Richtet nicht!
[401] Richtet nicht! Es ist viele Jahre her, da gingen zwei Zöglinge der Universität in Warschau durch die Straße, in welcher die Säule König Sigismund’s steht, um deren Piedestal man meistens eine Zahl Weiber sitzen sehen kann, die an die Vorübergehenden Früchte, Kuchen und verschiedene Eßwaaren verkaufen. Die jungen Männer machten in ihrem Gange Halt, um eine Gestalt zu betrachten, deren Seltsamkeit ihre Aufmerksamkeit fesselte. Es war ein Mann, dem Anscheine nach zwischen fünfzig und sechzig Jahren; sein einst schwarzer Rock war fadenscheinig geworden; sein breiter Hut überschattete ein mageres, runzliges Gesicht; seine Gestalt war sehr abgezehrt, doch ging er mit einem festen und raschen Schritte. Bei einer der Buden unter der Säule stand er still, kaufte für einen halben Groschen Brod, aß einen Theil desselben, steckte das andere in seine Tasche und verfolgte seinen Weg gegen den Palast des Generals Zaionczek, Statthalters des Königreichs, der in Anwesenheit des Czaren Alexander königliche Gewalt in Polen übte.
„Kennst Du diesen Mann?“ fragte der eine Student den andern.
„Ich kenne ihn nicht; aber nach seinem kläglichen Kleide und seinem nicht weniger traurigen Gesichte zu urtheilen, würde ich ihn für einen Leichenbesorger halten.“
„Falsch, mein Freund! es ist Stanislaus Staszic.“
„Staszic!“ rief der Student aus, indem er nach dem Manne blickte, der eben in den Palast trat. „Wie kann ein geringer, schlecht aussehender Mann, der mitten auf der Straße Halt macht, um einen Bissen Brod zu kaufen, reich und mächtig sein?“
„Und doch ist es so,“ erwiederte sein Gefährte. „Unter diesem nicht vielversprechenden Aeußern ist einer unserer einflußreichsten Minister und einer der berühmtesten Gelehrten Europa’s verborgen.“
Der Mann, dessen Aeußeres in so seltsamem Widerspruch mit seiner socialen Stellung stand, der so mächtig war als er unbedeutend aussah, so reich als er arm erschien, verdankte all sein Glück sich selbst – seinen Arbeiten und seinem Genie. Von geringer Herkunft verließ er in seiner Jugend Polen in der Absicht, sich Kenntnisse zu sammeln. Er brachte einige Jahre auf den Universitäten von Leipzig und Göttingen zu, setzte seine Studien in dem Collège de France unter Brisson und d’Aubenton fort, gewann Buffon’s Freundschaft, besuchte die Alpen und die Apenninen und kehrte endlich mit reichen und mannigfaltigen Kenntnissen versehen in sein Geburtsland zurück. Er ward sofort von einem Edelmanne eingeladen, die Erziehung seines Sohnes zu übernehmen. Nachher wünschte das Gouvernement seine Talente zu benützen; und Staszie ward Schritt vor Schritt zu den höchsten Posten und den ansehnlichsten Würden erhoben. Seine ökonomischen Gewohnheiten machten ihn reich. Tausend dienende Hände bebauten seine Ländereien und er besaß große Summen Geldes auf Interessen angelegt. Wann erhob sich je ein Mann so weit über den Rang, in dem er geboren war, ohne dem Neide und der Verleumdung eine Veranlassung zu geben, ihre Pfeile gegen ihn zu richten? Die Mittelmäßigkeit rächt sich stets durch Verleumdung; und so ging es auch Staszic; denn die guten Leute von Warschau waren schnell bei der Hand, alle seine Handlungen schlimmen Beweggründen zuzuschreiben.
Eine Gruppe Müssiggänger hatte sich da gesammelt, wo die Studenten standen. Alle blickten nach dem Minister und ein Jeder hatte irgend etwas gegen ihn zu sagen.
„Wer sollte es denken,“ rief ein Edelmann, dessen grauer Schnurrbart und altmodisches Gewand die Zeit von König Sigismund zurückrief, „daß er ein Staatsminister sein könnte? Früher, wenn ein Palatin die Hauptstadt durchwanderte, ging ihm ein Trupp Reiter voraus und ein solcher folgte ihm. Soldaten zerstreuten die Haufen, welche sich drängten ihn zu sehen. Aber welchen Respekt kann man für einen alten Minister fühlen, der nicht das Herz hat, sich eine Kutsche zu gewähren und der ein Stück Brod in den Straßen ißt, gerade wie ein Bettler thun würde?“
„Sein Herz,“ sagte ein Geistlicher, „ist so hart wie die eiserne Kiste, in der er sein Gold aufbewahrt; ein Armer könnte an seiner Thüre Hungers sterben, ehe er ihm ein Almosen geben würde.“
„Er hat den nämlichen Rock in den letzten zehn Jahren getragen,“ bemerkte ein Anderer.
„Er sitzt auf dem Boden, aus Furcht, seine Stühle abzunutzen,“ tönte es aus dem Munde eines frechblickenden [402] Jungen und Alle vereinten sich zu einem spöttischen Lachen.
Ein junger Zögling einer der öffentlichen Schulen hatte in unwilligem Schweigen diesen Gesprächen zugehört, die ihm in’s Herz schnitten; zuletzt unfähig sich zurückzuhalten, wandte er sich gegen den Priester und sagte:
„Ein durch seine Freigebigkeit so bekannter Mann sollte mit mehr Achtung besprochen werden. Was geht es uns an, wie er sich kleidet, oder was er ißt, wenn er einen edlen Gebrauch von seinem Vermögen macht?“
„Bitte, welchen Gebrauch macht er davon?“
„Die Akademie der Wissenschaften hatte einen Platz für eine Bibliothek nöthig und keine Fonds, einen zu miethen. Wer verlieh ihr einen herrlichen Palast? war es nicht Staszic?“
„Oh! ja, weil er so gierig nach Lob ist wie nach Gold.“
„Polen schätzt als seinen Hauptruhm den Mann, welcher die Gesetze der Sternenbewegung entdeckte. Wer war es, der ihm ein Denkmal, würdig seines Ruhmes, errichten ließ – der den Meisel des Canova rief, das Andenken Copernikus' zu ehren?“
„Es war Staszic,“ erwiederte der Priester, „und so ehrt ganz Europa dafür den freigebigen Senator. Aber, mein junger Freund, es ist nicht das Licht der Mittagssonne, welches christliche Liebe beleuchten soll. Wenn Ihr einen Menschen gründlich kennen lernen wollt, so beobachtet den täglichen Lauf seines Privatlebens. Dieser prahlerische Geizhals seufzt in den Büchern, die er veröffentlicht, über das Loos der Bauern, und auf seinen weiten Gütern beschäftigt er fünfhundert unglückliche Sklaven. Geht eines Morgens in sein Haus – da werdet Ihr ein armes Weib treffen, welches mit Thränen zu einem kalten, stolzen Manne fleht, der sie zurückstößt. Dieser Mann ist Staszic – das Weib seine Schwester. Sollte nicht der stolze Schenker von Palästen, der Erbauer prächtiger Statuen sich nicht lieber mit dem Schutze seiner unterdrückten Leibeigenen und mit der Hülfe für seine verlassene Verwandte beschäftigen?“
Der junge Mann begann seine Erwiederung, aber nicht Einer wollte auf ihn hören. Traurig und niedergeschlagen, von einem Manne, der ihm ein wahrer und edelmüthiger Freund gewesen, so sprechen zu hören, ging er in seine bescheidene Wohnung. Am nächsten Morgen begab er sich zu einer frühen Stunde in das Haus seines Wohlthäters. Dort fand er ein Weib weinend und klagend über die Unmenschlichkeit ihres Bruders.
Diese Bestätigung Dessen, was der Priester gesagt hatte, gab dem jungen Manne einen bestimmten Entschluß ein. Es war Staszic, der ihm eine Stelle im Kolleg verschafft und ihn mit den Mitteln versehen hatte, dasselbe fortwährend zu besuchen. Jetzt wollte er seine Gaben zurückweisen – er wollte keine Wohlthaten von einem Manne empfangen, der unbewegt auf seiner eigenen Schwester Thränen blicken konnte.
Der gelehrte Minister hielt beim Eintritte seines Lieblingszöglings in seiner Beschäftigung nicht inne, sondern sagte, indem er zu schreiben fortfuhr, zu ihm:
„Gut, Adolph, was kann ich heute für Euch thun? Braucht Ihr Bücher, so nehmt sie aus meiner Bibliothek; oder Instrumente – sucht sie aus und schickt mir die Rechnung. Sprecht frei zu mir und sagt mir, wenn Ihr etwas nöthig habt.“
„Im Gegentheil, Herr, ich komme, um Euch für Eure bisherige Güte zu danken, und zu sagen, daß ich es in Zukunft ablehnen muß, Eure Geschenke zu empfangen.“
„Ihr seid also reich geworden?“
„Ich bin so arm wie immer.“
„Und Euer Kolleg?“
„Ich muß es verlassen.“
„Unmöglich!“ rief Staszic aus, indem er aufstand und seine durchdringenden Augen auf seinen Besuch heftete – „Ihr seid der am meisten versprechende von allen unsern Schülern – es kann nicht sein!“
Vergebens versuchte der junge Student den Beweggrund seines Benehmens zu verbergen; Staszic bestand darauf ihn zu wissen.
„Ihr wollt mich,“ sagte Adolph, „mit Gunstbezeugungen überhäufen auf Kosten Eurer nothleidenden Familie.“
Der mächtige Minister konnte seine Bewegung nicht verbergen. Seine Augen füllten sich mit Thränen und er drückte des jungen Mannes Hand warm, als er sagte:
„Lieber Junge, nimm stets den Rath in Acht: Urtheile über nichts vor der Zeit! Ehe das Ende des Lebens kommt, kann die reinste Tugend vom Laster besudelt, und die bitterste Verleumdung als unbegründet bewiesen sein. Mein Benehmen ist in Wahrheit ein Räthsel, das ich jetzt nicht lösen kann – es ist das Geheimniß meines Lebens.“
Als er den jungen Mann noch unschlüssig sah, fügte er hinzu:
„Haltet eine Rechnung über das Geld, das ich Euch gebe; betrachtet es als ein Darlehen; und wenn Ihr eines Tages durch Arbeit und Studium Euch selbst reich findet, so zahlt die Schuld durch Erziehung eines armen es verdienenden Studenten. Was mich betrifft, so wartet meinen Tod ab, bevor Ihr über mein Leben urtheilt.“
Fünfzig Jahre hindurch erlaubte Stanislaus Staszic der Bosheit, seine Handlungen anzuschwärzen. Er wußte, daß die Zeit kommen würde, wo ganz Polen würde ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Am 20. Januar 1826 sammelten sich dreißigtausend trauernde Polen um seine Bahre und suchten das Leichentuch zu berühren, als dächten sie, es wäre irgend eine heilige, köstliche Reliquie.
Die russische Armee konnte den Grund der Huldigung nicht begreifen, welche in dieser Weise von dem Volke in Warschau diesem berühmten Manne dargebracht wurde. Sein letztes Testament erklärte vollständig den Grund seines scheinbaren Geizes. Seine ausgedehnten Güter waren in fünfhundert Theile getheilt, deren jeder das Eigenthum eines freien Bauern – seines frühern Leibeigenen werden sollte. Eine Schule sollte nach einem bewundernswerthen Plane und in sehr ausgedehntem Maße für den Unterricht [403] der Bauernkinder in verschiedenen Gewerben errichtet werden. Ein Reservefonds war für die Unterstützung der Kranken und Alten vorgesehen. Eine unbedeutende jährliche Abgabe, von den freigelassenen Leibeigenen zu zahlen, war bestimmt, um nach und nach die Freiheit ihrer Nachbarn zu erkaufen, die, wie sie es gewesen, zu harter und undankbarer Arbeit verdammt sind.
Nachdem Staszic in dieser Weise für seine Bauern gesorgt hatte, vermachte er 600,000 Gulden zur Gründung eines Musterspitals, und bestimmte eine beträchtliche Summe für die Erziehung armer und fleißiger Jünglinge. Was seine Schwester betrifft, so vererbte er ihr nur dasselbe Ausgesetzte, was er ihr jährlich während seines Lebens gegeben hatte; denn sie war eine Person von sorglosen und extravaganten Gewohnheiten, die alles Geld, das sie empfing, thöricht verschwendete.
Ungewöhnlich war das Schicksal des Stanislaus Staszic. Ein Märtyrer der Verleumdung während seines Lebens, ward nach dem Tode sein Andenken gesegnet und geehrt von den Vielen, welche er glücklich gemacht hatte.