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Raubwürger und Wiesel

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Textdaten
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Autor: Dr. K. G. Lutz
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Titel: Raubwürger und Wiesel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 61, 68
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[61]

Raubwürger schützen ihre Jungen vor den Angriffen von Wieseln.
Nach einer Originalzeichnung von Aug. Specht.

[68] Raubwürger und Wiesel. (Zu dem Bilde S. 61.) Den Abhang, der sich längs des Flüßchens hinzieht, bewohnen seit Jahren Singvögel verschiedener Art, und sobald im Frühling die Sonnenstrahlen ihre belebende Wirkung äußern, klingt froher Singsang durchs Gebüsch.

Da stellt sich eines Tages ein Vogelpaar von auffallender Färbung und wenig lobenswerten Sitten an diesem lieblichen Orte ein – zwei Raubwürger (Lanius excubitor L.). Das Männchen setzt sich auf die Spitze eines Schwarzdorns, das Weibchen auf den höchsten Zweig eines Weißdorns, und unbeweglich verharrend halten sie Umschau: er schätzt die Gegend auf den Ertrag an Insekten, Mäusen und Vögeln ein, sie sieht sich nach einem passenden Busch zur Unterbringung der Kinderwiege um. Keck und verwegen glänzt das Schelmenauge, und sie bleiben. In dem Weißdornbusch wird sofort mit dem Bau des umfangreichen Nestes begonnen, und bald darauf liegen die grüngrauen, braungefleckten Eier darin. Das Ergebnis einer 15 Tage dauernden Sitzung sind 4 Kinderchen, die zu versorgen keine Kleinigkeit ist. Die Eltern gehen auf die Insektenjagd und sind dann fleißig hinter den Mäusen her. Aber auch die Nester der hier wohnenden Singvögel plündern sie, wo und so oft sie nur können. Darum gelten sie für schädliche Vögel, die viel zur Verödung unserer Fluren beitragen. –

Eines Tages schleichen zwei große Wiesel (Hermelin, Putorius ermineus Ow.), die in einer Spalte der weiter unten am Abhange zu Tage tretenden Felsen wohnen, an das Würgernest heran. Das feine Ohr und das scharfe Auge der Eltern entdecken den Feind sofort. „Tätt tätt! – Tätt tätt!“ Warnungs- und Wächterruf. Sie eilen herzu und setzen sich zur Wehr; fliegen hin und her, um die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich zu lenken; schlagen mit den Flügeln und spreizen den langen Schwanz. Ihr Blick ruht unerschrocken auf dem Gegner; ihre heftige Erregung aber verrät das laute „Tätt tätt“ und das heisere „Gäh gäh“, das sie ohne Unterlaß hervorstoßen.

Die Wiesel, die sich sonst nicht leicht aus der Fassung bringen lassen, rücken nur langsam vor. Das Würgerweibchen aber legt nun alle Scheu ab und ist, indem es offen zum Angriff übergeht, im Begriff, das eigene Leben für die Sicherheit der Kinder dranzugeben.

Und die Wiesel? Sie wenden plötzlich um und machen sich davon. Ob ihnen die Würger Furcht eingeflößt? Ob sie sich kurz zuvor an anderer Beute satt gefressen? Ob ihnen der kühne Mut, mit dem das sonst so hartherzige Vogelpaar das eigene Leben für seine Kinder in die Schanze zu schlagen bereit war, unbewußt Hochachtung abnötigte? Wer will diese Fragen beantworten? Ich aber sehe die Raubwürger seit diesem Tage mit anderen Augen an und bin geneigt, ihre Schandthaten milder zu beurteilen als früher. Dr. K. G. Lutz.