Rekrutirungen und Fremdenlegionen

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Titel: Rekrutirungen und Fremdenlegionen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 129, 132–133
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: England unter Premierminister Palmerston
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Rekrutenwerber in England.

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Rekrutirungen und Fremdenlegionen.
(Mit Abbildung.)

In aller Welt wird jetzt rekrutirt, und in England und Frankreich bildet man außerdem Fremdenlegionen. Ersteres macht, wie ich lese, drüben im lieben Vaterlande Deutschland schlechte Geschäfte und wird schwerlich die Legion voll werben.

In London hat man, wie ich höre, sechsundzwanzig „blauäugige, flachshaarige, unschuldige Deutsche“ in Whitechapel und in der Gegend des Towers erwischt und sie für den „Schilling der Königin“ als „Futter für’s Pulver“ auf ein Jahr engagirt. Mit dem 27sten wollt’ es schon nicht mehr gehen, so daß sie Mühe haben werden, das erste Tausend voll zu machen. Inzwischen finden sich immer noch täglich einige auf der untersten Stufe des Lebens ruinirte Söhne des Vaterlandes, welche sich anheischig machen, Sebastopol zu erobern, so daß man um den Tower herum alle Tage hübsche Rekrutirungsscenen erleben kann. Aber welch ein Unterschied gegen voriges Frühjahr! Damals drängten sich noble, wohlgekleidete Männer begeistert heran und mußten in Masse zurückgewiesen werden. Jetzt handelt, schachert, gaunert man unter wahrhaften Falstaffs-Rekruten herum, die wie gespaltene Rettige, wie Linien ohne Breite, verschrumpelt wie eine gebackene Birne, verschimmelt wie vierzehntägiges Bauerbrot im Juli aussehen. Aber das Schauspiel hat doch etwas Gutes, Moralisches und Humanes, wenn man es mit dem Zwange in andern Ländern und den Räuberbandenscenen im frühern England vergleicht. Noch zu den Kriegen Napoleon’s wurden in England kleine Armeeabtheilungen wie Räuberbanden umhergeschickt, die Söhne des Landes zu Soldaten einzusaugen. Sie überfielen bei Nacht und Nebel ein Dorf, umzingelten es, brachen in die Häuser ein, und schleppten alle unehelichen Individuen, die ihnen nicht zu alt oder zu jung oder zu schwach erschienen, mit sich fort. Auf der Landstraße wurden einsame Wanderer aus dem Busche überfallen und zu Vaterlandsvertheidigern, d. h. zu Wiederherstellungsgehülfen der bourbonischen Dynastie in Frankreich, befördert. Jetzt sind alle englische Soldaten Freiwillige und anerkannt tüchtige, tapfere, kaltblütige, ausdauernde Helden, die auch Sebastopol längst genommen haben würden, wenn sie etwa von einer Aktiengesellschaft engagirt, bezahlt und commandirt worden wären, statt von der Alters- und Erbweisheit der englischen Aristokratie. Wenigstens hätte man sie dann nicht verhungern lassen für 120 Millionen Thaler, sondern ohne die hundert, für bloße 20 Millionen gefüttert und am Leben erhalten. Da auch das neue Ministerium Palmerston eins des Alters und der Erbweisheit ist, und England ganz unfähig geworden zu sein scheint, sich von dieser ärgsten Karrikatur und greisen Verknöcherung des Mittelalters zu befreien, wird es wahrscheinlich politisch daran zu Grunde gehen. – Seine Flottenehre liegt ertrunken in der Ostsee und dem schwarzen Meere, seine militärische Hoffnung, seine stolze Zuversicht als „Großmacht“ begraben in dem Schmutze vor Sebastopol, und wer demnach noch hofft, mag sich ernüchtern an dem Anblick seiner Fremdenlegionen und seiner Rekrutirungsscenen.

Sehen wir uns einige an, besonders die ganz nach dem Leben gezeichnete, welche wir beifügen. Am Ostende der City nördlich vom monströsen Tower erhebt sich der Tower-Hügel mit dem Dreieinigkeits-Platze aus engen, schmutzigen Straßen heraus, wo jetzt die Bäume besonders gerippeartig aussehen und die Ostwinde am Kältesten blasen. An Brettern und Häuserwänden glänzen riesige Plakate mit großen gemalten Militärscenen darüber: „Wanted a few fine fellows for Royal soldiers, u. s. w. („Gesucht einige hübsche junge Leute zu königlichen Soldaten.) Dann folgen Schilderungen der Herrlichkeit des Soldatenlebens und ihrer Beköstigung, der Größe und Civilisation Englands, welches jetzt die hohe Mission übernommen habe, Barbarei und Knechtschaft von der Erde zu vertilgen und es daher kein höheres Glück für einen wahren Englishman geben könne, als für’s Vaterland zu sterben (letzteres wird nur sehr unverständlich angedeutet). Die Plakate helfen freilich nicht viel, schon deshalb, weil die Engländer, welche sich hier zu Markte bringen, größtentheils weder lesen noch schreiben können. Deshalb muß auch die lebendige, kräftige Rede der Werbeoffiziere das Meiste thun. Sie stehen wie Halbgötter unter den verkümmerten Haufen Neugieriger und zerlumpter Müßiggänger von Profession oder aus Mangel an Arbeit. Da steht Einer, ein entlassener Pferdeknecht vom Lande mit offenem Maule und seinem Bündel, all seiner Habe, der nach London kam, um in den Dock’s Schiffe laden und löschen zu helfen, ohne ankommen zu können, und horcht nun den Wundermährchen des Werbeoffiziers. Er und sein College haben nie etwas von Rußland und der Krim gehört, denn auf das Land und deren arbeitende Bevölkerung kommt selten oder nie eine Zeitung, da dort Niemand lesen kann und es oft nicht einmal eine Schule giebt (wenigstens giebt es in einer einzigen von den 60,000 „Grafschaften“ Großbritanniens über 300 Dörfer ohne Schule und Schullehrer). Sie sind daher ganz voller Erstaunen und Wunder und werden jedenfalls den „Schilling der Königin“ (jetzt zu mehreren Thalern Werbegeld erhöht) nehmen, sich Bänder an den Hut heften und unter die Zahl der „Geworbenen“ stellen lassen, bis es ein Häufchen ist, worauf sie in der Mitte von Soldaten in die Monturkammer getrieben, eingekleidet, ein paar Tage einexercirt und dann nach der Krim verschifft werden.

Hinter den Söhnen vom Lande fällt besonders ein ächter London-Städter „aus dem Volke“ auf. Er hat in allen möglichen Branchen „gelegentlicher“ Beschäftigung gearbeitet, Packete getragen, Droschken aufgemacht, mit Zuckerwaaren und Schwamm gehandelt, Maschinen geheizt und Straßen gekehrt, ist dreimal im Gefängniß und fünfmal im Hospital gewesen und dabei lang, mager, unbrauchbar und unfähig für’s praktische Leben geworden. Er ist leicht gewonnen und eben so gut, in einem rothen Rocke zu sterben, wie ein Anderer.

Vater und Gatte in der Schürze und mit der üblichen Thonpfeife hat schon mehr Gründe, sich Bedenkzeit zu nehmen. Er verdient sich kärglich sein Bischen Brot in einer lichtlosen, schmutzigen Straße, doch da heute Vormittag das Geschäft sehr still war, steckte er sich seine Pfeife an und ging nach dem Tower-Hügel, wo’s jetzt so viel zu sehen giebt. Der schon geworbene Taugenichts mit der Papiermütze unterstützt den Werbeoffizier für ein glänzendes Kavallerie-Regiment, (das aber in der Krim aufgehört hat, zu existiren), den Mann zu fangen, um sich gleich von vorn herein anzuvettern. Aber Vater und Gatte schmunzelt ungläubig und fühlt den mahnenden Druck seines ältesten Knaben wohl mehr, als die Umarmung des Galgengesichts unter der Papiermütze. Er ist arm, das bezeugen die „Bäffchen“ am Halse des Jungen, die renommistisch-frömmelnden Kainsstempel, womit alle priesterlichen Frei- und Armenschulen die aufgenommenen Kinder brandmarken. Vater wird seine Schürze umbehalten und sich fortquälen für Frau und Kinder, statt unter die rothröckigen Söhne des unglückseligen Mars zu gehen. Das sieht man seiner ganzen Haltung an, obgleich wir nicht viel von seinem Gesicht sehen können. Der stumme, warme Ruf von Kindeshand: Zurück! ist stärker, als der renommistische Druck des Galgenvogels: Vorwärts!

Im Hintergrunde marschirt ein Werber schon ab mit einem bebänderten Häufchen, nachdem er mit ihnen „Glück zum neuen Lebenslauf“ gehörig getrunken. So lassen sich die in alkohollustiger Freude geschwungenen Hüte ohne Krämpe und Mützen ohne Schirme leicht erklären, denn ihr Jubel ist ohne Schirm und Schutz und von der unsichersten Existenz. Wie die Times sagte, steht über dem Eingange zur englischen Militär-Carriere für Gemeine dieselbe Aufschrift, wie über Dante’s Hölle: Keine Hoffnung! Kein Avencement! Gemeinheit ohne Ende, da nur Hochgeborne durch Geld, Empfehlung, Verwandte und Alter steigen können und die ganze englische Regierung im Militär und Civil nichts ist, als eine Sammlung verlebter, ohnmächtiger, hochgeborner Greise, Niemandem, als sich selbst, d. h. ähnlichen Privilegirten im Ober- und Unterhause verantwortlich, d. h. unverantwortlich. Das englische Volk ist unsterblich, aber dessen Regierungsformen und politische Scheinherrlichkeit stirbt von nun an immer schneller dahin. Dieses Absterben hält am wenigsten das neue Ministerium auf, an dessen Spitze der oft genannten Feuerbrand, Lord Palmerston steht.

Der zur „Rettung“ Großbritaniens auserwählte Premierminister sieht, nachdem er seinen siebenzigsten Geburtstag gefeiert, so aus, wie wir ihn in der Abbildung geben, so daß die Vorstellung, die wir etwa nach einem frühern Portrait in diesen Blättern (Nr. 9 1854) veranlaßt haben, danach zu corrigiren sein würde.

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Palmerston

Das frühere Portrait stellte ihn im Alter von noch nicht funfzig Jahren dar. Ueberhaupt muß man sich Alles, was in England regiert, sehr alt denken. Das Durchschnittsalter aller englischen commandirenden Generale ist 60 Jahre. Seit 1851 stieg Niemand zum Range eines Obersten unter dem Alter von siebzig Jahren. Wellington war schon commandirender General im 33. Jahre. Im Kriege gegen Napoleon gab es blos zwei höhere englische Offiziere in einem Alter von mehr als 40 Jahren. Alle Anderen waren jünger, d. h. in der Blüthe voller Manneskraft. Jetzt ist kein Atom von Männlichkeit unter den regierenden und commandirenden Engländern zu finden, alle sind über 60, viele über 70 Jahre alt. Da Lord Palmerston als Siebenziger nicht mehr den Mut hat, sich an die Jugend zu wenden und sich einbildet, er werde mit einigen unbedeutenden Reformen und der bisherigen Altersweisheit seiner Collegen durchkommen, kommt er nicht durch. Ohne Prophetengabe sehen wir’s daher kommen, daß Palmerston, der das Meiste zum Verfalle Englands und der „Völkerrechte“ beigetragen, der Erste ist, der die ausbrechenden Folgen davon über sein greises Haupt sammeln wird.

Palmerston ist seit seinem 22. Jahre Diplomat gewesen. Im Jahre 1804 wurde er ein Kriegsminister und blieb es beinahe zwanzig Jahre.

Als Wellington Premier-Minister und in Folge davon mit faulen Eiern beworfen ward, entließ er Palmerston, weil sich derselbe einer den Parlamentsreformen günstigen Gesinnung verdächtig gemacht hatte. Der Verdacht erwies sich stets sehr ungegründet. Im Jahre 1829 trat er als Erfinder der Theorie der Intervention in fremde Staats-Angelegenheiten auf und führte sie seitdem über zwanzig Jahre lang als Minister des Auswärtigen auf eine Weise durch, von der bisher weder das Ausland noch England nur eine richtige Ahnung gewann, obgleich durch seine Vermittelung und unter seiner Mitwirkung die wichtigsten Veränderungen in Europa, namentlich gegen das neueste europäische, von Diplomaten 1815 festgesetzte Staaten- und Völkerrecht mit Glück durchgeführt wurden. In Lothar Bucher’s Werke: „Der Parlamentarismus, wie er ist,“ kann man einige betreffende Thatsachen ziemlich pikant zusammengestellt und aufgedeckt finden. Diese Thatsachen werden auch ziemlich Blinde überzeugen, daß Lord Palmerston’s Hauptverdienste in ziemlich vollständiger Zerstörung des sogenannten Parlamentarismus, der sogenannten „Verantwortlichkeit,“ der sogenannten Ehre, des sogenannten Rechtes, der sogenannten Intervention zu Gunsten des Rechtes und Vertrages gegen Diplomatie und Gewalt zu suchen sind. Nun, die Engländer hoffen auf ihn, und er wird sie wahr „machen,“ soweit es ihm die 70 Jahre noch erlauben.