Rabbi Löw

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Textdaten
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Autor: Rainer Maria Rilke
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Titel: Rabbi Löw
Untertitel:
aus: Larenopfer. In: Sämtliche Werke, Band I, S. 61-64.
Herausgeber: Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1955
Verlag: Insel-Verlag
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Erscheinungsort: Frankfurt am Main
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf den commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck 1895
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[61] RABBI LÖW

(1)

»Weiser Rabbi, hoher Liva, hilf uns aus dem Bann der Not:
heut gibt uns Jehova Kinder, morgen raubt sie uns der Tod.
Schon faßt Beth Chaim nicht die Scharen, und kaum hat der Leichenwart
eins bestattet, nahen andre Tote; Rabbi, das ist hart.«

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Und der Rabbi: »Geht und schickt mir einen Bocher rasch herein.« –

So geschiehts : »Wagst du nach Beth Chaim diese Nacht dich ganz allein?«
[62] »Du befiehlst es, weiser Meister!« – »Gut, so hör, um Mitternacht
tanzen all die Kindergeister auf den grauen Steinen sacht.

Birg dich dorten im Gebete, und wenn Furcht dein Herz beklemmt.

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streif sie ab: Du raubst dem nächsten Kinde kühn sein Leichenhemd.

Raubst es, – bringst es her im Fluge, her zu mir! Begreifst du wohl?«
»Wie du heißest tun mich, Meister, tu ich!« klingt die Antwort hohl.

(2)

Mitternacht und Mondgegleiße, –
... und es stürzt der totenblasse

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Bocher bebend durch die Gasse,

in der Hand das Hemd, das weiße.

Da jetzt ... sind das seine Schritte? ...
Jach kehrt er zurück das bleiche
Antlitz: Weh, die Kindesleiche

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folgt ihm nach, im Aug die Bitte:


»... Gieb das Linnen, ohne Linnen
lassen mich nicht ein die Geister ...«
Und der Bocher, halb von Sinnen,
reicht es endlich seinem Meister.

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[63] Und schon naht der Geist mit Klagen ...

»Sag, was sterben hundert binnen
Tagen? – Kind, du mußt es sagen,
früher darfst du nicht von hinnen.«

So der Rabbi. – »Wehe, wehe«,

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ruft der Geist, »aus unserm Stamme

haben zwei entehrt der Ehe
keusche, reine Altarflamme!

Hier die Namen! – Sucht nicht fremde
Ursach, daß euch Tod beschieden ...«

35
Und der Rabbi reicht das Hemde

jetzt dem Kinde: »Zieh in Frieden!«

(3)

Kaum, daß aus dem Nachtkelch maijung
stieg der Tag in rosgem Licht,
hielt der Rabbi schon Gericht, –

40
und der Unschuld ward Befreiung.


Mit der Geißel des Gesetzes
brandmarkt er die Sünderstirn; –
langsam löste jedes Hirn
sich vom Bann des Fluchgenetzes.

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Manches Paar war da erschienen,

dankerfüllt, daß Gott verzieh,
und der Weise segnet sie. –
Freude lag auf aller Mienen.

[64] Nur der Bocher warf, der bleiche,

50
sich im Fieber hin und her ...

Doch nach Beth Chaim lange mehr
trug man keine Kindesleiche.