsein davon, dass die servianische Centurienverfassung auf der Tribusordnung ruht, ist auch der römischen Annalistik nicht ganz geschwunden. Es hat ursprünglich vier und später zehn Volkstribunen gegeben, niemals fünf. Die irrige Angabe der Annalen von der zeitweiligen Fünfzahl der Tribunen aber geht von den vermeintlichen fünf Classen der servianischen Centurienordnung aus und ist eine falsche Combination auf Grund der vorhandenen richtigen Kenntnis davon, dass die Tribusordnung die Grundlage der ursprünglichen servianischen Centurienverfassung gebildet hat. Doch hac de re alio die. Der Dictator war lange Zeit provocationsfrei, bis auch er der Provocation unterworfen wurde, vielleicht durch die Lex Valeria des Valerius Corvus vom J. 454 = 300 v. Chr. Ob der Decemvirat wirklich provocationsfrei war, wird weiterer Prüfung noch bedürfen; die constituierende sullanische Dictatur war es ohne Zweifel. Ursprünglich schützte die Provocation nur das Leben, nicht den Rücken des römischen Bürgers; diesen, aber nicht den von Schauspielern, hat, nach einem Ansatze in der Lex des Valerius Corvus, erst ein Gesetz des alten Cato geschützt.
Wo der Ungehorsam notorisch ist, bedarf es nicht erst seiner Feststellung durch eine eigentliche magistratische Cognition, und wo eine solche zur Ermittelung des Thatbestandes eintritt, ist sie an keine festen Formen gebunden. Auch die Wahl der C.-Mittel steht im Belieben des Magistrates, soweit nicht Provocationsgesetz und Feststellung einer Maximalgrenze für die Multa zu berücksichtigen sind. Den Tribunen gegenüber scheint ein rechtlich bindender Provocationszwang nicht bestanden zu haben; vollziehen aber konnten [203] die Tribunen oder plebeischen Aedilen die Tötung nur persönlich und vollzogen sie durch das Herabstürzen vom tarpeischen Felsen. Die Vermögensbusse, die Multa, wird auferlegt entweder zu Gunsten der Gemeinde (multam dicere, inrogare) oder zu Gunsten einer Tempelcasse (in sacrum iudicare), wie des plebeischen Cerestempels. Früh verschollen, aber gegen Ausgang der Republik wieder ausgegraben ist die Einziehung des Vermögens, die consecratio bonorum, mit der der Tribun das Vermögen des Schuldigen einer Gottheit weiht. Auch die plebeische Mult wurde wohl zu Gunsten einer Gottheit auferlegt; dem aerarium populi Romani konnten plebeische Multen erst zugewandt werden, seitdem die Volkstribunen Magistrate der Gemeinde geworden sind, was nicht vor der Lex Hortensia vom J. 467 = 287 v. Chr. geschehen sein kann. Mit der Mult verbunden ist die Pfändung, die pignoris capio. Das Recht zur Verhaftung (prensio) und Einsperrung (abductio in carcerem, in vincula) haben nur die Magistrate mit imperium, und die Volkstribunen, diese selbst gegenüber den Magistraten mit imperium. Der Verkauf in die Sclaverei hat beim Ausbleiben bei der Schatzung und der Aushebung Consuln und Censoren zugestanden, ist aber zeitig abgekommen. So lange ein Recht zur körperlichen Züchtigung überhaupt besteht, haben es auch die Aedilen; von körperlicher Züchtigung seitens der Volkstribunen ist nie die Rede.
In der Kaiserzeit kommt praktisch das auf dem proconsularischen imperium und auf der tribunicia potestas ruhende Coercitionsrecht des Princeps, sowie das der Provincialstatthalter in Betracht; diese haben von diesem ihrem Rechte auch den Christen gegenüber gelegentlich Gebrauch gemacht.
2. Wie Mommsens Staatsrecht Wesen und Inhalt der Coercition klargelegt hat, so hat sein Strafrecht das Verhältnis der Judication zur Coercition und den Einfluss der Coercition auf die Judication erkennen lassen. Dieses grandiose Werk hat Strafrecht und Strafprocess der Römer zum erstenmal aus den römischen Grundanschauungen selber entwickelt und hat in der Coercition das Rückgrat der römischen Strafordnung erkannt. Aus der Coercition ist der magistratisch-comitiale Strafprocess der Republik erwachsen, der auf der Provocation ruht und mit ihr gleichalterig ist. Vor der grundlegenden lex Valeria de provocatione müssen Coercition und Judication im wesentlichen zusammengefallen sein. Dem Einfluss der Coercition entzogen ist die civilprocessualische Behandlung der Privatdelicte, sowie der Quaestionenprocess, das Geschworenengericht unter magistratischem Vorsitz, das durch Sulla seine volle Ausbildung erhalten hat und unter Augustus noch Ergänzungen erfuhr. Für die Strafgewalt der Provincialstatthalter aber bildet das Coercitionsrecht die Grundlage.
Der ordo iudiciorum publicorum des Sulla und Augustus wird durch den auf bestimmten Gesetzen ruhenden und an bestimmte Gesetze gebundenen Quaestionenprocess repräsentiert; er ist der legitimus ordo iudiciorum. Das Verfahren der ausserhalb dieses ordo stehenden befreiten Gerichte ist das ausserordentliche Verfahren, das an die Gesetze nicht strict gebundene Verfahren extra ordinem. Wer die sullanischen quaestiones [204] perpetuae mit dem den Quellen nicht entsprechenden Namen von quaestiones extraordinariae bezeichnet, stiftet Unklarheit und Verwirrung. Die befreiten Gerichte sind einmal das consularisch-senatorische Gericht, sodann die Kaisergerichte und die wenigstens bei den kaiserlichen Statthaltern auf kaiserlicher Mandierung der Strafgewalt beruhenden Gerichte der Provincialstatthalter. Auf die Judication dieser befreiten Gerichte übt die alte Coercition den stärksten Einfluss. Diese Judication teilt mit der Coercition die Ungebundenheit in Form und Sache. Weder die Feststellung des delictischen Thatbestandes, noch die Strafe ist hier an bestimmte Normen gebunden. Das Verfahren dieser Gerichte kann zwar auch in der Form des Accusationsprocesses stattfinden, die Regel aber bildet die reine magistratische Cognition, die wohl einen Denuncianten kennt, aber keinen Ankläger, und auch des Denuncianten nicht unbedingt bedarf. Das Verfahren dieser befreiten Gerichte, denen die gesetzliche Bindung fehlt, kann zur reinen Willkür werden, aber braucht nicht notwendig dazu zu führen. Wo die stricte gesetzliche Bindung fehlt, da wird zwar nicht auf Grund des Gesetzes, aber doch der Regel nach ad exemplum legis verfahren. Und eine ruhige Beurteilung der Sachlage wird die grosse Fülle normierender kaiserlicher Bestimmungen nicht unterschätzen. Auch für unsere Einsicht in die Form der Christenprocesse ist die Würdigung der befreiten Gerichte von grösster Bedeutung. Die Form dieser Processe ist nicht der Accusationsprocess, sondern die Cognition gewesen; und wenn die Thätigkeit dieser Gerichte auch Judication ist, so ist doch diese Judication in ihrem Charakter durch die Coercition auf das stärkste bestimmt. Ad exemplum legis ist man aber auch hier verfahren. Und für die Erklärung der Zufälligkeiten, von denen es abhängt, ob ein Christ aus der unbehelligten christlichen Menge herausgegriffen und zur Verantwortung gezogen wird, verschlägt es wenig, wenn man den Ankläger durch den Angeber, den Denuncianten ersetzt. Dass das Verfahren des Magistrates aber auch ohne jede Anregung von aussen beginnen konnte, stand bereits fest. Abgesehen von der coercitionsartigen Judication der befreiten Gerichte ist aber, wie bereits am Schluss von Abschnitt 1 bemerkt wurde, auch reine Coercition den Christen gegenüber vorgekommen.
Litteratur: Mommsen R. St.-R. bes. I³ 136–161, vgl. III 1279; Der Religionsfrevel nach römischem Recht, Historische Zeitschrift XXVIII 1890, 389–429; Röm. Strafrecht, Leipzig 1899, zunächst S. 35–54 und sodann an unzähligen einzelnen Stellen des gewaltigen Werkes. Um von dem Studium dieser Meisterwerke in keiner Weise abzulenken, habe ich mit Bedacht Quellencitate nicht gegeben.