Ruine Wildenfels

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Friedrich Gerstäcker
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ruine Wildenfels
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 45–53
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[697]
Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
1. In Wellheim.

In Wellheim, einem kleinen, reizend gelegenen Städtchen am Rhein, war heute die Lese beendet worden und so reichlich ausgefallen, daß allgemeiner Jubel im Orte herrschte. Die Sonne hatte auch den ganzen Sommer und Herbst tüchtig auf die vollen, prachtvoll gebräunten Trauben niedergebrannt, und man durfte auf einen Wein rechnen, der sich den besten Jahrgängen an die Seite stellen konnte. Was Wunder denn, daß man mit dem „alten“ Stoff aufzuräumen suchte und die ziemlich zahlreichen Wirthshäuser in dieser Zeit von munteren Zechern gefüllt waren.

Wellheim lag unmittelbar am Ufer des herrlichen Stromes an einem außerordentlich sonnigen und günstigen Hang, und dicht darüber, so daß man es selbst bergauf bequem in einer halben Stunde erreichen konnte, stand eine jener alten, prächtigen Ruinen – früher die Geißel, jetzt die Zierde des Landes – und schaute mit ihren weiten, öden Fensterhöhlen träumend auf das zu ihren Füßen ausgebreitete wunderschöne Thal hinab.

Schade freilich, daß das alte Schloß so gar verfallen und vernachlässigt war! Da auch dichtes Gebüsch umherwucherte und die alten, steinernen Treppen im Innern den Einsturz drohten, so daß nur manchmal leichtsinnige junge Touristen das Wagstück versuchten, auf ihnen hinaufzuklettern und die Aussicht von da oben zu genießen, wurde die Ruine nur in seltenen Fällen einmal flüchtig von Fremden besucht. Die Bewohner von Wellheim kamen überdies nicht hinauf, und so wusch denn auch mit den Jahren der Regen den steilen, nie ausgebesserten Pfad, der zu der Ruine führte, so aus, daß es zuletzt ein eben solches Kunststück wurde, ihn zu erklimmen, wie die schon halbzerstörten Treppen im Innern des alten Schlosses zu besteigen.

Etwas hatte die Burg aber, wie so viele jener romantischen Stellen am Rhein: ihren Privat-Geist nämlich, und mit den Jahren, da man durchreisenden Engländern doch etwas erzählen mußte, bildete sich eine ordentliche kleine Sage aus.

Dieser zufolge sollte Hugo von Wildenfels, der letzte Raubgraf, der von hier aus in der „guten alten Zeit“ friedliche Bürger überfallen und geplündert hatte, endlich zu einem wunderbar schönen Burgfräulein am anderen Ufer des Rheines in Liebe entbrannt sein und beschlossen haben, seinem ruchlosen Leben zu entsagen. Ob er aber diesen guten und löblichen Vorsatz auch später gehalten haben würde, wenn er seinen Zweck, die Hand der Jungfrau, erreicht, weiß man nicht, denn er war jedenfalls zu spät gekommen. Kaiser und Reich nämlich, der ewigen Klagen müde, sandten ein paar helle Haufen von Rittern und Knappen gegen die Veste, in der sich Hugo von Wildenfels mit großer Tapferkeit vertheidigte. Schließlich jedoch, ob durch List oder Gewalt, sagt die Chronik nicht, drangen die Belagerer in die Burg und übten Vergeltung für jahrelangen Frevel. Während man den „rothen Hahn“ auf’s Dach derselben pflanzte, wurde der Raubritter gefesselt in seinen eigenen Hof geführt und dort, beim Schein der auflodernden Flammen, enthauptet, der Körper aber nachher nicht begraben, sondern in ein brunnenartiges Burgverließ geworfen, in welchem der Lebende viele unglückliche Opfer hatte verschmachten lassen.

Das war das Ende des tapferen Hugo von Wildenfels, das irdische wenigstens, denn es scheint, als ob ihn seine guten Vorsätze nicht im Grabe ruhen ließen. Zu gewissen Zeiten im Jahre sollte er wenigstens gesehen sein, wie er auf der hinausstarrenden Zinne seines verödeten Schlosses stand und den eigenen Kopf hoch in der Hand und nach jener Burg hinüber hielt, in welcher die Auserwählte seines Herzens gewohnt. Ob er sich, indem er ihr den abgeschlagenen Kopf zeigte, damit entschuldigen wollte, daß er sein Wort nicht eingelöst und sie heimgeholt – und allerdings konnte ein solcher Fall als genügender Entschuldigungsgrund gelten – ob er, einem höheren Willen folgend, als abschreckendes Beispiel herumgehen mußte und deshalb nicht die ewige Ruhe fand, man weiß es nicht. Soviel aber ist sicher, daß es keine alte und vielleicht auch wenige junge Frauen in Wellheim gab, die nicht fest daran geglaubt hätten, daß der kopflose Hugo von Wildenfels noch heutigen Tags – oder vielmehr Nachts – dann und wann erschien, und man hätte Manchen im Ort finden können, der bereit gewesen wäre, selber zu beschwören, daß er das entsetzliche Gespenst mit eigenen Augen gesehen.

Uebrigens schien der Ritter seine alte, unheilvolle Thätigkeit jetzt wirklich eingestellt zu haben, denn wenn er sich einmal wieder auf seiner Zinne irgend einem Nachtwandler zeigte, so bedeutete das, wie man sich im Volk erzählte, jedesmal ein gutes Weinjahr, und die Kunde wurde darum immer mit Freuden begrüßt. Drehte sich doch die ganze Existenz der Leute um den Wein.

So war er auch heuer, und sogar zwei Mal, von zwei verschiedenen Leuten gesehen worden; und wie hatte er dabei seinen Ruf bewährt! Es gab gar nicht genug Gefäße im Orte, um nur den süßen Most zu fassen, und der alte Wein schlechterer Jahrgänge wurde um einen Spottpreis verkauft, nur um das Faß zu frischem Gebrauch frei zu bekommen.

Es dämmerte, und im „Burgverließ“, einer kleinen, aber sehr stark besuchten Weinschenke in Wellheim, hatte sich schon ein Theil der Stammgäste eingefunden, um dort, wie sie sich ausdrückten, „ihren Schoppen“ zu trinken. Das Wort „Schoppen“ ist freilich gefällig, denn es enthält gleich im Singular seinen Plural, und [698] daß es nicht bei einem, auch wohl nicht bei drei und vieren blieb, ist sicher.

Trotz der wachsenden Beschäftigung in der Wirthsstube schien aber Rosel, des Wirthes liebliches Töchterlein, doch einen Augenblick Zeit gewonnen zu haben, auf den Hof hinauszueilen und ein paar Worte mit einem jungen Manne zu wechseln, der dort jedenfalls auf sie gewartet haben mußte. Sie fürchtete sich auch gar nicht vor ihm, sondern legte ihr Köpfchen ganz vertrauensvoll an seine Brust und litt es, daß er ihr wieder und immer wieder die Stirn küßte; aber es war ihr doch nicht freudig dabei zu Muthe, denn große helle Thränen standen ihr in den Augen und rollten dann schwer an den Wangen hinab auf ihr Mieder.

Endlich, während er ihr liebe und gute Worte zugeflüstert, wand sie sich aus seinem Arme.

„Ich muß fort, Bruno,“ sagte sie, sich mit der Schürze die verrätherischen Thränen abtrocknend, „Du weißt, der Vater will es nicht leiden, daß ich mit Dir spreche, und das Zimmer ist auch voller Gäste, so daß die Bärbel gar nicht mit ihnen fertig wird, und mehr kommen noch, ein ganzes Boot voll ist den Nachmittag den Rhein hinaufgefahren, und Alle wollten heut Abend bei uns einkehren.“

„Drei Tage hab’ ich Dich jetzt nicht gesehen, Rosel, und kaum drei Minuten kannst Du mir schenken,“ klagte der junge Mann; „das ist recht hart.“

„Aber Du weißt ja doch, daß es nicht von mir abhängt, Bruno,“ bat das Mädchen, „mir thut’s ja selber weh genug, aber kann ich es ändern? Leb’ wohl, ich bleib’ Dir gut, das ist sicher und Du hast mein Wort; nun hab’ Geduld, und vielleicht wird Alles noch besser, als wir denken.“

„Besser als wir denken,“ seufzte der junge Mann; „o, wenn ich Dich hier fort nehmen, wenn ich Dich zu meiner Mutter bringen dürfte, daß Du nur der Gesellschaft erst enthoben wärest!“

„Hab’ nur keine Sorge um mich, Bruno,“ lächelte das junge Mädchen wohl freundlich, aber zugleich auch recht wehmüthig, „ich bin hier schon gut genug aufgehoben. Schau’ nur, daß Du was schaffst und vor Dich bringst, ich halt’ treulich aus.“

„Und Dein Bruder –“

„Er ist nicht so schlimm, wie Du denkst,“ sagte das Mädchen treuherzig, „ein bischen roh wohl, lieber Gott, er hat sich lange in der Welt umhergetrieben, und daß ich den Menschen nicht heirathen will, den er mir zugedacht, mag ihm auch ein wenig in die Krone gestiegen sein, aber sie kennen die Rosel – er und der Vater – und wissen, daß sie, wenn sie ’mal was gesagt hat, nie im Leben davon abzubringen ist, mag’s nun biegen oder brechen.“

„Sie werden Dir so lange zureden –“

„Hab’ keine Angst, da zu dem Ohr geht’s hinein und zu dem wieder heraus; in’s Herz hinunter kommt nichts, verlaß Dich darauf. Aber jetzt muß ich fort, Jesus Maria, der da drinnen reißt mir noch die Klingel ab, es sind gewiß mehr Leute gekommen. Leb’ wohl, Bruno –“

„Und wann seh’ ich Dich wieder?“

„Bist Du morgen Abend noch hier?“

„Ja, aber den ganzen Tag soll ich –“

„Sei morgen früh um neun Uhr auf dem Weg nach der Ruine, vielleicht mach’ ich’s möglich, daß ich ein halb Stündchen abkomme. Die Leut’ haben jetzt Werkeltags viel zu thun und da giebt’s bei uns mehr Zeit. So, schütz’ Dich Gott, Bruno,“ und ihm die Lippen zum Kuß hinhaltend, wand sie sich rasch aus seinem Arm und verschwand im Haus. Aber sie sollte nicht unbemerkt wieder in’s Schenkzimmer schlüpfen, denn ihr Vater, der eben mit einem großen Krug voll Wein aus dem Keller trat, stand im Flur und sagte finster:

„So? Hatt’ ich Dir’s nicht verboten, Dich mit dem adligen Hungerleider wieder einzulassen? und bist Du jetzt nicht draußen auf dem Hof bei ihm gewesen? Durch die Kellerluke hab’ ich Euch gesehen.“

„Was kann er dafür, daß er adlig ist, Vater!“ sagte das Mädchen; „wenn wir das kleine Von vor unserm Namen trügen, wär’ ich auch unschuldig daran.“

„Aber er hat nichts als seinen Dünkel im Kopf,“ brummte der Wirth, „und seiner Sippschaft sind wir ebenfalls ein Dorn im Auge.“

„Wenn er stolz wäre, hielt’ er doch nicht um die Wirthstochter an,“ sagte das Mädchen.

„Soll mich wohl noch bei dem Schreiber bedanken, daß er sich hier in ein warmes Nest zu setzen denkt?“ knurrte der Wirth, „und kurz und gut, ich leid’s nicht, daß Du zu ihm hältst. Er ist nicht stolz, Gott bewahre, und als ich ihm anbot, er sollte hier bei mir eintreten und die Wirthschaft lernen, was antwortete er da? Das dürfe er seiner Familie nicht zu Leide thun. Ei, zum Geier! sie haben das Brod kaum, was sie essen, und die alte, hochnäsige Baronin schleppt das alte, schwarze Seidenkleid schon so lange, daß man jeden Faden daran erkennen kann; aber versteht sich, Seide muß es sein und Spitzen drum herum und Blumen und Federn auf dem Hut. Kommt er mir noch einmal über die Schwelle, Gott straf’ mich, wenn ich ihm nicht schneller hinaushelfe, als er eingetreten ist.“

„Aber Vater –“

„Jetzt marsch, fort mit Dir, da drinnen sitzt die Stube voll Gäste und Du treibst Dich indessen draußen im Hof mit dem Lump herum; mach’, daß Du hineinkommst, und nimm den Krug mit – es ist guter.“

Rosel zögerte einen Moment; das Blut hatte bei den letzten Worten ihre Wangen verlassen und ein eigenes Feuer glühte aus den dunklen Augen des Mädchens – aber es war ja ihr Vater – sie durfte sich ihm nicht widersetzen. Nur mit einem schweren, recht aus voller Brust herausgeholten Seufzer nahm sie den Krug auf und ging an ihre Arbeit, während der Wirth, Paul Jochus, langsam und sich selber wenig genug um die zahlreichen Gäste kümmernd, in seine eigene Stube hinaufstieg und sich dort einschloß.

Paul Jochus hatte eigentlich eine recht lange Zeit keinen besonders guten Ruf in Wellheim gehabt, und gesellig verkehren mochten selbst jetzt noch nur Wenige mit ihm. Er war rauh in seinem Wesen und verschlossen, mit der üblen Angewohnheit dabei, daß er, wenn er mit Jemandem sprach, ihm nie in’s Auge, sondern immer bald auf die rechte, bald auf die linke Schulter sah. Außerdem blieb es in der kleinen Stadt, wo derartige Familienverhältnisse nicht geheim gehalten werden können, eine bekannte Thatsache, daß er seine verstorbene Frau, ein liebes, sanftes Wesen, stets roh und unfreundlich behandelt hatte, so daß sie sich, auch noch von Nahrungssorgen gequält, langsam aber sicher zu Tode grämte.

Es mußte damals in der That mit Paul Jochus’ Verhältnissen scharf bergunter gegangen sein; er hatte gespielt und viel Geld verloren und sich dann dermaßen dem Trunk ergeben, daß sämmtliche anständige Gäste sein Haus mieden und schon das Gerücht in der Stadt ging, das „Burgverließ“ würde nächstens von Gerichtswegen öffentlich versteigert werden, nur um die aufgelaufenen Schulden zu bezahlen.

Sein Sohn erster Ehe, Franz, war inzwischen draußen in der Fremde gewesen; er hatte sich mit der Stiefmutter nicht vertragen können, weil ihm diese das nicht wollte hingehen lassen, was sie bei dem Gatten nicht hindern konnte. Er war Künstler geworden, wie er sich nannte, als er zurückkam, Kupferstecher und Lithograph, und beabsichtigte, sich jetzt am Rhein niederzulassen.

Da starb die Mutter, und erst nach ihrem Tode mochte Paul Jochus wohl fühlen, was er an ihr gehabt, was er an ihr gesündigt, denn er ging eine Weile wie gebrochen umher und hatte dabei das Trinken fast ganz aufgegeben. Er sah auch wieder fleißig nach seiner Wirthschaft, und wenn auch noch immer nur sehr wenige Gäste bei ihm einsprachen, schien es doch, als ob sich seine Umstände von Tag zu Tag wieder besserten. Vom Verkauf des Grundstücks war keine Rede mehr, ja sogar die aufgelaufenen Schulden wurden nach und nach abbezahlt, und da Rosel indeß herangewachsen war und dem Schenkzimmer selber vorstehen konnte, zog sie durch ihr freundliches Wesen bald wieder eine Menge Gäste in’s Haus, doch ohne sich je das Geringste gegen einen derselben zu vergeben. Ueberhaupt hatte das junge Mädchen trotz ihres zarten Alters etwas ungemein Bestimmtes in ihrem ganzen Wesen, und die Wellheimer wußten, was sie sagten, wenn sie die Rosel „ein wahres Prachtmädel“ nannten.

Wo nur der Jochus das viele Geld herbekam? So viel warf die Wirthschaft doch nicht ab, das konnten sie ihm recht gut nachrechnen, und in den letzten zwei Jahren hatte er sich ein Stück [699] Weinberg nach dem andern gekauft. Einige sagten zwar, der Sohn habe Geld mit aus der Fremde gebracht; Andere wollten behaupten, der alte Jochus hätte eine Erbschaft gemacht – wo es aber auch herkam, von Jochus selber erfuhren sie es nicht, denn der war eher noch verschlossener als sonst, aber jetzt auch, was sich nicht leugnen ließ, ein vollkommen anderer und ordentlicher Mensch geworden. Wenn er mehr Geld hatte als früher, verthat und verpraßte er es nicht, sondern legte es auf vernünftige Weise an, und da er keiner Seele mehr etwas schuldete, brauchte sich auch Niemand darum zu kümmern, woher ihm seine Mittel flossen.

Franz, sein Sohn, war kurze Zeit bei ihm im Haus gewesen, und es hieß einmal, er wolle sich in Wellheim selber etabliren. Der kleine Ort würde ihm jedoch kaum Beschäftigung genug geboten haben, und wenn er je den Plan gefaßt, gab er ihn wieder auf. Er hatte sich auch gleich einen Compagnon mitgebracht, einen jungen Herrn aus Berlin, der sich immer fein kleidete, immer Glacéhandschuhe trug und sich natürlich gleich nach den ersten vierundzwanzig Stunden sterblich in Rosel verliebte, ja, ihr sogar seine Hand anbot und von dem Bruder lebhaft dabei unterstützt wurde. Rosel mochte ihn aber vom ersten Augenblick an nicht leiden, denn er hatte etwas Freches und Spöttisches in seinem Wesen, und als er sogar noch zudringlich wurde, fertigte sie ihn so entschieden, auf nicht mißzuverstehende Weise ab, daß er seine Werbung nothgedrungen einstellen mußte.

Franz hatte danach einen heftigen Aufritt mit Rosel, und da sich die Geschwister überhaupt nicht recht vertragen konnten, siedelten die beiden jungen Männer nach Hellenhof, einer größeren Stadt, über, die etwa anderthalb Stunden von Wellheim entfernt, doch tiefer im Land, vom Rhein ab lag. Dort, hieß es, wollten sie sich niederlassen, und dort blieben sie auch, und nur sehr selten kam Franz noch manchmal nach Wellheim zum Besuch herüber, wobei er dann nie verfehlte der Schwester von seinem Compagnon vorzureden, wenn gleich immer vergeblich.

Der alte Jochus hatte sich indessen fast ganz von dem „Geschäft“ zurückgezogen, bei dem er fast nur noch den Einkauf des nöthigen Weines und das Keltern des eigenen besorgte. Sonst freilich saß er manchmal bis Mitternacht und noch länger bei den Gästen unten in der Stube, trank mit ihnen oder spielte Karten. Jetzt aber, seit er ordentlich geworden, zog er sich an jedem Abend auf seine Stube zurück und mußte dann auch jedenfalls gleich zu Bette gehen, denn man hörte ihn nie lange in seinem Zimmer.

Heute schien er sich noch früher loszumachen. Er war den ganzen Tag mürrisch und verdrießlich gewesen und hatte Stunden lang auf einem Stuhl in der Ecke gesessen und vor sich nieder gestarrt. Es ging ihm jedenfalls etwas im Kopf herum, einem Menschen aber vertraute er’s nicht an, am wenigsten der Rosel, wenn er sie auch sonst lieb genug hatte. Diese wußte auch schon, daß solche böse Stunden – und jetzt öfter als früher – wohl manchmal über ihn kamen. Wenn man ihn aber dann in Ruhe ließ, gingen sie auch wieder von selber vorüber, und am nächsten Morgen geschah es dann nicht selten, daß er lustig im Haus herumpfiff und ein ganz anderer Mensch geworden schien.

Der Rosel war es deshalb recht lieb, daß er sich heute so früh abschloß. Der böse Geist, der in ihm stak, mußte eben austoben, nachher sah er die Welt wieder mit freundlicheren Augen an, und morgen ließ sich vielleicht auch ein vernünftiges und ruhiges Wort mit ihm über Bruno reden. Vor zehn Uhr stand der Vater doch nie auf, kam wenigstens, schon seit langen Monden, nie früher zum Vorschein, und um neun Uhr hatte sie ja Bruno auf den Weg bestellt. Da wollte sie mit ihm Rücksprache nehmen, und wenn möglich, einen Plan für ihr künftiges Leben fassen. Jetzt aber schüttelte sie alle die Gedanken ab, denn da drinnen gab’s wahrlich genug zu thun und Bärbel, das Schenkmädchen, und Caspar, ein armer Verwandter, den Jochus als angehenden Kellner in’s Haus genommen, hatten alle Hände voll Arbeit.


2. Beim Wein.

Das Burgverließ, wie das Haus nach der Weinstube im ganzen Städtchen genannt wurde, war eines jener altmodischen geschnörkelten Giebelhäuser, wie man sie noch so häufig am Rheine findet. Es hatte kleine, enge, steinerne Treppen und oben ziemlich kleine Zimmer, einen mächtigen Keller aber unter dem Haus, und das Parterre ebenfalls gewölbt gebaut, mit einem großen Zimmer links vom Eingang, das als Schenkstube benutzt wurde, und einem kleinen rechts, welches früher das Wohnzimmer von Rosel’s Mutter gewesen und jetzt nur, in seltenen Fällen, als „gute Stube“ dienen mußte. Rosel hatte ihr Schlafzimmer oben, und die Dienstleute schliefen hinten hinaus.

Das Haus selber lag nicht unmittelbar am Rhein, sondern stieß vielmehr durch seinen Garten an ein kleines Haseldickicht, das, seiner nicht günstigen Lage wegen, noch nicht zu Weinbergen benutzt worden war und, in einer engen Schlucht oder Delle fortlaufend, sich weiter oben an den eigentlichen Wald anschloß. In früheren Jahrhunderten hatte die Stadtmauer diesen Platz umgeben, und wenn sie auch jetzt an allen den Stellen, die sich vortheilhaft zum Bebauen zeigten, fortgeräumt worden war und keine Spur mehr zurückgelassen hatte, so hatte man sich hier doch nicht die Mühe gegeben, die alten schweren Steine aus dem Wege zu schaffen. Die Mauer verwitterte allerdings mit der Zeit, aber das Geröll blieb liegen, und nur im Herbst war es über Tag ein Haupttummelplatz der Wellheimer Jugend, da dort eine Unmasse herrlicher Brombeeren wuchsen und die Haselnüsse ebenfalls ihre Anziehungskraft ausübten.

Doch Niemand kümmerte sich heute mehr um den kleinen Garten, den Rosel selber pflegte und auch trefflich in Stand hielt. Es war völlig dunkel geworden und wenn sich im heißen Sommer die Gäste auch manchmal ihren Schoppen hinaus in die freundliche Weinlaube nahmen und dort bis zehn oder elf Uhr im Freien saßen, so trat der Herbst doch schon zu kühl auf, um das jetzt noch zu gestatten.

So mochte es zehn Uhr geworden sein, und manche der älteren Stammgäste, die gewohnt waren zu rechter Zeit in’s Bett zu gehen, hatten das Burgverließ verlassen und ihren Heimweg angetreten. Dagegen war frischer Zuwachs gekommen und das Boot, von dem der alte Jochus schon zu Rosel gesprochen, von seiner etwas verspäteten Fahrt den Rhein herab zurückgekehrt. Das junge Volk hatte den Abend oben in irgend einer alten Ruine verbracht und auch wohl tüchtig dabei gezecht, aber versäumt, noch etwas für den Heimweg mit in’s Boot zu nehmen und natürlich auf der zweistündigen Fahrt wieder tüchtigen Durst bekommen.

Es war eine lustige Reisegesellschaft aus Thüringen, auf einer Vergnügungsfahrt begriffen und mit eben gerade genug Geld in der Tasche, um den alten Vater Rhein zu besuchen und einmal auf ein paar Tage Arbeit und sonstige Scherereien zu vergessen. Sie sangen dabei ganz prächtige Lieder mit vollen melodischen Stimmen, und Rosel, die gar so gern singen hörte, setzte sich nicht weit von ihnen auf den Stuhl an’s Fenster und überließ der Bärbel jetzt vollständig das Bedienen der Gäste, deren Reihen sich schon ordentlich gedünnt hatten. Eigentlich fand man sonst um diese späte Stunde wenig mehr Leben in den Weinhäusern von Wellheim, aber gerade die jungen munteren Fremden mit ihren hellen Stimmen und prächtigen Liedern hielten auch heute manchen alten Knaben länger als gewöhnlich bei seinem Schoppen, und selbst als die Lieder verstummt waren, plauderte man noch zusammen.

Die Fremden wollten den morgenden Tag noch hier verbringen und erst gegen Abend stromab gehen; sie erkundigten sich deshalb, was es in der Nachbarschaft Sehenswerthes gäbe.

„Ei,“ rief da der Bäckermeister Bollharz, eine kleine kugelrunde Gestalt, der, wenn er lachte, gar keine Augen im Gesicht zu haben schien, weil sie vollkommen hinter den fettgepolsterten Backen verschwanden, „da müßt Ihr jedenfalls einmal unsere Ruine besuchen, die ist es schon der Mühe werth, und junges lustiges Volk wie Ihr seid, klettert auch wohl die alten Treppen hinauf, und von da oben hat man eine ganz wundervolle Aussicht.“

„Seid Ihr schon einmal oben gewesen, Meister Bollharz,“ lächelte Rosel, die sich die kleine unbeholfene Gestalt auf der schmalen, geländerlosen Treppe dachte.

„Gewiß bin ich, Jungfer Naseweis,“ nickte der behäbige Mann, „und das mehr als einmal, und noch dazu hinaufgelaufen wie ein Wiesel – das sind aber freilich so ein Jahrer dreißig her und jetzt, mit meiner Wohlbeleibtheit würde es auch nicht mehr so leicht gehen, keineswegs so geschwind. Steigt nur [700] auf meine Verantwortung hinauf und stattet dem alten Nest einen Besuch ab – es liegt so jetzt öde und einsam genug zwischen den Büschen, und der alte Wildenfels muß schmähliche Langeweile haben.“

„Wer?“ frug Einer der Fremden, „der alte Wildenfels? wohnt denn Jemand oben?“

„Wohnen? Gott soll uns bewahren, wer möchte in dem alten Eulennest wohnen,“ sagte ein anderer der Gäste, der Stadtschreiber Mahler, indem er über seine Brille hinweg nach dem Fremden sah. „Hugo von Wildenfels, wie der letzte Bewohner jener Raubburg hieß, soll dort, der Volkssage nach, noch hausen und manchmal, den abgeschlagenen Kopf in der Hand, auf den Zinnen spazieren gehen.“

„Alle Wetter, das wäre interessant, dem zu begegnen!“ lachte einer der jungen Leute.

„Soll nur da hausen, Herr Stadtschreiber?“ sagte ein kleines graues Männchen, das etwas abseits von den übrigen an seinem Schoppen saß und bis jetzt ununterbrochen Wallnüsse dazu geknackt hatte; „ich dächte wir hätten hier in Wellheim doch genügend Beweise, daß er wirklich gesehen ist, denn die Achtbarkeit der Zeugen läßt sich nicht bestreiten.“

„Mein lieber Herr Registrator,“ rief ein junger Beamter, „wer hat ihn denn eigentlich gesehen? Ihr Vetter der Apotheker, und was das für ein Windbeutel ist, wissen wir Alle zusammen.“

„So?“ sagte das alte, etwas engbrüstige Männchen gereizt, „und meine Schwägerin – Gott hab’ sie selig – hat wohl nicht vor jetzt drei Jahren fast den Tod vor Schreck gehabt, als sie eines Abends mit einer Gesellschaft von Hellenhof herüberkam und in ihrem Uebermuthe noch einen Abstecher nach der Burg machte? Sie hat nachher sechs Wochen das Bett hüten müssen, so war ihr der Schreck in die Glieder gefahren.“

„Na,“ nahm da noch ein Anderer des Registrators Partie, ein pensionirter Steuerbeamter, der hier in Wellheim seine kleine Pension verzehrte, „ich dächte doch, wir hätten auch in diesem nämlichen Jahr Beweise genug, denn zweimal hat er sich da gezeigt und jedes Kind weiß, was für ein gutes Weinjahr das jedesmal verspricht. Der alte Gärtner Weber, dem gewiß Niemand nachsagen kann, daß er lügt, hat ihn selber das eine Mal gesehen, und das zweite Mal Ihr eigener Bruder, Rosel, der doch auch sonst nicht gerade abergläubisch ist.“

„Und ich glaub’s doch nicht,“ sagte Rosel, die, beide Ellbogen mit beiden Händen haltend, lächelnd dem Gespräch zugehört hatte, „und wenn’s selber mein Bruder gesehen haben wollte.“

„Junges, übermüthiges Blut,“ sagte der alte Registrator, „glaubt nur immer das, was es selber sieht, und selbst das nicht immer, muß erst durch Schaden klug werden, und wenn ältere Leute etwas sagen, so wird gewöhnlich darüber gelacht und gespottet.“

„Ach, bester Herr Registrator,“ erwiderte Rosel freundlich, „glauben Sie ja nicht, daß ich spotten wollte; nur die Geschichte von dem Ritter, der den Kopf unter dem Arme tragen soll, kommt mir so wunderbar vor, denn wenn dort oben noch etwas von dem alten Herrn von Wildenfels umgeht, so kann es doch nur der Geist desselben sein und nicht der Körper, und ein Geist kann doch wohl nicht mit abgeschlagenem Kopf umherwandern, denn wer wäre im Stande einem Schatten den Kopf abzuhauen.“

„Du redest gerade wie Du’s versteh’st, Kind,“ sagte der Registrator, ein alter Stammgast des Hauses, der auch bei der Rosel Pathe gestanden und sie oft auf dem Arme herumgetragen hatte, weshalb er sie auch noch immer Du nannte. „Der Schatten ist doch nur der Wiederschein des Körpers, und wenn man einem solchen den Kopf herunterschlägt, so kann ihn doch der Schatten nicht aufbehalten. Der Schatten wird natürlich nicht enthauptet, aber der Körper, und dadurch zugleich der Schatten.“

„Mein liebes Fräulein,“ bemerkte jetzt der alte Steuerbeamte, der ‚Herr Hauptcontroleur‘ in der Stadt betitelt wurde, da sich ein Mensch ohne Titel nicht gut denken ließ und nie im Leben hätte auf Pension Anspruch machen können, „Sie werden gewiß nicht leugnen wollen, daß es Dinge auf Erden giebt, die unser Verstand zu schwach ist zu begreifen, und daß wir durchaus noch nicht mit unseren Seelenkräften im Klaren sind, in wie weit wir mit einer anderen Welt in Verbindung treten können. Auch soll man Gott nicht versuchen, liebes Fräulein,“ setzte der Alte ernst hinzu, „und ein guter Christ hat an den Stätten, wo der Herr irrende Seelen zur Strafe umwandeln läßt, in der dafür bestimmten Nacht nichts zu suchen.“

„Lassen Sie’s sein, Herr Hauptcontroleur,“ lachte der Bäckermeister; „die Rosel ging auch nicht bei Nacht zu dem alten Schlosse hinauf. Bei solchen unheimlichen Geschichten ist uns Allen nicht geheuer, und es überläuft Einen schon ein ganz merkwürdiges Gefühl, wenn man einmal Nachts im Holze draußen nur einem [701] ganz gewöhnlichen Menschen begegnet – viel weniger denn in einem solchen alten Raubschlosse, wo früher so viele Unschuldige hingerichtet wurden und so viel Blut vergossen ist, einem derartigen Gespenst mit dem Kopf unter dem Arme. Ich bin auch nicht abergläubischer als Andere, aber ich glaube, mich rührte der Schlag vor Schreck, wenn mir einmal eine solche Gestalt in den Weg liefe.“

„Bah,“ sagte Rosel, verächtlich lächelnd, „Ihr urtheilt von Euch auf Andere, Meister Bollharz. Ich bin nur ein Mädchen, aber wenn es eine Wette gälte – ich ginge selber hinauf und bewiese Euch, daß Ihr Unrecht habt.“

„Hoho, Rosel,“ lachte der Bäckermeister, „das hab’ ich noch gar nicht gewußt, daß Sie auch prahlen können. Wenn ich Sie nun beim Worte nähme?“

„Ei, so thut’s!“ rief das junge Mädchen, während ihr in der Erregung des Augenblicks das Blut voll in Gesicht und Schläfe stieg – „was ich gesagt habe, habe ich gesagt.“

„Und Du wolltest jetzt bei Nacht allein hinauf in die Ruine gehen?“ rief der Registrator erschreckt. „Kind, versündige Dich nicht, denn schon ein solcher Gedanke ist gottlos.“

„Weil sie weiß, daß sie Niemand beim Worte nimmt,“ lachte der Bäckermeister. „He, Bärbel, gieb mir noch einen Schoppen – das ist aber wahrhaftig der letzte –“

Die jungen Fremden lachten – nicht über Rosel’s Anerbieten, sondern über den kleinen dicken Mann, der schon seit einer Stunde immer seinen ‚letzten‘ Schoppen bestellte, und doch nicht vom Fleck zu bringen war; das junge Mädchen aber, überhaupt heute Abend durch das Zusammentreffen mit Bruno und die harten Worte des Vaters gereizt, rief aus:

„Und wenn ich Euch nun beim Worte nähme, Meister Bollharz? Ihr habt die zwei schönen großen Orangenbäume, die Ihr mir immer nicht verkaufen wolltet. Sollen die mein sein, wenn ich jetzt – in diesem Augenblick nach der Ruine hinauf und hinein gehe und Euch auf irgend eine Art ein Zeichen bringe, daß ich dort gewesen?“

„Mädel, bist Du des hellen Teufels?“ sagte der Registrator erschreckt.

„Bravo, mein Fräulein!“ riefen lachend die jungen Leute, die noch immer nicht an den Ernst der Sache dachten und sich nur über das verdutzte Gesicht des kleinen dicken Bäckers amüsirten – „er hat die Lust am Wetten schon verloren.“

„So, meine Herren?“ sprach der Bäcker, ebenfalls mit einer tüchtigen Schoppenladung im Kopfe, von seinem Stuhle aufspringend und mit der Hand auf den Tisch schlagend, „das hat er aber noch lange nicht. Die beiden Orangenbäume sollen Ihnen gehören, Rosel, wenn Sie jetzt – und es muß bald Mitternacht sein – dort hinauf gehen, und ich will mein Lebstag ein Lügner heißen, wenn ich sie nicht selber herunter schicke.“

„Gut,“ rief das junge Mädchen, entschlossen sich von ihrem Platz erhebend, „ich gehe! die Wette gilt!“

„Wenn Sie aber nicht hinaufgehen und wieder unverrichteter Sache herunter kommen?“ frug der kleine Bäcker, dem doch schon um seine vielleicht zu leichtsinnig versprochenen Orangenbäume bange wurde.

„Dann bekommen Sie von mir jenen Kuß,“ sagte das junge Mädchen – und während sich ihr Antlitz blutroth färbte, spielte doch zugleich ein spöttisches Lächeln um ihre Lippen – „um den Sie mich schon so oft gebeten haben.“

Ein schallendes Gelächter belohnte die Abfertigung des kleinen Mannes.

Meister Bollharz war aber jetzt auch böse geworden. „Gut, Sie kleiner Trotzkopf, Sie,“ sagte er, „jetzt wollen wir doch einmal sehen, ob die Sache mit Prahlen abgemacht ist. Wenn Sie hinauf in die Ruine gehen und hinein in den Burghof, wo der steinerne Tisch steht, und dort von den Schößlingen, die daneben aus dem Boden gewachsen sind, einen abschneiden und mit herunter bringen, daß ich mich morgen früh überzeugen kann, Sie sind wirklich oben gewesen, so haben Sie bis morgen Mittag die Orangenstöcke im Hause und ich thue Ihnen öffentliche Abbitte, Ihren Muth angezweifelt zu haben.“

„Topp!“ rief das Mädchen, „es gilt!“ und wandte sich rasch der Thür zu; der alte Registrator ergriff sie aber noch am Arm und rief halb bittend, halb ermahnend:

„Rosel, mach’ keinen dummen Streich! Dein Vater ist jetzt nicht hier, daß er’s Dir verbieten könnte, aber ich leid’s ebenfalls nicht, und wenn Du auf Deinem Trotzkopf bestehst, geh’ ich hinauf und weck’ ihn.“

[713] „Nein, Jungfer Rosel,“ rief der Hauptcontroleur, „lassen Sie um Gottes willen den Muthwillen bei Seite. Wissen Sie nicht die Geschichte von dem jungen Mädchen, das auch Muth genug hatte und bei ähnlichem Anlaß auf den Kirchhof hinausgeschickt wurde, um eine Gabel in das Grab eines an dem Tage beerdigten Selbstmörders zu stoßen? In der Aufregung stieß sie aber die Gabel durch ihr eigenes langes Kleid in den Erdhügel, und als sie wieder fort wollte und sich gehalten fühlte, glaubte sie wahrscheinlich, es sei der Todte, und brach vor Schreck und Entsetzen selbst todt an dem Grabe zusammen. Man soll mit solchen Dingen keinen Scherz treiben!“

„Ich treibe auch gar keinen Scherz, Herr Hauptcontroleur,“ sagte das junge Mädchen freundlich, doch bestimmt, „ich will mir die beiden Orangenstöcke verdienen, dem Meister Bollharz zur Strafe, weil er mir nicht zutraut, was er selber keine Courage hat auszuführen. Wo ich aber gehe und stehe, bin ich in Gottes Hand, oben in meiner Kammer, oder in der alten, öden Ruine, und da ich nicht zu fürchten brauche dort bösen Menschen zu begegnen, so habe ich auch wahrlich keine Angst vor etwa umgehenden Geistern mit oder ohne Kopf. Lassen Sie mich los, Herr Registrator, ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, allein es hilft Ihnen nichts; wenn die Rosel einmal was gesagt hat, so führt sie’s auch durch, und weder Sie noch der Vater könnten mich jetzt daran mehr hindern. Ehe Sie den wach kriegten, wäre ich übrigens schon den halben Weg oben auf dem Burgberg. Gott befohlen miteinander, in einer Stunde bin ich wieder da!“ Und ehe sie wirklich Einer daran verhindern konnte, oder überhaupt mit sich einig war, ob sie nicht blos Scherz trieb, sprang sie hinüber in das ‚gute Zimmer‘, wo sie Capuze und Umschlagetuch liegen hatte, nahm aus der Küche ein Messer mit und eilte flüchtigen Laufes die Straße hinab.

Die jungen Fremden fingen jetzt ebenfalls an sich für das bildhübsche junge Mädchen zu interessiren, und ein paar von ihnen griffen schon nach ihren Hüten und erklärten, daß sie ihr wenigstens von Weitem folgen wollten, damit ihr nicht etwa irgend etwas zustoßen könne. Bäcker Bollharz aber, den es besonders ärgerte, daß Rosel ihn so vor der ganzen Gesellschaft mit dem angebotenen Kuß bloßgestellt, rief, mit der Faust auf den Tisch schlagend, dann gelte die Wette nichts; aber sie sollten sie nur laufen lassen, die käme von selber wieder, und zwar ohne Zeichen, dann könne das hochnäsige Ding aber auch ihren Kuß für sich selber behalten, wie er seine Orangenstöcke, die er schon seiner Frau wegen nicht einmal hergeben dürfe.

Eine merkwürdige Umwandlung hatte das Verschwinden des jungen Mädchens in der Gesellschaft hervorgebracht, eine eigenthümliche Spannung, denn man wußte nicht recht, ob man darüber lachen, oder um das junge, waghalsige Ding besorgt sein sollte. Der alte Registrator fühlte sich am unbehaglichsten; es kam ihm fast so vor, als ob er dem Mädchen hätte wehren sollen, einen so unweiblichen, ja fast leichtfertigen Schritt zu thun. Wenn ihr nun doch etwas zustieß, wenn sie am Ende gar den Tod hatte vor Schrecken, mußte er sich dann nicht die bittersten Vorwürfe machen, daß er dabei gesessen und den Leichtsinn geduldet hatte?

Die jungen Fremden erkundigten sich indessen nach der eigentlichen Sage der Ruine, die ihnen der Hauptcontroleur auch auf das Genaueste und Umständlichste erzählte, und sie erklärten dann, daß sie morgen früh noch vor Tag aufbrechen würden, um mit der Morgendämmerung selber oben zu sein und zu sehen, ob das junge Mädchen ihr Wort gelöst habe. Der alte steinerne Tisch im Burghof war nicht zu verfehlen, und dicht daneben sollte sie ja, zum Zeichen daß sie dort gewesen, einen der aufwuchernden Schößlinge abschneiden oder abbrechen.

Bei der Sage der Ruine blieb es in dieser Stimmung aber nicht, denn es dachte natürlich jetzt Niemand daran fortzugehen, bis Rosel von ihrer nächtlichen Wanderung zurückgekehrt sei, und darüber mußte jedenfalls eine Stunde verstreichen. Der natürliche Ideengang der Gäste lenkte sich mittlerweile auf andere Sagen und Spukgeschichten, an denen der Hauptcontroleur, der sich in früheren Jahren viel an den wilden Grenzdistricten aufgehalten, besonders reich war. Hauptsächlich wurden solche Geschichten dabei hervorgehoben, bei welchen der Muthwille des Menschen keck die Geisterwelt herausgefordert und dann, versteht sich, immer den Kürzeren gezogen habe. Da war das alte Haus an der Grenze, in dem früher ein berüchtigter Schmuggler gelebt, der bei einem Streifzug erschossen wurde und später in seiner eigenen Wohnung umging, daß es Niemand mehr darin aushalten konnte. O ja, ein junger, leichtfertiger Franzose erbot sich den Geist zu bannen, aber Morgens fand man ihn bleich und todt mitten in der Stube liegen, ohne das geringste Zeichen einer Verletzung an seinem ganzen Körper. Und dann der junge Bursch, der Nachts unter den Rabenstein gegangen war, um auch, in Folge einer tollen Wette, einem der am Tag Gehenkten den Stiefel abzuziehen. Der kam auch nicht zurück, und wenn er auch nicht todt blieb oder wahnsinnig wurde, hat er doch nie im Leben wieder gelacht und ist von da an selber wie eine Leiche herumgegangen, bleich und elend und sich verzehrend, bis er endlich, noch in der Blüthe [714] seiner Jahre, starb, aber Niemandem erzählen wollte, was er draußen an jener furchtbaren Stätte gesehen.

Auch der alte Registrator wurde dadurch von seinen eigenen unbehaglichen Gedanken ab- und diesem Thema zugelenkt und wußte eine solche Menge haarsträubender Geschichten, daß die kecke Rosel auf ihrer nächtlichen Wanderung fast schon vergessen war, und das Schenkmädchen, die Bärbel, immer wieder frischen Wein herbeischaffen mußte, um die ausgetrockneten Kehlen zu erquicken. Und wie flink bediente heute das sonst etwas träge oder langsame Mädchen die Gäste, denn nicht um die Welt hätte sie eine der da drinnen erzählten Schauergeschichten versäumen mögen, wenn’s ihr auch manchmal wie mit einer Gänsehaut über den ganzen Körper lief.

„Jesus, meine Güte!“ sagte plötzlich der Hauptcontroleur, dem es indessen einmal eingefallen war, nach der Uhr zu sehen. „Es ist ja schon Eins vorbei und das Mädel, die Rosel, noch nicht zurück. Die hätte doch wahrlich keine Stunde gebraucht, um hin und her zu laufen; wenn ihr nur nichts passirt ist!“

Der alte Registrator war erschreckt von seinem Stuhle aufgesprungen. „Schon Eins vorbei,“ stöhnte er, „wahrhaftig, Ihr Leute, jetzt … jetzt wird mir auch nicht wohl bei der Sache. Wir hätten die tolle Dirne nicht sollen gehen lassen! Der Himmel verhüte, daß dem Kind etwas geschehen ist; ich würde mein Lebtag nicht wieder ruhig.“

„Wir wollen ihr nach,“ rief einer der jungen Burschen. „Ist vielleicht eine Laterne im Haus, die wir mitnehmen könnten, wenn wir sie oben brauchen sollten? Der Mond scheint auch schon unterzugehen und wir finden sonst am Ende den Weg nicht.“

Die jungen Leute waren aufgesprungen und griffen schon nach ihren Hüten, und in der That hatte sich die ganze späte Gesellschaft erhoben, denn die Angst um das junge Mädchen verdrängte alle anderen Gedanken. Da öffnete sich plötzlich die Thür, und Rosel selber stand auf der Schwelle, ernst und still, mit leichenbleichen Zügen. In der Hand trug sie einen kleinen grünen Busch, den sie neben dem Bäcker auf den Tisch warf, und sagte ruhig:

„Da, Meister Bollharz, ist Euer Zweig; ich werde mir morgen oder heute, denn es ist wohl schon spät geworden, die Orangenstöcke holen. Ihr könnt nachsehen oben, gerad’ unter dem steinernen Tisch weg hab’ ich ihn abgeschnitten.“

„Aber Rosel, um Gotteswillen, wie siehst Du aus, Kind? Wie eine Leiche! Was ist Dir geschehen?“ rief der Registrator.

„Mir geschehen? was sollte mir geschehen sein!“ sagte das Mädchen, „nur müd’ bin ich geworden von dem weiten Weg. Bärbel, sieh’ gut nach dem Licht, wenn die Gäste fort sind, und schließ’ die Thür ordentlich; ich will schlafen gehen.“

„Aber Rosel, so erzählen Sie doch,“ bat jetzt der Hauptcontroleur, der sie mit ängstlichen Blicken betrachtet hatte, denn etwas Uebernatürliches mußte ihr begegnet sein, das Entsetzen stand ihr ja noch an der Stirne geschrieben.

„Morgen, morgen,“ sagte das junge Mädchen ruhig. „Heute ist’s schon zu spät geworden und es wird Zeit, daß wir schlafen gehen. Gute Nacht mitsammen,“ und eines der schon fast niedergebrannten Lichter vom Tisch aufgreifend, verließ sie damit das Zimmer und stieg langsam in ihr eigenes Kämmerchen hinauf.


3. In der Ruine.

Wir müssen zu dem Augenblick zurückkehren, wo Rosel, noch mit Trotz und keckem Muth im Herzen, aus dem Hause sprang, um ihren einsamen Weg anzutreten. Still lachte sie vor sich hin, wenn sie sich schon im Geist das erstaunte und verblüffte Gesicht des Meister Bollharz ausmalte, sobald sie ihm das Wahrzeichen brachte und er nun sein Wort halten und ihr die ihm so an’s Herz gewachsenen wundervollen Stöcke ausliefern mußte. Schenken wollte sie ihm dieselben wahrlich nicht, das war die gerechte Strafe für das große Maul, das er immer führte, und für seine ewige Wichtigthuerei.

Im Anfang hatte sie auch leichten, bequemen Weg. Die breite Chaussee, die nach Hellenhof führte, lief dicht unter dem Hügel hin, auf welchem die Ruine lag, und erst von dort ab, wo sie jene verlassen mußte, begann für sie die unbequeme Bahn, den ausgewaschenen, verwachsenen Pfad hinan, vor dem sich mancher Fußgänger schon am hellen Tage scheute.

Der abnehmende Mond stand freilich noch am Himmel, aber leichtes Gewölk jagte dann und wann darüber hin und warf seine wunderlichen Schatten auf die Erde nieder. Furcht kannte sie trotzdem nicht, und ebensowenig glaubte sie an die tollen Märchen des alten, gutmüthigen Registrators und des verschrobenen Hauptcontroleurs und gar nun des Stadtschreibers, der so voll von Aberglauben stak, daß er nichts im Leben that, ohne vorher den Kalender dabei um Rath zu fragen. Seine Nägel schnitt er sich nur am Freitag und würde ebenso leicht daran gedacht haben, sich den Hals ab-, als die Hühneraugen bei abnehmendem Monde auszuschneiden. „Unberufen“ war bei ihm das dritte Wort, und wenn er Morgens auf’s Rathhaus ging und ihm unglücklicher Weise ein Bauer mit einem Schwein begegnete, so bog er auch sicher in die nächste Straße ein oder kehrte, wenn das nicht möglich war, lieber wieder um, selbst beim schlechtesten Wetter den weitesten Umweg nicht scheuend, ehe er sich der Gefahr und den unausbleiblichen Folgen eines solchen Zusammentreffens ausgesetzt hätte.

Sie lachte still vor sich hin, als sie an all’ die tausend Rücksichten dachte, die der alte Stadtschreiber im Leben nahm, und wie er sich wohl betragen würde, wenn er jetzt, um ziemlich Mitternacht, den einsamen Weg zu der Ruine einschlagen sollte. Er wäre freilich wohl durch keine Summe Geldes zu bewegen gewesen, ein derartiges Wagstück zu unternehmen.

Wie still und öde die Straße war, und was für große dunkle Schattenflecke die daranstehenden Wallnußbäume darüber warfen! Keine Menschenseele ließ sich blicken; die schliefen jetzt Alle in ihren warmen Betten und verschlossenen Häusern und – da hätte sie auch hineingehört. Was für eine tolle Idee es von ihr gewesen war, mitten in der Nacht den einsamen Gang zu thun, und nur aus Muthwillen, oder vielleicht aus Trotz, um den Meister Bollharz zu ärgern! Und was der Vater wohl morgen dazu sagen werde, wenn er es erfahre, und natürlich erfuhr er’s, war doch morgen gewiß die ganze Stadt voll davon. Rosel erschrak ordentlich bei dem Gedanken, denn das war ihr bis jetzt noch nicht eingefallen, daß sie nun Tage lang in aller Welt Mund sein würde. Unwillkürlich blieb sie mitten auf der Straße stehen; durfte sie sich, als junges, unbescholtenes Mädchen dem aussetzen? Wenn sie früher daran gedacht, hätte sie es sicher nicht gethan, jetzt war es freilich zu spät, denn kehrte sie nun wieder um, so wurde sie von der ganzen Gesellschaft ausgelacht, und das Gerede wäre doch das nämliche geblieben.

„Nun läßt sich nichts daran ändern,“ sagte sie trotzig vor sich hin, als sie wieder, aber langsamer als früher, vorwärts schritt. „Ich hätte mir’s vorher erst ordentlich überlegen sollen, aber das Alles kam so schnell. Wer denkt auch gleich daran, daß die Welt in Jedem ’was Böses findet, ich wahrlich nicht, und der Vater wird schon auch nicht so arg böse sein; mag er doch den Meister Bollharz ebenfalls nicht leiden, und auf den war’s ja doch gemünzt. Und die Frau Bollharz, wie wird die wüthend werden, wenn sie die Orangenstöcke herausgeben muß! Von der kriegt’s der Meister ordentlich, das ist sicher, geschieht ihm aber recht, dem alten verliebten Fleischklumpen dem.“

Da lag die Ruine. Wie sie eben um eine Biegung der Straße trat, konnte sie die alten Mauerreste deutlich erkennen, und ordentlich wunderlich sah es aus, wie der Mond jetzt gerade von der einen stehengebliebenen Thurmmauer verdeckt wurde und sein helles Licht durch die enge Schießscharte derselben warf.

„Ich muß wirklich ein wenig rascher gehen,“ flüsterte sie vor sich hin, während sie ihren Schritt beschleunigte, „oder der Mond kommt hinter die Berge, und dann reiß ich mir im Dunkeln auf dem Rückweg mein ganzes Kleid in den häßlichen Büschen entzwei. Daß der Mond auch gerade heute so früh untergeht!“

Sie hatte jetzt die Stelle erreicht, wo der alte Burgweg von der Straße rechts abbog und sich, von hier aus noch allmählich, dann aber immer steiler, den Hügel hinanzog, bis endlich oben, dicht unter den frühern Ringmauern, eine ordentliche Treppe in den Felsen gehauen war, die mit zwanzig oder fünfundzwanzig Stufen auf die höchste Kuppe hinaufführte.

Der Hügel selber war meist mit Haselnußstauden, Birken und jungen Buchen bewachsen; Nadelholz stand nur vereinzelt dazwischen, und in früheren Jahren hätte man recht bequem bis zu den eingehauenen Stufen selbst reiten können. Jetzt aber war [715] der Weg, wie schon erwähnt, lange vernachlässigt und, seit ihn einmal ein Wolkenbruch fast zerstört, nicht wieder ausgebessert worden, so daß die Romantik der alten Zeit (wenn man sich wirklich zu ihr hinaufarbeiten wollte) schon hier unten am Hügel begann und sich steigerte, je höher man daran emporklomm. Rosel kannte ihn aber trotzdem, denn oft schon hatte sie, besonders mit ihrer seligen Mutter, den Weg gemacht; der armen Frau war damals wohl recht weh um’s Herz gewesen, an dem so vieler Gram und so viele Sorge nagten, und Stunden lang hatte sie dann oben auf dem Hügel gesessen und auf das freundliche Bild zu ihren Füßen hinausgeschaut, ohne selbst freundlich davon berührt zu werden. Nur still vor sich hin geweint hatte sie dort, und Rosel, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, neben ihr gesessen und ihren Arm um sie geschlungen.

Der Gedanke an die verlorene Mutter füllte jetzt allein ihre Brust. Sie achtete kaum auf die Beschwerden des Wegs, und immer wieder dachte sie der lieben Dulderin, die so gut, so unendlich gut mit ihr gewesen und die sie doch so früh hatte in ihr Grab legen müssen. Und wie war Alles seitdem anders in ihrem Haus geworden; besser wohl als früher, denn Noth und Sorge kannte sie nicht mehr, auch trank der Vater nicht mehr, was der armen Mutter so manche bittere Thräne gekostet. Er war freundlicher als früher, thätiger in seinem Geschäft; die aber gerade, deren tägliches Gebet das immer gewesen, hatte es nicht erleben dürfen, und nie, nie wieder sollte sie in die treuen guten Augen schauen und ihr Haupt an das Herz legen können, das für sie so warm geschlagen.

Sie fühlte bei den Erinnerungen den rauhen felsigen Boden nicht, über den sie klomm, und hatte die Felsentreppe auf der Höhe erreicht, ehe sie es selber dachte. Jetzt aber verlangte der Augenblick wieder vollständig sein Recht, denn hoch über ihr ragten die dunklen unheimlichen Mauern empor, und wenige Minuten später sollte sie den Platz betreten, von welchen in den Köpfen der Menschen dort unten so viele schreckliche Geschichten spukten.

Bah, was war es denn? ein alter verlassener Steinhaufen, weiter nichts. Die Menschen, die ihn früher belebten, gute oder böse, schlummerten lange den ewigen Schlaf, und Gott würde ihnen wahrlich nicht gestatten, wenn sie schon zu Lebzeiten die Welt geärgert, auch noch nach dem Tode, noch nach Jahrhunderten, herumzugehen und Schrecken und Entsetzen zu verbreiten.

Rüstig erklomm sie die ersten Stufen, allein plötzlich hielt sie horchend inne. Unten im Thal, in Wellheim, von wo der frische Ostwind gerade herüberstrich, schlug die alte Stadtuhr. Deutlich konnte sie den Ton der Glocke hören und zählte die Schläge: acht, neun, zehn, elf, zwölf. Es war gerade Mitternacht und sie lächelte trotzig vor sich hin, als sie an die verrufene und gefürchtete Geisterstunde dachte. Kaum aber hob sie den Fuß, um die letzte Höhe zu erklimmen, als sie wieder, und diesmal erschreckt, aufhorchte, denn ihr war es plötzlich, als ob sie unter sich eine menschliche Stimme gehört hätte.

Waren ihr etwa einzelne Gäste aus ihres Vaters Hause gefolgt? Nein. Deutlich erinnerte sie sich von der letzten Höhe einen Blick hinab auf die vom Mond hellbeschienene Straße geworfen zu haben, wo sie jeden dunklen Gegenstand sofort hätte erkennen müssen, aber nichts regte sich dort, und so rasch wie sie den Gang erklommen, würde Niemand im Stande gewesen sein, ihr zu folgen. Todtenstille lag auf der Welt; ihr Ohr mußte sie getäuscht haben, und mit der Ueberzeugung klomm sie rasch die wenigen Stufen noch empor, die sie von der Kuppe trennten.

Und da stand die alte Raubburg unmittelbar vor ihr, mit ihren zackigen ausgebrochenen Mauern, dem alten Thurmrest, in welchem das entsetzliche Verließ seine Opfer hielt, mit den epheuumrankten Söllern und den hohlen Fensteraugen, und dort auf der breiten Zinne, auf die jetzt noch das helle Mondlicht fiel, sollte der Volkssage nach jener blut- und beutegierige Raubgraf seine Strafe abwandern und seinen Kopf, dort drüben über den Rhein hinüber, der anderen Veste entgegenhalten.

Rosel blieb einen Moment stehen, theils um Athem zu schöpfen, die hohen Stufen waren ihr sauer geworden, theils um sich erst wieder zu orientiren, denn es kam ihr ordentlich sonderbar vor, wie fremdartig der sonst so bekannte Platz bei dem ungewissen Licht des Mondes aussah. Aber dort drüben befand sich ja gleich der Eingang in den Hof, da das eigentliche Hauptthor durch niedergestürztes Mauerwerk unpassirbar geworden, und in dem Hofe selber stand jener alte, riesige, steinerne Tisch, auf einem einzigen, ziemlich roh behauenen Pfeiler ruhte die runde Platte, wo früher wahrscheinlich Hugo von Wildenfels im Sommer freie und offene Tafel hielt und zechte und bankettirte, während unten im Thurm seine Opfer wimmernd verschmachteten.

„Recht wär’s ihm schon, wenn er umgehen müßte bis zum jüngsten Tage,“ murmelte Rosel vor sich hin, indem sie jetzt rasch der kleinen Pforte zuschritt, „verdient hätt’ er’s tausendfach, wenn nur die Hälfte von dem wahr wäre, was man sich erzählt, aber mir dürft’ er doch nichts thun, so viel ist sicher,“ setzte sie, ein frommes Kreuz schlagend, hinzu, „das litte der liebe Gott nicht.“

Sie hatte die kleine Eingangspforte erreicht, blieb aber doch, so muthig sie auch immer sein mochte, einen Moment auf der Schwelle stehen und blickte scheu in den inneren, öden Raum, auf dem schon die Mondesdämmerung lag, da die Mauern das Licht der schräg fallenden Strahlen abhielten. Aber er war vollkommen leer, kein Hauch regte sich darin, und Rosel, fast selber nur wie ein Schatten, schritt rasch und geräuschlos auf den deutlich erkennbaren Tisch zu, um den herum, durch hineingewehten Samen vielleicht, einige junge Buchenschößlinge Wurzel geschlagen hatten und im Sommer lustig Blätter trieben. Sogar unter dem Tisch hatte sich ein einzelner solcher Trieb herausgearbeitet, und diesen wollte sie nehmen, denn dadurch konnte sie am bestimmtesten den Platz bezeichnen, so daß kein Zweifel möglich blieb.

Rosel trug das Messer, das sie aus der Küche mitgenommen, noch in ihre Schürze gewickelt, und niederkauernd kroch sie unter die Platte, um das zähe Holz leichter abschneiden zu können, als es ihr plötzlich mit einem jähen Schreck in’s Herz stach, denn in dem öden Raum sprach plötzlich eine Menschenstimme und deutlich hörte sie die Worte:

„Er wird nicht mehr hier sein, wir haben ihn zu lange warten lassen.“

Im ersten Moment war es, als ob das sonst so beherzte Mädchen in sich zusammenbrechen wolle, und nur mit Mühe unterdrückte sie einen lauten Angstschrei, der sie dann jedenfalls verrathen hätte. Fast krampfhaft klammerte sie sich an die Säule des Tisches an, der seinen Schatten schützend über sie breitete, und suchte vor allen Dingen die zu erkennen, die hier ihr nächtliches Wesen trieben und keinesfalls eine Ahnung haben konnten, daß sie belauscht wurden. Aber sie sollte nicht lange im Zweifel bleiben. Zwar war sie noch nicht im Stande, die Gestalten deutlich zu unterscheiden, nur daß es zwei Männer waren, die durch dieselbe Pforte den innern Raum betraten, sah sie; da sagte plötzlich eine andere, dritte Stimme, die ihr das Blut stocken machte, denn es war die ihres eigenen Vaters:

„Na, zum Henker auch, wo habt Ihr Beiden Euch denn heut’ Nacht herum getrieben, daß Ihr nicht zur bestimmten Zeit hier sein konntet? Seit neun Uhr hocke ich nun schon hier oben in dem öden Nest, den Fledermäusen und Eulen zur Gesellschaft.“

„Wir konnten nicht früher kommen, Vater,“ erwiderte der Eine der Neugekommenen, ihr eigener Bruder, „gerad’ heute war rein der Teufel in Hellenhof los, und wir hätten jedenfalls Verdacht erregt, wenn wir früher den Platz verließen. Die Stadt schwärmte ordentlich von Menschen und Feuerwerk wurde überall losgebrannt, so daß wir gar keine Straße frei behielten. Ich hab’s mir gedacht, daß Dir die Zeit lang geworden.“

„Wirklich?“ knurrte der Vater wieder, „aber so macht wenigstens, daß Ihr jetzt herunter kommt. Was steht Ihr noch da oben?“

„Ich wollte erst ein Licht anzünden.“

„Ich habe Licht unten. Glaubt Ihr, daß ich die ganze Zeit im Finstern gesessen bin?“

Die beiden Gestalten schritten jetzt der nächsten Wand zu, in welcher sie zu verschwinden schienen; als sie aber die eine Stelle überschritten, auf die durch eine Mauerlücke das Mondenlicht fiel, erkannte Rosel deutlich den jungen Fremden, ihres Bruders Compagnon, für den Franz so oft um Rosel’s Hand angehalten. Was hatten die drei Menschen hier bei Nacht in der alten Ruine so Heimliches zu verrichten, daß sich Franz dazu von Hellenhof fortstehlen mußte? Weshalb scheuten sie das Tageslicht und das Auge der Menschen?

[716] Rosel kauerte noch immer unter dem alten Tische; das Herz schlug ihr, als ob es ihr die Brust zersprengen wolle, und sie wagte nicht, sich zu rühren, aus Furcht entdeckt zu werden. Die Gedanken jagten sich ihr durch’s Hirn, und der erste war jedenfalls den Platz zu fliehen, sobald das unbemerkt geschehen könne, und, so rasch sie ihre Füße trugen, nach Wellheim zurückzukehren. Das sonst so besonnene, charakterfeste Mädchen überließ sich indeß nicht lange diesem ersten, lähmenden Eindruck des Schreckes, und je mehr sie nachdachte, desto mehr schwand die Furcht vor irgend einer ihr selber drohenden Gefahr in der Angst um den Vater selbst.

Wohl kam ihr einmal der Gedanke, ihr Vater könne in Wellheim von ihrem Gang gehört haben und ihr gefolgt sein, aber eben so rasch mußte sie ihn verwerfen, denn hatte sie ihn nicht selber sagen hören, daß er schon seit neun Uhr ihren Bruder und jenen widerlichen Fremden hier vergebens erwarte? Weshalb? Was thaten sie hier im Dunkeln und war es etwas Gutes, das sie da mitsammen ausmachten? Sie fürchtete nein, denn dem fremden unheimlichen Menschen traute sie Alles zu, jedes Verbrechen, das er gewiß mit derselben kalten lächelnden Miene verübt hätte, wie er ihr seine faden Schmeicheleien sagte. Aber was konnten sie hier thun? Sie begriff es nicht; wenn sie nur im Stande gewesen wäre, ihnen zu folgen und sie zu belauschen!

Glücklicher Weise trug sie heute Abend ein dunkles Kleid und Crinolinen waren damals auch noch nicht Sitte, sie konnte sich also leicht in jede Ecke, in jeden dunkeln Winkel schmiegen; aber waren sie denn in der Ruine geblieben? Doch ja, es gab ja nur den einen Aus- und Eingang; sie kannte wenigstens keinen anderen, und dort an der Mauer waren sie verschwunden. Wenn sie ihnen dahin folgte, fand sie vielleicht ihre Spuren. Und wenn sie entdeckt wurde? Aber was konnte ihr von ihrem Vater und Bruder geschehen, war es ja doch nur die Sorge um die beiden ihr theuern Menschen, die sie antrieb, ihnen nachzuforschen.

Sie überlegte auch nicht lange; erst aber mußte sie sich das Zeichen sichern, das ihr in Arms Bereich stand; den kleinen schwanken Schößling schnitt sie ab, aber sie durfte ihn nicht mit sich tragen, das Rauschen seiner Blätter konnte sie verrathen. Sie glitt deshalb zu der schmalen Pforte zurück, legte ihn dort außen an die Seite und schlich dann wieder auf den Zehen zu der Stelle, an welcher sie vorher die Gestalten aus den Augen verloren.

Wie dunkel das hier war und wie feucht und modrig es roch, als ob die Luft aus einem tiefen Erdgewölbe käme! Und war das nicht so? Erinnerte sie sich nicht von früher her, hier ein tiefes Loch gesehen zu haben, das weit hinein in die Erde ging, und vor dem sie sich immer gefürchtet hatte? Wenn sie jetzt hier einen Fehltritt that und hinabstürzte in diese grausenhafte Tiefe! Sie hielt erschreckt inne. Da war es ihr, als ob sie von unten herauf Stimmen höre; sie konnte keinen einzelnen bestimmten Laut unterscheiden, doch es wurde dort unten gesprochen, und es mußte irgend einen Platz geben, auf dem sie ebenfalls dorthin gelangen konnte.

Vorsichtig und so geräuschlos wie möglich fühlte sie sich weiter und ihrer fast unbewußt hielt sie noch immer das Messer in der Hand, wie um sich gegen etwas Schreckliches zu schützen. Da plötzlich fand der tastend vorgestreckte Fuß keinen Grund mehr und an der Stelle niederknieend fühlte sie mit der linken Hand, daß dort etwas tiefer unten ein breiter Stein lag. War das eine Treppe? Vorsichtig trat sie hinab und fühlte sich weiter und Stufe nach Stufe legte sie so zurück, bis sie in der kalten Kellerluft ein Frösteln überlief. Jetzt aber war die Treppe zu Ende und ein schmaler feuchter Gang schien noch weiter hinab zu führen, doch wohin? Eine Strecke war sie ihm noch zitternd gefolgt, jetzt indeß wagte sie sich nicht weiter, denn immer steiler und schlüpfriger wurde der Paß, und sie schützte sich nur dadurch vor dem Ausgleiten daß sie sich rechts und links mit den Händen an den nassen engen Mauern hintastete. Aber der Gang nahm kein Ende. Weiter getraute sie sich nicht; wenn sie nun den Rückweg nicht mehr fand und hier um Hülfe rufen mußte!

Da war es ihr, als ob sie einen schmalen Lichtstrahl an der Wand bemerke. Die Stelle konnte kaum noch drei Schritt von ihr entfernt sein, bis dahin wollte sie noch vordringen, aber weiter nicht; es schnürte ihr das Herz zusammen, daß sie kaum mehr athmen konnte. Wie steil und häßlich das hier nieder ging, und wie tief mußte sie schon unter der Erde sein! Doch jetzt hatte sie die Stelle erreicht, und als sie ihre Hand an die Wand legte, fiel ihr das Licht auf die Finger. Sie bog sich noch etwas weiter vor, um zu sehen, woher es käme, und erkannte plötzlich, daß der Strahl aus einem tiefen Gewölbe herausschimmerte, von dem sie nur eine dünne Mauer schied, aus welcher jedenfalls ein Stein herausgebrochen sein mußte.

Die Breite des Durchbruchs verhinderte aber immer noch, daß sie mehr als den oberen Theil des unterirdischen und jetzt matt erleuchteten Gewölbes erkennen konnte, und erst als sie sich mit den Händen anklammerte und dadurch emporhob, durfte sie einen Blick hinabwerfen. Aber selbst dann begriff sie noch nicht gleich, was da unten vorging, denn sie bemerkte wohl die drei Männer, die an einem Tisch standen, sie sah auch, daß der eine von ihnen, jener Fremde, mit einer Art von Maschine beschäftigt war, die vor ihm stand, allein, was sie trieben, begriff sie nicht und schaute nur neugierig und erstaunt in das Gewölbe hinab. Da unten die Männer schienen eifrig bei ihrer Arbeit und zwar der Fremde und ihr Bruder, während der Vater daneben stand, als ob er etwas erwartete. Jetzt wurde eine große Schraube, wie an einer kleinen Art Weinkelter, aufgedreht und der Fremde nahm dann ein Papier heraus, welches er dem alten Mann hinhielt, der es eine ganze Weile prüfend betrachtete und dann auch das Licht hindurchscheinen ließ. Endlich sagte er, indem er das Blatt dem Sohn hinreichte:

„Die werden ganz vortrefflich, viel besser, als ich erwartete, und ehe sie die herausfinden, können wir unser Schäfchen im Trocknen haben. Sind denn noch viele von den Oesterreichern da?“

„Noch wenigstens zehntausend Gulden,“ erwiderte der Fremde.

„Schade,“ sagte der Alte, „aber wir dürfen keine mehr davon ausgeben, denn sie haben in ganz Deutschland Alarm damit geschlagen und in Holland kennt sie jedes Kind. Die mögen lieber ein paar Jahr liegen, bis der Lärm vorüber ist, nachher kann man’s immer wieder einmal damit versuchen, jetzt wär’s zu gefährlich.“

Der Rosel war es, als ob sie Jemand bei der Kehle habe und würge, so verging ihr der Athem, als ihr die Ahnung dessen kam, was da unten getrieben wurde – Banknotenfälschung, denn sie hatte in ihrem Leben zu viel mit Geld zu thun gehabt, um das nicht rasch zu begreifen und zu fühlen, wie fürchterlich, wie entsetzlich es sei.

„Mit den hessischen Noten,“ lachte der Fremde wieder, „ist es doch famos gegangen, mit denen haben wir das beste Geschäft gemacht.“

„Ja,“ nickte der Alte, „und kein Teufel würde dahinter gekommen sein, wenn der eine Grundstrich am B ein klein wenig stärker gewesen wäre. Sollte sich dem nicht noch nachhelfen lassen?“

„Das geht nicht mehr,“ sagte der Andere kopfschüttelnd, „überdies ist jetzt auch der Verdacht darauf gelenkt, und wir dürfen uns keiner unnöthigen Gefahr aussetzen.“

Rosel hörte und sah nichts weiter, die Hände erschlafften ihr, sie sank in den steilen Weg zurück und kauerte sich dort minutenlang in Angst und bitterem Weh am Boden nieder. Aber hier konnte sie nicht bleiben, konnte das Schreckliche nicht länger mit ansehen, und sich gewaltsam emporraffend kroch sie mehr, als sie ging, den steilen, häßlichen Weg wieder hinauf, bis sie die gefährlichen Stufen erreichte. Auch diese kletterte sie hinan, fühlte ihren Weg zurück und stand kurze Zeit darauf wieder in der kalten, frischen Nachtluft im alten Burghof. Aber sie zögerte hier keinen Augenblick mehr; fort, nur fort von dem entsetzlichen Ort, war der einzige Gedanke, der sie erfüllte und ihr die Kraft gab, ihre Glieder zu gebrauchen. Fast mechanisch griff sie den draußen am Eingang liegenden Zweig auf, kletterte die Steinstufen hinunter und floh dann, so rasch sie ihre Füße trugen, den steilen, rauhen Pfad hinab.

Der Mond war indessen untergegangen und tiefe Nacht lag auf der Erde, doch sie achtete es nicht; ob die Büsche ihr Kleid faßten und zerrissen, ob ihr Fuß strauchelte und die tastenden Hände sich lange an häßlichen Brombeerranken blutig gerissen hatten – was fühlte sie davon? Nur vorwärts, vorwärts strebte sie, bis sie die breite Straße wieder erreichte und jetzt noch einmal scheu und entsetzt den Blick zurückwarf zu der alten Ruine, die das Verbrechen ihres Vaters barg.

Mit dem ebenen, glatten Weg wurde auch ihr Gemüth ruhiger, und während sie langsamer auf demselben hinschritt, [717] suchte sie das Erlebte zu überdenken, zu sichten. Was sollte sie thun? Wie sollte, wie mußte sie handeln? Und Bruno – schaudernd barg sie das Gesicht in den Händen, sie konnte nicht mehr denken. Der Kopf wirbelte und brannte ihr, und ganz zusammengebrochen verfolgte das arme Kind seine einsame, öde Bahn, Sie bemerkte auch kaum, wie sie die Häuser wieder erreichte und nur mechanisch in die bekannte Straße einbog. Wie in einem wüsten Traum schritt sie dahin und öffnete endlich die Thür ihrer eigenen Heimath. Auch von den dort Versammelten sah sie kaum mehr als die undeutlichen Umrisse ihrer Gestalten, und erst oben auf ihrem Zimmer, als sie die Thür verriegelt und sich, wie sie war, in ihren Kleidern auf das Bett geworfen hatte, machte ein lindernder Thränenstrom ihrem gepreßten Herzen Luft.

[729]
4. Die Werbung.

Am nächsten Morgen war Rosel mit Tagesanbruch wieder auf und besorgte ihre Geschäfte wie gewöhnlich – aber wie bleich das sonst so frische Mädchen heute aussah und was für große glänzende und ernste Augen es hatte! Bärbel drückte es fast das Herz ab vor Neugierde, um sie zu fragen, was sie gestern Nacht in der Ruine gesehen – denn gesehen mußte sie etwas haben – aber sie wagte es nicht, obgleich sie sonst auf ganz freundlichem Fuße mit ihrer jungen Herrin stand. Diese kam ihr heute gar so feierlich, so außergewöhnlich vor, daß sie Alles that, was sie ihr nur an den Augen absehen konnte, und ihre Arbeit noch nie im Leben so flink und aufmerksam verrichtet hatte wie heute.

Wie ein Lauffeuer hatte sich indessen das Gerücht in der Stadt verbreitet, die Rosel aus dem Burgverließ sei um Mitternacht in der alten Ruine gewesen und habe dort zum Zeichen ihres Wagnisses einen Zweig aus dem Burghof abgeschnitten. Die jungen Fremden hatten auch richtig ihren Weg dorthin noch vor Tag angetreten und waren schon zum Frühstück mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der abgeschnittene Zweig wirklich unter dem Tisch fehle und das beherzte Mädchen jedenfalls ihre Wette gewonnen habe. Natürlich fanden sie sich auch gleich früh im Burgverließ ein, um das Nähere aus Rosel’s eigenem Mund zu hören, denn das geheimnißvolle Wesen und besonders das bleiche Aussehen des Mädchens von gestern Abend hatte sie nur noch neugieriger gemacht. Doch Rosel ließ sich heut’ Morgen vor keinem Menschen sehen. Um halb neun Uhr aber nahm sie ihr Tuch und schritt, um den offenen Weg über die Straße zu vermeiden, durch den Garten hinaus und einen Pfad entlang, der zu der Hellenhofer Chaussee hinüberführte. Dieser folgte sie wieder, wie gestern Abend, bis der Fußweg rechts nach der Ruine abbog. Dort an den Büschen erwartete sie Bruno.

Der junge Mann sprang ihr freudig entgegen und rief, die Hand nach ihr ausstreckend: „O, wie gut und lieb es von Dir ist, Rosel, daß Du gekommen bist; wie sehnsüchtig habe ich Dich erwartet! – Aber um Gottes willen, Kind, wie bleich siehst Du aus? Bist Du krank, Rosel?“

„Nein, Bruno,“ sagte das arme Mädchen ruhig, indem sie den Kuß duldete, den er ihr auf die Lippen drückte, „mir fehlt nichts – im Körper wenigstens – aber auf dem Herzen liegt mir ’was, recht schwer und bleiern, und nur um Dir das zu sagen, bin ich heraus gekommen.“

„Was hast Du, Herz?“ fragte der junge Mann besorgt, „ist der Vater wieder rauh mit Dir gewesen? O, habe nur noch eine kurze Weile Geduld, denn bald wird Alles gut werden. Gestern Abend erhielt ich noch eine recht freudige Kunde.“

„Nein, Bruno“ unterbrach ihn ruhig das Mädchen. „Der Vater hat wohl gezankt, als er Dich bei mir im Hof gesehen, allein nicht mehr als immer, und das hätt’ ich mir auch nicht sehr zu Herzen genommen, trug ich’s ja für Dich.“

„Meine gute Rosel!“

„Aber was Anderes ist geschehen, Bruno,“ fuhr das Mädchen fast tonlos fort, „etwas Anderes, das ich Dir nicht vertrauen kann und darf, so gern ich’s auch möchte, und das – das mich zwingt, Dir heute – Lebewohl zu sagen für immer –“

„Rosel!“ rief Bruno erschreckt.

„Mißversteh’ mich nicht,“ sagte Rosel, während sie ihm die Hand, die er gefaßt hatte, überließ; „ich habe Dich noch so lieb wie früher – ja vielleicht noch lieber,“ setzte sie leise und kaum hörbar hinzu, „und hätte auch Deinetwegen Alles ertragen, Noth und Sorge mit Lust und Freuden, doch es hat nicht sein sollen – ich darf Dir nicht mehr angehören, und – wenn Du mich ein klein wenig lieb hast – so fragst Du mich nicht einmal weshalb.“

„Aber Rosel,“ sprach Bruno bestürzt, „nicht einmal fragen soll ich, weshalb? wo mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele steht, ja während ich Dir gerade heute mit Jubel entgegenkam, denn ich kann Dir jetzt die frohe Kunde bringen, daß sich meine Aussichten mit Einem Schlage gebessert haben. Gestern Abend noch, als ich Dich zuletzt sprach, war mir das Herz zum Brechen schwer, und ich machte mir sogar selber Vorwürfe, Dein Geschick an das eines Armen fesseln zu wollen, der, ohne Vermögen, nicht einmal einen Platz hatte, wo er sein noch so kümmerliches Brod verdienen konnte. Das hat sich jetzt wunderbar rasch geändert, und wie ein Unheil selten allein kommt und immer noch andere im Gefolge mit sich bringt, so ist es ja auch gewöhnlich mit dem Glück. Als ich Dich gestern verließ und mir wieder und wieder ausmalen mußte, wie trostlos meine Aussichten im Leben seien, war mir so weh zu Muthe, daß ich viel lieber in den Rhein gesprungen wäre, um dem Elend mit einem Mal ein Ende zu machen. Aber wenn die Noth am größten, ist auch die Hülfe am nächsten, und wie ich endlich nach Hause und zu meiner Mutter zurückkehrte, fand ich einen großen, mit einem Dienstsiegel verschlossenen Brief vor, in dem mir angezeigt wurde, daß ich endlich meine Beförderung zum Actuar am hiesigen Criminalgericht erhalten habe.“

[730] „Beim Criminalgericht!“ stöhnte Rosel und zog erschreckt ihre Hand aus der seinen.

„Nun, Herz, darüber hast Du doch nicht zu erschrecken,“ lachte der junge Mann, „denn es sichert ja unsere ganze Zukunft; aber das nicht allein – meine Mutter hatte am nämlichen Tage auch gute Kunde über einen in unserer Familie schon seit langen, langen Jahren geführten Proceß erhalten, der ein kleines Vermögen betrifft und bis dahin unsere sämmtlichen Mittel fast aufgezehrt hat. Jetzt sind wichtige Dokumente aufgefunden worden, die unser Recht ganz außer Zweifel stellen und eine für uns günstige Entscheidung bald, recht bald hoffen lassen. Die Einwendungen, die Dein Vater bis jetzt also gegen unsere Verbindung – und vielleicht mit Recht – geltend machen konnte, fallen nun ganz, und schon in kurzer Zeit hoffe ich Dich heimzuführen, mein süßes, liebes Kind. Aber stehe nicht so todt und traurig bei der frohen Kunde da, mein Rosel; mir schnürt es sonst das Herz zusammen. Was hast Du nur, Mädchen? Du siehst mich ja so scharf und forschend an, als ob ich Dir plötzlich ganz fremd geworden wäre – oder Du am Ende gar meinen Worten nicht glaubtest. Hab’ ich Dich je belogen, Rosel?“

„Nein,“ hauchte das Mädchen, indem es plötzlich, wie scheu, den Kopf abwandte, „Dir glaub’ ich schon Alles, was Du sagst – Alles, denn Du bist gut und brav und ich – will zu Gott beten, daß er Dich einst so glücklich macht, wie Du es verdienst –“

„Und liegt das nicht in Deiner eigenen Hand, mein Herz?“ sagte der junge Mann, indem er sie lächelnd an sich zog. „Sieh’ mir nur wieder so froh und vertrauensvoll in’s Auge, wie Du es früher in schwererer Zeit gethan, und ich verlange ja nicht mehr vom lieben Gott, denn er hat mir da seinen Himmel schon auf der Erde gegeben.“

Rosel litt, daß er sie an sich preßte, ja sie lehnte selbst ihr Haupt wie müde an seine Schulter – aber es war nur ein Moment; dann wand sie sich wieder, nicht hastig, aber entschlossen, aus seinem Arm, und ihm voll in’s Auge sehend, während in dem ihrigen eine große Thräne glänzte und es vollständig füllte, sagte sie ernst: „Und doch muß es sein, Bruno; doch muß ich heute – jetzt – für immer von Dir Abschied nehmen und kann Dir nicht angehören.“

„Rosel, sprich nicht so!“ rief Bruno ängstlich. „Deine Worte klingen wie aus einem Traume heraus – so fremd und kalt, als ob sie gar nicht aus Deiner eigenen Seele kämen, und Dein Blick hat dabei etwas so Eisiges, daß er mir bis in’s innerste Mark hinein schneidet. Was ist denn seit gestern Abend so Entsetzliches geschehen, daß Du in den paar Stunden wie verwandelt bist? Hättest Du doch endlich den Plänen Deines Bruders nachgegeben?“

„Den Plänen meines Bruders?“ rief das Mädchen voller Verwirrung.

„Der Dir die Verbindung mit seinem Compagnon, dem jungen arroganten Menschen, aufnöthigte?“

„Eine Verbindung mit dem?“ sagte Rosel schaudernd, „eher springe ich selber in den Rhein.“

„Aber was sonst kann Dich so bewegt, so Deinen ganzen Sinn geändert haben?“

„Frage mich nicht, Bruno, frage mich nicht meinet-, nein auch Deinetwegen. Ich darf und kann Dir die Gründe nicht, angeben, die mich zwingen, so und nicht anders zu handeln, wenn ich auch darum selber elend werden müßte. Nur Eines glaube mir: so treu wie ich Dir jetzt bin und immer war, so treu will ich Dir ewig bleiben, aber – ich werde nie heirathen. Was ich zu tragen habe, es soll allein geschehen, und nun leb’ wohl, Bruno. Halte mich nicht zurück; ein längeres Zusammensein mit Dir könnte mich wahnsinnig machen und zur Verzweiflung treiben, denn schon jetzt fühle ich es, wie die verrätherischen Worte nach den Lippen drängen. Leb’ wohl – schütze Dich Gott!“ Sie warf sich an seine Brust, umschlang ihn mit ihren Armen und preßte heiße Küsse auf seine Lippen; dann riß sie sich los von ihm – gewaltsam, als er sie noch länger festhalten wollte, und floh wie ein gescheuchtes Reh den Pfad hinab, der auf die Straße führte.

Bruno’s erster Gedanke war freilich, ihr zu folgen, aber aus den Büschen heraus erkannte er unten auf der Straße Menschen – was mußten die denken, wenn er hinter dem fliehenden Mädchen her geeilt wäre! Das Beste war, ihr Zeit zu lassen, daß sie die Stadt wieder allein erreichte, doch Abschied auf Lebenszeit hatte er nicht von ihr genommen und heute selber wollte er ihren Vater aufsuchen und ihm seine verbesserten Lebensaussichten vorlegen, denn von ihm ging – wie er nicht anders glauben konnte – jedenfalls der plötzliche Widerstand des Mädchens aus.

Langsam stieg er indessen zu der lange nicht besuchten Ruine empor; die frische Luft da oben that ihm wohl und lange lag er dort unter der epheuumrankten Mauer und schaute träumend hinab auf das friedliche Bild der kleinen Stadt, die mit ihren altersgrauen Dächern und rauchenden Schornsteinen zu seinen Füßen lag. Allein es ließ ihm keine Ruhe, denn nicht freundliche Gedanken waren es, die durch seine Seele zogen. Rosel – was um Gotteswillen konnte dem sonst so charakterfesten Mädchen durch den Sinn gefahren sein, daß es plötzlich über Nacht solche Idee gefaßt und sich und ihn unglücklich machen wollte?

Er stand auf und wanderte durch das alte Gemäuer, um der Gedanken ledig zu werden, aber es gelang ihm nicht. Selbst die steile, gefährliche Treppe kletterte er hinauf – vergebens. Aus der ganzen prachtvollen Aussicht heraus suchte und fand er nur das eine Haus, in dem sie wohnte, und seufzend stieg er die Stufen wieder hinab, um nach der eigenen Heimath zurückzukehren.

Rosel hatte inzwischen lange die Stadt erreicht und hörte, als sie das Haus, das sie auf demselben Wege wieder betrat, auf welchem sie es verlassen, daß ihr Vater auf sei und schon nach ihr gefragt habe. Er war in der Schenkstube gewesen, wo er von den zahlreich versammelten Gästen das nächtliche Abenteuer seiner Tochter erfuhr, und Bärbel flüsterte ihr, wie sie nur die Küche betrat, leise zu, sie möge sich vor dem Vater in Acht nehmen, der sei ‚fuchswild‘ geworden, als er von ihrem nächtlichen Spaziergange gehört.

„Es wird nicht so arg sein,“ hatte Rosel ruhig gesagt, während sie langsam die Treppe hinauf und in ihr Zimmer stieg, um sich das etwas wirr gewordene Haar frisch zu ordnen.

Kaum war sie damit zu Ende, als sie ein Geräusch an ihrer Thür hörte, und wie sie sich danach umdrehte, stand ihr Vater auf der Schwelle und sagte finster:

„Höre, Rosel, was hast Du denn die Nacht für dumme Streiche gemacht, he? Was soll denn das heißen? Schickt sich das für ein ehrbares und gesittetes Mädchen, wie Deine Mutter Dich, wie ich Dich erzogen habe?“

„Ich, Vater?“ sagte Rosel und sah den Mann fest und starr an.

„Ja, Du!“ sagte der Vater noch immer störrisch, aber ein eigenes, unbehagliches Gefühl beschlich ihn bei dem starren Blick. „Bist Du nicht bei Nacht allein in den alten Burghof der Wildenfels gelaufen?“

„Ja, Vater,“ sagte Rosel ruhig, „ich war oben.“

„Und wann?“

„In der Nacht, Vater.“

„Aber zu welcher Stunde?“

„Bleibt sich das nicht gleich?“

„Hm, ja, aber weshalb willst Du’s nicht sagen?“

„Ich will’s schon sagen, Vater. Es schlug gerade hier drunten in Wellheim zwölf Uhr, als ich die letzten steinernen Stufen hinaufstieg.“

„Und blos ’um einen Zweig abzuschneiden,“ rief der Vater erbost aus; „es ist wirklich zu toll für ein junges Mädchen, bei Nacht den einsamen, öden Weg zu machen.“

„Ich war nicht allein, Vater,“ sagte Rosel, ohne noch ihren Blick von ihm zu wenden, an dem der seine ebenfalls wie gebannt hing.

„Nicht allein?“ rief der Vater schnell, „und wer war bei Dir?“

„Gott,“ sagte das Mädchen, und ein schwerer Seufzer entrang sich dabei ihrer Brust.

„Schnack,“ rief der Alte unwirsch und blickte scheu zur Seite, „das heißt den Uebermuth auf’s Höchste getrieben, und wie leicht hättest Du ein Unglück nehmen können!“

„Auf der alten Burg, Vater?“ lächelte Rosel, aber die Worte klangen so unheimlich und der Vater, der sich vorgenommen haben mochte, sie tüchtig auszuzanken, wandte seinen Aerger einer anderen Seite zu.

[731] „Der alte Narr, der Bäckermeister, hätte auch ’was Gescheidteres thun können als Dich da hinauf zu hetzen; aber ich habe ihm meine Meinung schon gesagt. Und der Registrator war gleichfalls dabei und hat’s gelitten?“

„Er konnt’ es nicht hindern.“

„Und weshalb haben sie mich nicht geweckt?“ rief der Alte, „ich hätt’s gehindert, das sei versichert.“

„Du schliefst schon so lange, Vater,“ sagte das junge Mädchen und sah ihn dabei wieder mit ihrem stechenden Blick an, „daß sie Dich gewiß nicht stören wollten.“

Paul Jochus blickte eine Weile vor sich nieder, er wollte noch etwas sagen, das war gewiß, aber er brachte es nicht über die Lippen, und sich plötzlich auf seinen Hacken herumdrehend, verließ er das Zimmer und warf die Thür in’s Schloß, daß die Scheiben klirrten.

Rosel kam den ganzen Tag über nicht in die Wirthsstube, so oft die Gäste auch nach ihr frugen, und der Vater ließ sie auch still gewähren; es war ihm selber recht, daß sie dem neugierigen Volk keine Rede stand. Er selber aber war desto geschäftiger heute in dem Raum, in dem er sich sonst nur dann und wann blicken ließ, und bediente seine Gäste auf das Sorgsamste. Ueber Mittag war die Stube ziemlich leer geworden und Paul Jochus hatte eben seine Mahlzeit an einem der Tische allein verzehrt und seinen Schoppen Wein dazu getrunken, als Bruno von der Haide in’s Zimmer trat und, auf den Wirth zugehend, ihn um eine kurze Unterredung unter vier Augen bat.

„Mein lieber Herr Von,“ sagte Jochus finster, ohne von seinem Platz aufzustehen, „ich glaube, wir können uns Beide die Mühe sparen, denn ich weiß wahrscheinlich schon, was Ihr Begehr ist.“

„Möglich, Herr Jochus,“ sagte der junge Mann ernst, „aber doch vielleicht nicht ganz. Es hat sich nämlich so viel in meinen Verhältnissen geändert, daß eine Verständigung dringend geboten ist; ich bitte Sie nur um wenige Minuten Gehör und die Entscheidung ist dann immer noch in Ihre Hand gegeben.“

Jochus schüttelte den Kopf. Es lag ihm indessen selbst daran, den ihm lästig werdenden Bewerber abzufertigen, was er hier, in offener Wirthsstube, nicht gut thun konnte; darum stand er auf, trank den Rest seines Weines aus und sagte:

„Na, so kommen Sie meinetwegen. Da drüben in der Stube sind wir ungestört, aber ich muß Sie von vorn herein bitten, es kurz zu machen. Sie sollen dann auch nicht lange auf meine Antwort zu warten brauchen.“

Damit ging er, von dem jungen Mann gefolgt, hinüber in die „gute Stube“ und Bruno theilte ihm hier mit wenigen Worten nicht allein die Aussicht auf das bald zu erlangende Vermögen mit, wozu der alte Jochus ungläubig lächelnd den Kopf schüttelte, sondern auch seine gestern erhaltene Bestätigung als wirklicher Actuar beim hiesigen Criminalgericht, ein Posten, der allerdings noch immer wenig genug Gehalt einbrachte, doch eine sichere Staatscarrière in Aussicht stellte und dabei genügte, mit mäßigen Ansprüchen eine Frau zu ernähren.

Das spöttische Lächeln hatte sich aus dem Gesicht des Wirths verloren, als ihm der junge Mann den Beruf nannte, dem er von jetzt ab angehören würde, und er sagte, freundlicher, als er bis dahin noch je mit ihm gesprochen:

„Ei, sieh’ einmal an, Actuar beim Criminalgericht, also doch eine feste Stellung und nicht mehr das ewige Herumvagabundiren – und die Rosel ist Ihnen wirklich gut?“

Bruno seufzte recht aus vollem Herzen auf und sagte scheu:

„Bis gestern Abend noch war ich von ihrer innigen Liebe überzeugt, und glücklich in dem Gedanken, heute Morgen aber –“

„Heute Morgen? Wo haben Sie denn das Mädel heute Morgen schon gesprochen?“

„Sein Sie mir nicht böse, Herr Jochus, und auch der Rosel nicht, daß wir hinter Ihrem Rücken gehandelt, aber ich – ich mußte sie sprechen, ich mußte ihr sagen, was mir auf dem Herzen lag, und da – haben wir uns heute Morgen, um neun Uhr, es war schon heller lichter Tag und viele Menschen auf der Straße – am alten Burgweg gefunden.“

„Am alten Burgweg – so?“ sagte der Wirth, „und was meinte die Rosel da?“

„Sie war ganz verändert; sie sah todtenbleich aus und die Augen lagen ihr tief in den Höhlen.“

„Sie wissen, was das tolle Mädchen die Nacht für einen Streich gespielt hat?“

„Ich weiß es, jetzt wenigstens, heute Morgen noch nicht, oder ich würde sie darum gefragt haben, doch das kann sie nicht so aufgeregt haben, sie hätte mir es sonst gewiß gestanden.“

„Und was sagte sie weiter?“ frug der Wirth, aufmerksam werdend.

„Daß sie mir nicht mehr angehören könne und daß wir uns auf Nimmerwiedersehen trennen müssen.“

„Hm, und hatten Sie ihr vorher von Ihrer festen Anstellung gesagt?“

„Alles, aber ich konnte mir ihr sonderbares Benehmen nicht erklären, sie erschrak vielmehr darüber, als daß sie sich gefreut hätte.“

„Sie erschrak?“

„Ich kann mich getäuscht haben, jedenfalls befand sie sich in einer fürchterlichen Aufregung und versicherte mir dabei unter heißen Thränen, daß sie mir die Ursache ihres Betragens nicht erklären könne und dürfe.“

„Nicht dürfe – hm,“ brummte Jochus, „das ist allerdings wunderbar, und gestern Abend sagte sie nichts davon?“

„Keine Silbe, sie war ganz Liebe und Vertrauen und tröstete mich selber auf die Zukunft, der wir fröhlich entgegenharren müßten.“

Der Wirth ging zur Thür, öffnete sie halb und rief nach Bärbel, der er den Auftrag gab, Rosel herunter zu schicken, der Herr von Haide sei da. Indessen stand Bruno am Fenster und starrte hinaus, während der Wirth mit untergeschlagenen Armen im Zimmer auf und ab ging. Jedoch das Mädel kam nicht wieder und den Beiden wurde die Zeit lang. Endlich, als der Wirth schon noch einmal nach ihr rufen wollte, steckte die Bärbel den Kopf in die Thür und sagte: „Sie will nicht,“ drückte sie dann in’s Schloß und ging wieder an ihre Arbeit.

„Sie will nicht?“ wiederholte Paul Jochus erstaunt und blieb mitten in der Stube stehen.

Bruno hatte sich rasch umgeblickt, als sich die Thür öffnete; jetzt seufzte er aus tiefster Brust und flüsterte:

„Ich habe es fast gedacht – Gott nur weiß, was sie plötzlich gegen mich eingenommen haben kann – ich begreife es nicht.“

„Und hat sie Ihnen gar keinen Grund angegeben?“ frug der Wirth plötzlich und blieb vor dem jungen Mann stehen, „besinnen Sie sich einmal, gar keinen Wink nach irgend einer Richtung?“

„Keinen,“ sagte dieser kopfschüttelnd, „keinen wenigstens, den ich verstanden habe oder verstehen konnte, denn ihre Worte klangen dunkel und unheimlich; sie könnte und dürfte mir nicht mehr sagen, als daß wir scheiden müssen – scheiden für immer – das war Alles.“

„Hm,“ brummte Jochus, dessen Gesicht eine düstere Färbung angenommen hatte, mit festzusammengezogenen Brauen, „weiß der Henker, was dem Mädchen durch den Kopf gefahren sein kann, denn eigenwillig ist sie, wie der helle Teufel, und man hat oft seine liebe Noth mit ihr. Aber lassen Sie mich mit ihr reden, Herr von Haide – und ich denke, wenn Sie die Anstellung bekommen – wir wollen einmal sehen, es macht sich ja doch vielleicht noch Alles, und das Mädel vergißt vielleicht bis dahin auch die Grillen.“

„Wenn wir sie nur jetzt bewegen könnten, mich noch einmal anzuhören!“

„Jetzt ist nichts zu machen,“ sagte Jochus kopfschüttelnd, „erst muß ich selber noch einmal mit ihr sprechen. Sie kommen dann vielleicht einmal wieder vor oder ich schicke auch zu Ihnen hinüber.“

„Sollte es nicht am Ende doch mit ihrem nächtlichen Gang in Verbindung stehen?“ warf Bruno ein; „ich würde mir gar nichts weiter darüber gedacht haben, aber –“

„Ach was,“ lachte der Alte, doch das Lachen klang etwas erzwungen, „sie ist ja keiner Menschenseele unterwegs begegnet, na, und daß ihr kein Gespenst erschienen ist, ich dächte, darüber brauchten wir Zwei uns nicht zu beunruhigen. Ein dummer Streich war’s immer, und ich habe ihr auch schon tüchtig den Text darüber gelesen, denn für ein junges Mädel paßt es sich nicht, auf solche Art zu prahlen und bei Nacht und Nebel in der Welt herumzulaufen.“

[732] „Sie hatten sie geneckt,“ sagte der junge Mann, „und bei ihrem Ehrgefühl gepackt; sonst hätte sie’s auch sicher nicht gethan.“

„Nun, es ist jetzt vorbei,“ sagte der Vater, „und nicht mehr zu ändern, geschieht aber hoffentlich nicht wieder.“

„Und Sie wollen mit ihr reden, Herr Jochus?“

„Ich habe es Ihnen versprochen, heute noch, oder wenn es heute nicht gehen sollte, spätestens morgen früh. Wir wollen sehen, was sich thun läßt, ein merkwürdiges Mädel ist’s freilich, mein lieber Herr Actuar, und einen Trotzkopf hat sie, wie keine Zweite.“

„Aber die Rosel ist so gut, so brav!“

„Das ist sie, ja,“ sagte Jochus und sah vor sich auf den Boden nieder, „gerade wie ihre selige Mutter, deren ganzen Charakter sie auch geerbt hat; arme Clara, wenn sie leben geblieben wäre!“

„Ich gehe jetzt, Herr Jochus,“ brach der junge Mann ab, „und überlasse Ihnen das Weitere. Wenn Sie mir aber erlauben, frage ich morgen Abend, falls ich zurück sein sollte, wieder bei Ihnen an, denn ich muß heute noch nach Hellenhof auf das Obergericht und weiß nicht, ob ich bis dahin wieder hier zurück sein kann.“

Der Wirth antwortete ihm nicht; er nickte nur, ganz in seine Gedanken vertieft, leise vor sich hin, ja, er bemerkte kaum, wie der junge Mann das Zimmer und das Haus verließ.


5. Vater und Tochter.

Rosel hielt sich den ganzen Tag auf ihrem Zimmer. Sie sei nicht recht wohl, ließ sie dem Vater sagen, der später noch einmal Bärbel zu ihr hinaufschickte. Gegen Abend kam ein Arbeiter und brachte die beiden großen Orangenstöcke vom Bäckermeister Bollharz. Rosel nahm aber die Stöcke nicht an; sie wollte sie nicht haben und beauftragte den Mann, der sie brachte, sie hinüber zum Registrator zu fahren, der auch ein großer Blumenfreund war. Er sollte nur eine Empfehlung von ihr ausrichten, sie bäte ihn, die Stöcke, ihr zum Andenken, zu behalten.

Paul Jochus hatte indessen keine Ruhe unten im Haus. Bald saß er, ganz gegen seine Gewohnheit, in der Wirthsstube hinter einem Schoppen Wein, bald lief er hinaus zu seiner Kelter, um nach der Arbeit zu sehen. Einmal war er auch sogar schon auf dem Wege nach Hellenhof gewesen, aber wieder umgekehrt, denn das eigenthümliche Benehmen des Mädchens ging ihm im Kopf herum, und er mußte mit ihr sprechen, um endlich zu erfahren, was es eigentlich bedeute.

Hätte er ein gutes Gewissen gehabt, so würde es ihn wohl wenig gekümmert haben, denn er ließ ja sonst Rosel immer ziemlich unbekümmert ihren eigenen Weg gehen, aber so quälten ihn tolle und, wie er sich immer noch einreden wollte, unmögliche Vermuthungen, quälte ihn ein unbestimmter Verdacht, und über den mußte er mit ihr in’s Reine kommen, denn die Gewißheit war immer noch besser als dieser drückende Zweifel, der ihn nicht mehr ruhen und rasten ließ.

Entschlossen kehrte er nach Hause zurück und stieg ohne Weiteres zu Rosel’s Zimmer hinauf, an das er klopfte.

„Wer ist da?“

„Ich bin’s, Rosel, ich muß ein Wort mit Dir sprechen.“

„Mir ist nicht recht wohl, Vater; der Kopf brennt mir so.“

„Ich geh’ gleich wieder fort, aber ich muß Dir etwas sagen.“

Einen Moment war Alles ruhig darin, dann wurde der Riegel zurückgeschoben, und Rosel stand, ihren Vater erwartend, mitten in der Stube.

Sie war völlig angekleidet, hatte auch nicht auf dem Bett gelegen, was vollständig unberührt in dem kleinen Alkoven stand, aber sie sah leichenblaß aus, und die Augen waren ihr noch vom vielen Weinen roth.

Der Vater streckte ihr die Hand entgegen, die sie zögernd nahm, und sagte dann mit weit mehr Herzlichkeit im Ton, als er lange zu ihr gesprochen:

„Was fehlt Dir, Kind? Wenn Du krank bist, weshalb schließt Du Dich ein und lässest nicht Jemanden zu Dir, der Dich pflegen kann?“

„Ich bin nicht krank, Vater.“

„Aber Du sagtest selber, daß Du Kopfschmerzen hättest, und siehst recht blaß und leidend aus. Vielleicht steckt Dir etwas Anderes in den Gliedern, und ich will lieber nach Doctor Bauer hinüberschicken, damit der einmal nachsieht.“

„Nein, Vater,“ sagte das junge Mädchen bestimmt, „das ist nicht nöthig, der Doctor kann mir nicht helfen.“

„Der Doctor kann Dir nicht helfen? – und wer sonst?“

Das Mädchen schwieg und sah scheu vor sich auf den Boden nieder, endlich sagte es so leise, daß die Worte kaum zu dem Ohr des Vaters drangen:

„Kein Mensch kann mir helfen, Vater.“

„Hm! das ist eigenthümlich,“ brummte der Wirth, der nicht recht wußte, was er darauf erwidern sollte. Er nahm seinen Hut ab, den er bis jetzt noch aufbehalten, und stellte ihn auf den Tisch, „kein Mensch kann Dir helfen? das wär’ ja – das wär’ ja was recht Curioses, wenn Einem etwas fehlte, ohne daß man sterbenskrank ist, wobei einem kein Mensch helfen könnte. Darf ich’s denn erfahren, oder weißt Du’s am Ende selber nicht, Rosel, und hast Dir vielleicht irgend eine tolle Schrulle in den Kopf gesetzt?“

Das Mädchen schwieg wieder; es war augenscheinlich, daß sie im Innern mit sich rang, und mit der rechten Hand hielt sie ihr Herz, als ob es ihr weh thäte.

„Ich will Dir was sagen, Rosel,“ fuhr der Vater, dem das Schweigen peinlich wurde, fort, „daß Du den Weg gestern Nacht gemacht, war ein dummer Streich. Du hast Dich dabei erkältet, aus der heißen Stube in die kalte Nachtluft mit Deinem dünnen Kleid und dann nachher noch die Aufregung dazu, dort hinein in das alte, öde Gemäuer zu gehen, von dem so viel Mordgeschichten erzählt werden, das Alles mußte Dich angreifen und das Gescheidteste wäre gewesen, Du hättest Dich gleich zu Bett gelegt und warm zugedeckt und lieber den Tag darin ausgehalten. Aber was ich Dir sagen wollte, heute Mittag war – war der junge Herr Von bei mir, Du weißt schon. Weshalb bist Du nicht herunter gekommen, als ich Dich rufen ließ?“

„Weil ich schon Abschied von ihm genommen habe, Vater,“ sagte leise die Tochter.

„Du hast Abschied von ihm genommen?“ frug der Wirth erstaunt, „aber um Gotteswillen, weshalb denn? Da mag ein Anderer aus dem Mädel klug werden! Gestern Abend noch wart Ihr ein Herz und eine Seele, und heute Morgen –“

„Dazwischen lag die Nacht, Vater!“

„Die Nacht? und was hat er da gethan? Bist Du ihm draußen auf Deinem Wege begegnet?“ frug der Wirth rasch.

[745] Auf die rasche Frage des Vaters, ob Rosel auf dem nächtlichen Wege nach der Burg Bruno begegnet sei, antwortete sie: „Nein, Vater; seit gestern Abend habe ich ihn erst heute Morgen um neun Uhr wieder auf dem Weg gesehen. Aber ich begreife Dich selber nicht. Gestern grolltest Du ihm noch und warst böse, daß ich nur mit ihm gesprochen, und heute scheinst Du Deinen Sinn geändert zu haben. Wie kommt das?“

„Weil ich mein Kind keinem adligen Hungerleider zur Frau geben wollte,“ sagte der Wirth finster. „Die Sache hat sich indessen jetzt geändert und er hat, wenn ich auch für die Geschichte mit der Proceßsache keinen Pfifferling geben möchte, eine feste und anständige Stellung im Leben bekommen. Wärst Du ihm also noch so gut gewesen, wie ich früher glaubte, so –“

„Und weißt Du, Vater, welche Stellung er bekommen hat?“ frug das Mädchen und sah ihren Vater ernst und forschend an.

„Nun, gewiß weiß ich’s,“ erwiderte dieser, durch den Blick fast wieder außer Fassung gebracht.

„Beim Criminalamt.“

„Ja wohl, und wenn er da tüchtig ist, so kann er’s schon rasch vorwärts bringen. Der Gehalt wird freilich nicht so übermäßig hoch sein, aber lieber Gott, wo man erst einmal sieht, daß wirklich eine feste Grundlage da ist, kann man auch schon eher ein wenig nachhelfen.“

„Und weißt Du auch, Vater,“ flüsterte Rosel, indem sie auf ihren Vater zuschritt und ihre Hand auf seinen Arm legte, „daß ich, wenn ich wirklich seine Frau würde, auch kein Geheimniß vor ihm haben dürfte und möchte?“

„Rosel! rief der Vater erschreckt, indem er dem großen, angstvollen Blick seines Kindes kaum zu begegnen wagte, „was sollen all’ die dunklen Reden? heraus mit der Sprache! Du hast etwas auf dem Herzen, und ich will und muß es wissen.“

„Es ist auch vielleicht besser so,“ nickte das arme Mädchen leise vor sich hin, „Du mußt es wirklich wissen, denn nur dann ist noch Hoffnung möglich, wenn überhaupt –“

„Aber was ist Dir nur?“

„So höre, Vater. Kurz vor Mitternacht stieg ich auf die Ruine hinauf, ich sollte zum Zeichen, daß ich oben gewesen, einen der im Burghof selbst ausgetriebenen Schößlinge mit herunter bringen. Ich ging zu dem alten steinernen Tisch, der dort in der Mitte steht, und gerade, als ich darunter kauerte, um meine Aufgabe zu erfüllen, hörte ich plötzlich Stimmen und zwei Männer – mein Bruder und jener fremde Mensch, betraten den innern Raum. Angst und Bestürzung, was sie dahin geführt, ließen mich für einen Augenblick nicht recht zu mir selber kommen, ich wußte nicht gleich, sollte ich vortreten, sollte ich mich verborgen halten –“

„Dein Bruder?“ sagte Paul Jochus wie erstaunt, aber er selber fühlte, daß jeder Blutstropfen sein Antlitz verlassen haben mußte.

„Gleich darauf kamst Du,“ fuhr das Mädchen jetzt in furchtbarer Erregung fort, „ich verstand aus Deinen Worten, daß Du schon lange auf die Beiden gewartet, und dann verschwandet Ihr zusammen hinter der Mauer.“

„Und dann?“ sagte der Vater, doch er wußte kaum, was er sprach, denn seine entsetzlichste Ahnung war zur Wahrheit geworden.

„Dann folgte ich Euch,“ fuhr das Mädchen leise fort und durchlebte in diesem Augenblick noch einmal das ganze Entsetzen jener gräßlichen Stunde, „im Dunkeln tappte ich meine Bahn. Tief im Boden drin hörte ich Stimmen, steile Felsenstufen erreichte ich, die ich niederkletterte, ein abschüssiger schlüpfriger Weg lag vor mir und schon verließ mich der Muth, in dieser Finsterniß weiter vorwärts zu dringen, wo ich jeden Moment in irgend ein grausiges Gewölbe hinabstürzen konnte – da entdeckte ich dicht vor mir an der Wand einen Lichtschimmer, ich wagte mich noch die wenigen Schritte weiter vor und sah dann durch eine Oeffnung, die ein herausgebrochener Stein gelassen. O Vater, Vater, was um des Allerbarmers willen hast Du gethan? Was hab’ ich verschuldet, daß ich das Alles für Euch tragen muß?“

„Ich weiß nicht, wovon Du sprichst, was Du gesehen, gehört haben willst,“ stammelte der Mann. „Thörichtes Kind, die Aufregung in dem alten Gemäuer hat Dir die Besinnung geraubt; wer weiß denn, wen die Lust getrieben, da oben in der alten Burg um Mitternacht herumzuwandeln und Gespenster zu spielen; ich habe in meinem Bett gelegen und der Franz sieht mir wahrhaftig auch nicht so aus, als ob er sich eine Nacht Schlaf abstehlen würde, um da oben in dem alten Gemäuer spazieren zu gehen.“

Rosel sah den Vater einen Augenblick fest und starr an. Konnte sie sich geirrt haben? Wie im Flug schoß der Gedanke durch ihre Seele, aber es war auch nur ein Moment. Im nächsten schon fühlte sie mit furchtbarer Sicherheit die Wahrheit des Geschehenen, und sich in leidenschaftlicher Heftigkeit an des Vaters Brust werfend, rief sie aus:

„Vater, lieber, bester Vater, noch ist es vielleicht Zeit; rette Dich selber, rette Deinen Sohn vor jenem nichtswürdigen Verführer, der Euch in sein Netz gezogen!“

[746] Der Mann hatte fast unbewußt seinen Arm um sie geschlagen und hielt sie fest an sich gepreßt. Sie wollte das Antlitz zu ihm erheben, allein er hinderte es. Nicht jetzt durfte sie ihm in’s Auge sehen, wo Schreck, Angst und Trotz um die Oberherrschaft kämpften. Aber er vermochte es nicht über sich, dem eigenen Kind gegenüber eine wirkliche Schuld einzugestehen, nur Zeit wollte er gewinnen, um sich zu sammeln, um jede Spur einer Ueberraschung aus seinen Zügen zu verwischen, und dann erst, als er wenigstens glaubte, daß ihm das gelungen sei, ließ er sie los und sagte freundlich, ja herzlich:

„Du bist wirklich krank, mein armes Kind, ernstlich krank, und ich muß darauf bestehen, daß Du Dich in Dein Bett legst. Du sprichst wahrhaftig wie in Fieberphantasien.“

Rosel richtete sich auf und sah ihren Vater starr an.

„Also bist Du’s wirklich nicht gewesen, Vater?“ sagte sie dann und ein eisiges Lächeln zuckte um ihre Lippen, „den ich die Nacht oben in der alten Ruine gesehen habe?“

„Aber, liebes Herz, was soll ich Dir das noch zehnmal betheuern,“ sagte der Wirth, „ich habe die ganze Nacht geschlafen.“

„Und der Franz auch nicht?“

„Gewiß nicht, und wenn er oben gewesen wäre, so hätte er doch nie etwas Böses dort im Sinn gehabt.“

„Gott sei Dank!“ sprach das Mädchen mit einem aus tiefstem Herzen heraufgeholten Seufzer, „dann ist eine große Last von meiner Seele genommen und ich kann mir Ruhe vor meinem Gewissen schaffen. Jetzt darf ich auch wieder fröhlich sein und es kann noch Alles gut werden.“ Damit ging sie zu ihrem Kleiderschrank, nahm Hut und Tuch heraus und warf sich das letztere um.

„Und wohin willst Du noch heute Abend, Rosel?“ sagte der Vater scheu.

„Auf’s Criminalamt, Vater,“ sagte ruhig das Mädchen.

„Auf’s Criminalamt?“ rief Jochus erschreckt, „aber der Bruno ist ja noch gar nicht oben und heute erst auf’s Obergericht gegangen. Vor morgen Abend kann er, wie er mir auch sagte, nicht zurück sein.“

„Ich will auch nicht zum Bruno,“ erwiderte das junge Mädchen fest, indem sein Blick wieder den Vater traf, „sondern nur eine Anzeige oben machen, die wichtig genug ist.“

„Eine Anzeige, Rosel?“ frug der Wirth bestürzt.

„Ja, Vater, droben auf der Ruine nämlich treibt eine Bande von Falschmünzern ihr Wesen. Gestern Nachts habe ich sie belauscht und ihre Maschine gesehen und ihre Reden gehört; ich geh’ dann gleich selber mit hinauf und zeig’ ihnen den Platz, wo’s hinabgeht, daß sie gar nicht mehr fehlen können; dort finden sie das ganze Nest.“

„Rosel,“ rief der Vater in Todesangst, „misch’ Dich nicht in solche Geschichten! Was weißt Du von Falschmünzern oder derlei Dingen, und wenn Du auf’s Gericht mit einer solchen Klage kommst, glaubst Du denn nicht, daß es Dich und uns Alle in Ungelegenheiten bringen könnte?“

„Keinen unschuldigen Menschen, Vater, sei versichert,“ sagte das Mädchen ruhig. „Die Verbrecher mögen sich in Acht nehmen, aber uns kann nichts geschehen.“

„Und wenn – wenn Dein Bruder Franz nun doch –“ stotterte der Mann, „in jugendlichem Leichtsinn vielleicht – verführt –“

„Vater!“ schrie Rosel mit einem herzzerreißenden Ton des Jammers.

„Ich sag’ es ja nicht,“ sprach dieser erschreckt, „aber die Möglichkeit liegt doch vor – und Du möchtest doch Deinen eigenen Bruder nicht unglücklich machen wollen?“

„So soll ich nicht gehen?“

„Nimm Dir Zeit,“ sagte Paul Jochus, „auf einen Tag kommt’s ja nicht an, ich will noch heute Abend nach Hellenhof hinüber und mit Franz sprechen; ich kann mir’s nicht denken, aber wir dürfen auch nicht die Möglichkeit außer Acht lassen. Morgen früh sage ich Dir dann Antwort, Rosel. Nicht wahr, bis dahin redest Du mit Niemandem darüber?“

„Nein, Vater,“ erwiderte das junge Mädchen, indem sie ihr Tuch abwarf und wie gebrochen auf einen Stuhl sank. „Ich hätte auch heute zu Niemandem davon geredet,“ setzte sie fast tonlos hinzu, „es war eine leere Drohung, denn ich will – keine Vatermörderin werden.“

„Rosel!“ rief der alte Mann und wollte auf sie zueilen, allein sie streckte abwehrend den Arm gegen ihn aus.

„Laß mich, Vater, laß mich allein mit meinen Gedanken, geh’ zu Franz, geh’, so rasch Dich Deine Füße tragen, und bitt’ ihn um meinet-, um seiner seligen Mutter willen, daß er die Genossenschaft mit jenem Menschen aufgebe.“

Sie hatte das Gesicht mit ihren Händen bedeckt und ihr ganzer Körper zitterte. Der Vater stand vor ihr, er hätte noch so gern zu ihr gesprochen, doch er vermochte es nicht. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und scheu und zerknirscht nahm er seinen Hut und verließ das Zimmer.


6. Die Verabredung.

Paul Jochus eilte wirklich, so rasch ihn seine Füße trugen, nach Hellenhof hinüber, denn was er schon seit heute Morgen im Geheimen befürchtet, war geschehen und es galt nun die Folgen der möglichen Entdeckung von ihren Häuptern abzuwenden. Er traf auch seine beiden Bundesgenossen, den Sohn und dessen Compagnon, zu Hause, aber in anderer Stimmung, als er selber sich befand. Jubelnd sprangen ihm die beiden jungen Männer entgegen, als er das Haus betrat, denn sie hatten ihn schon von oben kommen gesehen und ihm geöffnet, und wie sie nur erst wieder die beiden schweren Riegel vorgeschoben, um von keinem Unberufenen gestört zu werden, führten sie ihn in ihr kleines, abseit gelegenes und nur für besondere Zwecke bestimmtes Arbeitszimmer hinauf. Ja, in ihrer Ausgelassenheit bemerkten sie nicht einmal das niedergeschlagene Wesen des Alten, den sie überhaupt nicht zu Worte kommen ließen.

„Da sieh her, Vater,“ rief Franz ihm entgegen, indem er ihm zwei Fünfundzwanzig-Thalerscheine vorhielt, der eine ist ächt, der andere unächt; nun sage selber, welches der ächte ist.“

„Welches der ächte ist, weiß ich nicht,“ erwiderte der Wirth, während er nur einen flüchtigen Blick auf die Scheine warf, „aber so viel weiß ich, daß wir entdeckt und verrathen sind und auch die letzte Spur unserer Thätigkeit vertilgen müssen, so lange es noch Zeit ist.“

„Alle Teufel!“ rief Brendel, der junge Berliner, aus, indeß Franz den Vater erschreckt anstarrte. „Haben sie einen unserer Unterhändler erwischt? Gewiß den holzköpfigen Meier.“

„Nein,“ sagte der Wirth, „die Polizei weiß zum Glück noch nichts von unserer Arbeit, oder ich hätte vielleicht nicht einmal Gelegenheit bekommen, Euch zu warnen, aber von anderer Seite sind wir beobachtet worden.“

„Von anderer Seite?“ sagte Franz erstaunt. „Das versteh’ ich nicht.“

„Rosel ist hinter unser Geheimniß gekommen.“

„Rosel?“

„Na,“ nickte Brendel, „wenn erst ein Frauenzimmer darum weiß, wär’s freilich Zeit, daß wir einpackten.“

„Aber wie um Gottes willen ist das möglich?“

Paul Jochus erzählte den ihm in der gespanntesten Erwartung zuhörenden jungen Leuten die Erlebnisse der gestrigen Nacht und seine heutige Unterredung mit der Tochter, verschwieg ihnen auch nicht, daß sie die Hand des jungen Adligen ausgeschlagen habe, weil er von jetzt ab beim Criminalamt angestellt sei und sie vor ihrem künftigen Mann kein Geheimniß haben könne und wolle.

„Bah!“ rief Franz verächtlich, „wenn weiter Niemand darum weiß, als Rosel, so hat’s noch keine Gefahr. Daß die uns nicht verräth, ist sicher, und jetzt wahrhaftig können wir die Sache nicht aufgeben, wo wir gerade Alles erreicht haben, was wir wollen. Die Banknoten sind so vorzüglich ausgefallen, daß sie der Finanzminister selber nicht von den ächten unterscheiden sollte. Wir wissen jetzt, daß wir’s machen können, und sollen nun mit diesem Bewußtsein die Flinte in’s Korn werfen, weil meine eigene Schwester Mitwisserin geworden ist? Es wäre reiner Wahnsinn, wenn wir’s thäten.“

„Du kennst die Rosel nicht,“ sagte der Vater ernst, „sie grämt und härmt sich schon jetzt die Seele aus dem Leibe.“

„Aber sie darf uns nicht verrathen,“ rief Franz rasch, „denn sie hat selber die Früchte unserer Arbeit mit genossen, also Theil an dem Betrug genommen. Daß sie deshalb dem langweiligen Jungen, dem Herrn von der Haide, den Laufpaß gegeben, war [747] das Gescheidteste, was sie thun konnte, und wenn sie erst erfährt, daß wir eine Dame aus ihr machen können, wird sie selber mit der Sache einverstanden sein.“

Paul Jochus schüttelte den Kopf; er kannte das Mädchen besser.

„Das wird sie nicht, Franz,“ sagte er entschieden, „ich glaube, sie trüge lieber Hunger und Kummer, als die Mitschuld an etwas Derartigem.“

„Für so dumm hab’ ich sie nicht gehalten,“ sagte Franz verächtlich; „aber es bleibt sich gleich, wie sie darüber denkt, verrathen kann und darf sie uns nicht und wird es auch nicht, wenigstens nicht in der ersten Zeit, denn auf die Länge möchte ich selber keinem Weibermund vertrauen. Haben wir aber nur vierzehn Tage Zeit, so sind wir mit Allem fertig und brauchen nicht mehr zu arbeiten, und dann laß es unsere Sorge sein, uns aus dem Weg zu halten. Hier ist der Absatz der Noten in Masse ja doch nicht so leicht.“

„Wenn wir nur unsere Werkstätte wo anders hin verlegen und sie glauben machen könnten, daß wir es aufgegeben haben.“

„Das geht nicht,“ sagte Franz entschlossen, „und wo fänden wir wohl einen passenderen Platz? Indeß der ausgebrochene Stein muß heute Abend noch ersetzt werden, und würden wir selbst verrathen, so weißt Du doch, daß sie uns da unten nie erwischen könnten, denn den versteckten Ausgang kennt kein Mensch außer uns.“

Der Wirth stand unschlüssig am Tisch und betrachtete fast unbewußt das ihm vorgelegte Falsificat. Es war in der That meisterhaft gearbeitet und er selber nicht im Stande die ächte Note von der unächten zu unterscheiden. Selbst das Papier ließ nichts zu wünschen übrig, und er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie von diesen Noten eine Masse auf den Markt werfen könnten, ehe eine Entdeckung möglich würde. – Und selbst dann – wer wollte wissen oder verrathen, woher es stammte – aber Rosel? Er konnte den Blick nicht vergessen, mit dem sie ihn angesehen – er konnte die Worte nicht aus dem Gedächtniß bringen – „was hab’ ich verschuldet, daß ich das Alles für Euch tragen muß?“ – und er mußte auch des Versprechens gedenken, das er ihrer sterbenden Mutter gegeben.

Sein Blick flog über das betrügerische Papier hin in’s Leere und andere Bilder tauchten vor ihm auf.

„Nun, was sagst Du, Vater?“ frug Franz triumphirend, „kann es etwas Vollendeteres geben? Die österreichischen Noten lassen sich mit diesen gar nicht vergleichen, und doch haben sie drei volle Monate gebraucht, bis sie nur dahinter kamen. Wär’s nicht reine Sünde einen solchen Vortheil aus der Hand zu geben?“

Brendel hatte indessen mit untergeschlagenen Armen und zusammengezogenen Brauen am Fenster gestanden und hinaus gestarrt. Jetzt sagte er finster:

„Ich will Dir etwas sagen, Franz, je länger ich über die Geschichte nachdenke, desto weniger gefällt sie mir. Deine Schwester mag mich nicht leiden, so viel ist sicher – Gott weiß, aus welchem Grunde, denn eine so abschreckende Larve trage ich doch nicht mit mir herum – aber deutlich genug hat sie’s wenigstens gezeigt. Wenn sie also wirklich Jemanden verräth, so bin ich das, und unter den Umständen –“

„Aber sie kann Dich doch nicht allein verrathen, ohne ihren Vater und Bruder mit preiszugeben,“ rief Franz heftig aus, „und beim ewigen Gott, wenn die Dirne wahnsinnig genug wäre, das zu thun –“

„Sie wird Euch nicht geradezu verrathen,“ sagte Brendel finster, „aber es wird auf andere Weise an den Tag kommen, verlaßt Euch darauf.“

„Und ein Vermögen, das vor uns auf dem gedeckten Tische liegt, sollen wir aus reinem Muthwillen mit den Füßen von uns stoßen?“ fuhr Franz auf.

„Vielleicht doch nicht ganz,“ erwiderte Brendel; „wir wissen jetzt, wie die Sache gemacht wird, und haben alles Nöthige dazu; es gilt also nur einen anderen Schauplatz zu suchen, auf dem wir das Begonnene beenden können.“

„Und wie wollen wir alle Instrumente und Pressen transportiren, ohne Verdacht zu erregen? Weißt Du noch, welche Mühe und Arbeit es uns gekostet hat, das Alles heimlich in die Ruine zu schaffen? und viel schwieriger wäre es jetzt, es von da wieder wegzubringen.“

„Das weiß ich Alles und ich wollte lieber, daß die Mamsell – doch es ist Deine Schwester und damit abgemacht – Du kannst es mir übrigens nicht verdenken, daß ich lieber in Amerika oder sonst in einer hübschen Gegend als im Zuchthaus sitze, und das blüht uns, sobald wir erwischt werden.“

„Das hat uns geblüht, solange wir die Arbeit begonnen,“ sagte Franz verächtlich, „aber sei nicht thöricht und folg’ nur dies eine Mal meinem Rath. Rosel hat einen Trotzkopf, ich weiß es, und ist dabei vom Vater so verzogen, daß sie gewöhnlich thut, was sie eben will – sonst wäre sie auch wahrhaftig nicht Nachts zur Ruine hinauf gegangen, aber sie ist auch klug genug, um zu wissen, wie weit sie gehen darf. Was sie nicht sagen will, behält die schon für sich. Der Vater muß jetzt mit ihr sprechen; er mag ihr meinetwegen versichern, wir hätten die Geschichte aufgegeben, brauchten aber etwa vierzehn Tage Zeit, um all’ die Spuren unserer früheren Arbeiten fortzuschaffen und zu vertilgen, wonach wir Beiden dann nach Amerika auswandern würden. Daß sie dann den Mund hält, darauf könnt Ihr Euch verlassen, und bis dahin sind wir mit Allem fertig und haben unser Schäfchen im Trockenen.“

„Das könnte gehen,“ sagte Brendel nachdenkend, „und was meinen Sie dazu, Jochus?“

„Ich glaube, der Franz hat Recht,“ nickte der Wirth, dem die Aussicht auf einen so raschen und reichen Gewinn zu verlockend entgegenwinkte, „darauf vorbereitet ist sie überdies schon, denn ich habe ihr ja gesagt, daß ich nur deshalb zu Dir hinüberginge, Franz, um Dich davon abzubringen.“

„Aber glaubt Ihr auch gewiß, daß wir in vierzehn Tagen mit der ganzen Arbeit fertig werden?“

„Sicher, vielleicht noch früher,“ nickte Brendel, „denn die Nächte werden jetzt von Tag zu Tag länger, und sowie ein wenig rauhes Wetter einsetzt, sind wir dort oben ganz sicher vor Störung.“

„Gut; dabei bleibt’s!“ rief Jochus nach kurzem Besinnen, denn er hatte in dem Forträumen der Werkzeuge jetzt auch eine vollständige Entschuldigung, wenn Rosel seine Abwesenheit von daheim ja noch bemerken sollte, „Sind denn die Vorbereitungen soweit getroffen, daß wir gleich an die Arbeit gehen können?“

„Daran fehlt’s nicht,“ nickte Franz, „verschaffe uns nur noch bis morgen Abend die hier auf dem Zettel bemerkten Gegenstände, die Du dann gleich mit auf die Burg hinaufbringen kannst.“

„Und sollen wir uns also morgen Abend dort wieder treffen?“ frug Brendel, der seine Bedenken nicht vollständig abgeschüttelt zu haben schien.

„Jedenfalls,“ rief Franz, „denn Zeit dürfen wir nun auch nicht mehr versäumen; jede Stunde ist kostbar.“

„Meinetwegen denn,“ gab Brendel seine Zustimmung, „aber so recht behaglich fühle ich mich nicht mehr hier, das kann ich Euch gestehen, und am allerliebsten versucht’ ich mein Glück an einer anderen Stelle. Wenn Ihr’s freilich nicht anders haben wollt, so können wir uns auch einmal ein paar Wochen auf eine Weiberzunge verlassen, denn ändern läßt sich die Sache doch nicht mehr, dann aber hält mich auch nichts mehr in der Nachbarschaft und ich will Gott danken, wenn ich den Rhein erst gesund hinter mir habe.“

„Da geht unser neugebackener Actuar,“ lachte Franz, der einen Blick durch das mit grünem Draht verstellte Fenster geworfen hatte, „wenn der wüßte, was hier gebraut wird, welch’ glänzende Empfehlung könnte er sich damit beim Criminalamt schaffen!“

„Spotte Du auch noch!“ sagte Brendel, während er neben ihn trat – „und wie sich der Lump spreizt, als ob er schon Justizminister wäre! Lauf’ Du mir nur einmal in den Weg, wenn mir die Füße erst nicht mehr gebunden sind!“

„Der thut keinen Schaden,“ lachte Franz, „wenn sie Alle so unschuldig wären, könnten wir uns getrost hier häuslich niederlassen. Ueberhaupt dürfen wir uns über unsere Polizei nicht beklagen; sie scheint wirklich froh zu sein, wenn man sie nur selbst zufrieden läßt.“

Jochus hatte seinen Hut schon wieder genommen, um nach Hause zurückzukehren, aber er blieb noch in der Stube stehen und sah selbst dem vorübergehenden jungen Manne nach, bis dieser oben in der Straße verschwand.

„Hast Du den Zettel, Vater?“

„Ja – ich werde es besorgen. Um wie viel Uhr treffen wir zusammen?“

[748] „Nicht später als neun,“ sagte Franz, „das Papier ist schon oben und wir können dann gleich beginnen. Also sprich mit der Rosel, sag’ ihr meinetwegen, wir wären zu Kreuz gekrochen und versprächen es nicht wieder zu thun,“ lachte er bitter vor sich hin, „es wär’ auch nur erst ein Versuch gewesen – na, Du wirst’s schon machen.“

Paul Jochus erwiderte nichts; das Gute, was noch in ihm lebte, die Erinnerung an Rosel’s verstorbene Mutter, arbeitete noch in ihm, aber die Gier nach Geld war mächtiger und wich keinem Schatten mehr. Er mußte, wie er sich einredete, das Begonnene nun auch durchführen, und während er ohne Abschied das Haus verließ, legte er sich im Geiste schon die Lüge zurecht, mit der er sein eigenes Kind beschwichtigen wollte – nicht um sie zu beruhigen und ihr den Frieden wiederzugeben, sondern um seine eigenen schlechten Handlungen sicher zu stellen und die Entdeckung von sich abzuwenden.

Wie trübe verbrachte indessen die arme Rosel daheim die Zeit! Wie schwer, wie entsetzlich schwer war ihr das Herz heute, wo Alles gerade hätte so gut sein können, wo endlich ihr heißes Gebet erhört worden, wo der Geliebte eine feste Stellung errungen hatte und sie Beide dem Ziele ihrer Wünsche näher waren! Durfte sie jetzt noch daran denken, ihm jemals anzugehören? – Dazu hätte sich die stolze Familie vielleicht herbeigelassen, dem jungen Mann die Verheirathung mit einem braven, unbescholtenen Bürgermädchen zu gestatten. Aber hätte sie es, die Tochter eines Verbrechers, wagen dürfen, in das ehrbare Haus einzutreten, hätte sie wagen dürfen, sich Bruno’s Mutter an das Herz zu legen und ihr den theueren Namen zu geben, der ihre ganze Seele füllte? – nie! Wie eine Ausgestoßene kam sie sich selber vor, so rein von Schuld sie ihr eigenes Herz auch wußte, aber wenn sie auch nichts weiter gesündigt hatte, so war sie doch die stillschweigende Mitwisserin jener furchtbaren Schuld, die in ihrer Brust vergraben bleiben mußte, denn konnte sie den eigenen Vater – den Bruder in’s Zuchthaus liefern?

So verbrachte sie den Abend und horchte auf jeden Schritt im Hause, ob der Vater noch nicht zurückkehre und wenigstens einen Trost bringe, daß ihre Bitten und Thränen – ja die absichtlich darin versteckte Drohung einer Klage, gefruchtet hätten. Noch war es ja vielleicht möglich, Geschehenes ungeschehen zu machen, wenigstens dem rächenden Gesetz gegenüber, wenn sie es auch nie aus dem eigenen Herzen reißen konnte. Sie wollte auch gern, o wie gern, Alles allein geduldig tragen, und nicht klagen und murren, wenn sie nur den Vater und Bruder vor dem Verderben bewahrt und einem ehrlichen Leben zurückgegeben hatte.

Endlich kam der Vater. Er wollte an ihrem Zimmer vorüber in sein eigenes gehen, aber sie ließ ihn nicht. Wie sie ihn draußen hörte, öffnete sie die Thür und sagte ängstlich:

„Wie ist es, Vater, warst Du drüben bei ihm?“

„Ja, Kind.“

„Und hast Du mit ihm gesprochen? o, komm’ herein und erzähle mir Alles, was er geantwortet hat.“

„’s ist Alles gut, Rosel,“ sagte der Wirth, indem er zu ihr in’s Zimmer trat und sie auf die Stirn küßte – er mochte ihr nicht dabei in’s Auge sehen, „ich hab’ mit ihm geredet, er hat’s eingesehen und wir wollen jetzt unser Möglichstes thun, um Alles, was noch von der Sache übrig ist, aus dem Wege zu schaffen. Noch weiß kein Mensch davon, als Du, und soll auch hoffentlich nie Jemand weiter davon erfahren.“

„Und der Fremde, was wird mit ihm?“ sagte Rosel und richtete sich rasch empor, um ihren Vater anzusehen.

„Er – er hat sich mit Franz gezankt,“ log der Vater, „weil er’s noch nicht aufgeben mochte. Als ihm der Junge aber erklärte, daß er mit der Sache nichts weiter zu thun haben wollte, meint’ er, dann ginge er nach Frankreich hinüber und versucht’s auf eigene Hand.“

„Laß ihn, Vater, o laß ihn gehen,“ bat das Mädchen, „sieh, ich will arbeiten, daß mir das Blut unter den Nägeln vorspritzt. Ich kann arbeiten; ich hab’s von Jugend auf getrieben und nichts Anderes in meiner Jugend gelernt. Und wie gern thu’ ich’s,“ setzte sie mit wehmüthigem Lächeln hinzu, indem sie ihr Haupt an seine Brust lehnte, „wenn es dann nur ehrliches Brod ist, was wir essen. Es wird auch gehen, Vater, habe nur guten Muth; Du bist jetzt so gut, Du trinkst nicht mehr und stehst Deinem Geschäft so ordentlich vor, daß Dich alle Menschen d’rum lieb haben, wir müssen uns vielleicht ein Bischen einschränken, aber was thut das? Die Bärbel brauchen wir auch nicht mehr in der Schenkstube, sie ist ein gutes Mädel, aber doch lässig, und man muß ihr fast die halbe Arbeit noch einmal nachmachen, das kann ich auch allein verrichten, und pass’ einmal auf, Deine Gäste sollen sich gewiß nicht beklagen, daß sie langsam bedient würden.“

„Meine gute Rosel,“ sagte der Vater, denn die kindliche Sorgfalt der Tochter stach ihm wie ein Messer in’s Herz und die Scham vor sich selbst trieb ihm das Blut in die Schläfe, „Du bist ein braves Kind, ganz wie Deine selige Mutter, so gut und fromm.“

„O, denk’ recht oft an die selige Mutter, Vater,“ bat das junge Mädchen, sich fester an ihn schmiegend, „recht, recht oft, Du weißt ja, wie lieb sie Dich und mich gehabt und wie schwer ihr das Sterben wurde, weil sie mich zurücklassen mußte und sich so um mich sorgte; denk’ recht oft an sie! willst Du mir das versprechen, Vater?“

„Ja, Rosel, ich will’s,“ flüsterte der Mann und wandte den Kopf ab, denn er fühlte, daß er jetzt ihren Blick nicht ertragen hätte.

„Dann wird auch noch Alles gut werden,“ lächelte das Mädchen unter Thränen vor, „Alles, Du sollst auch nie[WS 1] von mir eine Klage hören. Das verspreche ich Dir, Vater, und Du weißt, daß ich halte, was ich Dir einmal versprochen.“

„Ich weiß es, Rosel – ich weiß es – Du bist so von klein auf gewesen, wie Deine Mutter selig – aber nun laß auch das Weinen sein, Kind. Leg’ Dich jetzt zu Bett und schlaf ordentlich aus, und zeig’ den Leuten morgen wieder ein freundlich und ruhiges Gesicht. Du glaubst gar nicht, wie sie heute nach Dir gefragt und sich um Dich gesorgt haben. Der alte Registrator war drei Mal da, um Dir für die Orangenstöcke zu danken, und der Stadtschreiber selber ist den Mittag eigens darum heraus gekommen, um sich zu erkundigen, ob Dir der Marsch gestern Abend nicht geschadet hätte.“

„Der gute alte Mann!“ sagte Rosel leise, „ja, Vater – morgen geh’ ich wieder in die Wirthschaft hinunter, und sei versichert, mit recht leichtem, fröhlichem Herzen. Es soll mir Niemand ansehen, wie weh mir heute zu Muthe gewesen ist und was für eine schwere Nacht ich gehabt habe. Und gehst Du auch jetzt schlafen?“

„Nein, ’s ist noch zu früh,“ sagte Jochus, „und ich werde noch ein wenig hinunter sehen, denn Bärbel allein möcht’ ich die Stube nicht überlassen. Also gute Nacht, Rosel; die Thür geht so oft unten, ich glaub’, es sind viel Leute da. Schlaf’ wohl, Kind.“ Und mit den Worten küßte er sie noch einmal auf die Stirn und stieg dann die Treppe hinab.

[774]
7. Rosel.

Am nächsten Morgen war Rosel mit dem ersten Hahnenschrei munter. Sie hatte in der That nicht zu viel versprochen, denn Niemand würde ihr angesehen haben, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden getragen – was sie noch still und allein im Herzen trug. Etwaige Fragen nach ihrem Abenteuer suchte sie durch Scherze und Neckereien abzulenken, denn schon die Erinnerung an jene Nacht schnürte ihr noch immer mit einem unheimlichen Gefühl die Brust zusammen, und sie mußte sich oft Gewalt anthun, um das Niemanden merken zu lassen.

So vergingen acht Tage; wohl hatte sie indeß bemerkt, daß der Vater wieder Nachts das Haus verließ, und ihn auch selber deshalb gefragt, sich jedoch vollkommen mit der Antwort begnügt, die er ihr gab: es geschehe nur, um dem Franz zu helfen, Alles dort oben zu beseitigen, was später – wenn es je einmal zufällig entdeckt werden sollte – den geringsten Verdacht erwecken könnte. Noch glücklicher fühlte sie sich aber, als er hinzusetzte, jener Brendel packe nun auch schon seine Sachen zusammen und werde in acht oder spätestens zehn Tagen Hellenhof und das ganze Land verlassen, um nach Frankreich hinüber zu ziehen.

Nur den Menschen erst fort aus ihrer Nachbarschaft, aus [775] dem Verkehr mit ihren nächsten Verwandten, und sie war überzeugt, daß dann noch Alles gut – recht gut werden konnte. Alles? Das arme Mädchen schüttelte traurig mit dem Kopfe. Alles konnte nicht mehr gut werden, denn für sich und ihr Glück sah sie keine Hoffnung. Bruno blieb ihr für immer verloren und schien sich auch selbst bereits in das Unvermeidliche gefügt zu haben, denn sie hatte ihn nicht allein seit jenem Morgen nicht gesehen, sondern wußte auch, daß er während der ganzen Zeit nicht wieder nach Wellheim herüber gekommen war, – aber sie dankte Gott dafür, denn es machte ihr die eigene Entsagung nur so viel leichter. Es war besser so; sie paßte auch nicht in die vornehme Familie, wenn es sich wirklich bestätigte, daß diese durch den Proceß ein Vermögen erworben hatte. So lange er arm gewesen, so lange sie die Aussicht gehabt, daß sie sich selber durch Fleiß und Arbeit im Leben forthelfen konnten, durfte sie den Gedanken hegen, – jetzt aber war das anders geworden, viel besser für ihn, und es schmerzte sie nur, wenn sie sich dachte, daß er sich doch wohl gar zu rasch und leicht in das Unvermeidliche gefunden.

Den einzigen Trost fand sie in der veränderten Stimmung des Vaters, den sie noch nie so heiter und vergnügt gesehen hatte wie jetzt. Er pfiff den ganzen Tag im Hause herum, und wenn sie sich manchmal allein mit ihm befand, streichelte er ihr die Backen und versicherte sie, er würde nun auch nicht mehr lange in dem langweiligen Wellheim bleiben, sondern bald mit ihr in eine große Stadt ziehen und ein Hotel anlegen. Die Preise des Landes seien, wie er hinzusetzte, so bedeutend gestiegen, daß er seine Weinberge jetzt äußerst vortheilhaft verkaufen könne, und den Zeitpunkt wolle er benutzen, denn nach einem recht schlechten Weinjahr sinke auch der Werth des Landes wieder, und so hoch wie jetzt sei er noch nie gewesen.

Fort von Wellheim? – im Anfang hatte der Gedanke etwas Peinliches für sie, sie wußte eigentlich selbst nicht weshalb, aber rasch gewöhnte sie sich hinein und als sie sich Alles überlegte, schien es ihr das Beste, daß sie weit, recht weit von hier fortzögen in ein anderes Land und auch die Erinnerungen, die bösen trüben Gedanken zurückließen am Rheine; ja sie drängte jetzt sogar selbst den Vater, diesen Zeitpunkt zu beschleunigen, draußen in der Welt konnte es vielleicht doch noch besser werden.

Der alte Jochus schien auch wirklich Ernst zu machen, denn er verkaufte schon in dieser Woche einen Theil seiner Weinberge an einen frisch zugezogenen Weinbauer und stand sogar mit diesem im Handel um Haus, Garten und Wirthsgerechtigkeit.

Es waren indessen fast vierzehn Tage seit jener Nacht verflossen und das Wetter schon recht rauh und herbstlich geworden, was den Vater aber nicht verhinderte, sehr häufig nach Hellenhof hinüberzugehen. Einmal war er sogar die Nacht dort geblieben, wie er sagte. In der ganzen langen Zeit hatte sie nichts von Bruno gehört und gesehen; in der Stadt hieß es nur, seine Mutter würde ebenfalls hinüber nach Hellenhof ziehen und hätte sich dort drüben ein sehr hübsches Haus mit einem großen Garten gemiethet; also mußten sich ihre Vermögensverhältnisse doch bedeutend gebessert haben, oder wenigstens bald Aussicht dazu vorhanden sein.

Eines Tages war Rosel hinaus in den Garten gegangen, um sich noch einen hübschen Strauß zu pflücken, ehe es einwinterte, und wollte eben mit ihren Blumen in das Haus zurück, um sie in Wasser zu stellen, als plötzlich – das Blut trat ihr wie mit Einem Schlag zum Herzen zurück – Bruno neben ihr stand – keinen Schritt auf dem Kies des Gartens hatte sie vorher gehört.

„Rosel,“ sagte der junge Mann herzlich, indem er ihr die Hand entgegenstreckte, „bist Du mir bös, daß ich Dich überrascht habe?“

„Bös?“ sagte das Mädchen verwirrt, indem sich ihr Antlitz jetzt blutroth färbte, „bös bin ich Ihnen nicht, Herr von der Haide.“

„Ihnen – Herr von der Haide?“ wiederholte der Gekommene leise und traurig, und das freundliche, ja glückliche Lächeln, mit dem er sie eben noch begrüßt, wich aus seinen Zügen. „Bin ich Dir in den wenigen Wochen so fremd geworden, Rosel, daß Du mich Sie und bei dem kalten Namen nennst?“

Rosel schwieg eine kleine Weile; sie hätte gern gesprochen, aber es ging nicht, die Worte quollen ihr in der Kehle, und sie brachte keinen Laut über die Lippen. Endlich aber wurde sie ihrer Aufregung Herr und sagte leise:

„Es kann nicht anders sein, Herr von der Haide. Sie wissen es doch; ich habe ja auch schon Abschied von Ihnen genommen, und ich hatte geglaubt, Sie würden mir den Schmerz einer zweiten Begegnung ersparen.“

„Ich begreife Dich nicht, Rosel,“ rief Bruno bewegt aus; „wie ich noch verzweifelnd in das Leben und vor mir nur Noth und Entbehrung sah, hieltest Du treu und wacker zu mir, und nichts konnte Dich irre machen.“

„Noth und Entbehrung hätten uns auch nie getrennt,“ sagte das Mädchen scheu und fast lautlos.

„Aber was denn sonst, Herz?“ bat dringend der junge Mann, indem er ihre Hand ergriff, die sie ihm, aber nur widerstrebend ließ, „was, um Gotteswillen ist zwischen uns getreten, wo uns nicht einmal Noth und Entbehrung auseinander reißen konnten? Dein Vater war, als ich ihn das letzte Mal sprach, gut und freundlich gegen mich, und meine Mutter hat mich viel zu lieb, als daß sie, eines alten Vorurtheils wegen, das Glück ihres einzigen Sohnes zerstören sollte. Ich habe auch erst gestern wieder mit ihr über Dich gesprochen und fand zu meiner Freude, daß sie sich, in der Zeit meiner Abwesenheit, näher nach Dir erkundigt und von allen Seiten nur Gutes gehört habe. Ich begreife nicht, was geschehen sein kann, Dein Herz in so kurzer Zeit, ja in wenigen Stunden nur, von mir abzuwenden. Wie soll ich da noch Lust und Liebe zu meinem Beruf haben, wo mir die schönste Hoffnung, die ich daran knüpfte, in der Blüthe geknickt ist?“

Rosel schwieg noch immer – ein schwerer Seufzer nur hob ihre Brust und ganz in Gedanken zupfte sie die Blätter von einigen der Blumen, die sie eben noch mit solcher Sorgfalt gesammelt hatte.

„Ich wäre auch schon lange zu Dir herüber gekommen,“ fuhr der junge Mann bewegt fort, „denn diese Ungewißheit ließ mich nicht ruhen noch rasten, aber es gab gerade in den letzten Wochen so viel auf dem Criminalamt zu thun, daß ich kaum zu Athem gekommen bin. Ja ich mußte sogar, in einem wichtigen Verbrechen, dem wir auf die Spur gekommen sind, mit unserem Assessor eine Reise machen, die mich fast acht Tage von Hellenhof entfernt hielt. Gestern zurückgekehrt, hörte ich zu meinem Schreck, daß Dein Vater im Begriff stehe, Haus und Wirthschaft zu verkaufen und ganz von Wellheim fortzuziehen, und da litt es mich nicht länger. Ich mußte Dich sehen, und wenn ich auch für die Versäumniß vielleicht die ganze Nacht zu arbeiten habe. – Ist es wahr, Rosel – wollt Ihr fort von hier?“

„Ja,“ hauchte das Mädchen, „der Vater will wegziehen – ich weiß selber noch nicht wohin.“

Der junge Mann schwieg und ein bitteres Gefühl zog durch sein Herz, während er still vor sich nieder starrte.

„Ich weiß nicht,“ sagte er nach einer kleinen Weile, „was mir Deine Liebe rauben konnte – ich bin mir selber wenigstens keiner Schuld bewußt, denn nicht mit einem Gedanken habe ich an Dir gesündigt. Ich kann mir auch gar nicht denken, was Du dabei hast, mir den Grund zu verschweigen, denn Du bist sonst immer so wahr und offen gegen mich gewesen, wie ich auch nichts auf der Welt kenne, was ich Dir verschweigen möchte. Aber etwas hat sich zwischen uns gelegt – Gott weiß es, ohne mein Verschulden – und sicherlich auch ohne Deines, Rosel, und nur recht, recht traurig ist es, daß dies zwei Menschen soll für ihr ganzes Leben unglücklich machen.“

„Recht traurig,“ nickte Rosel leise vor sich hin, aber so leise, daß er wohl die Bewegung sah, doch die geflüsterten Worte nicht verstand.

„So sag’ mir nur noch das Eine, Rosel,“ bat Bruno herzlich, „ich will Dich nicht länger quälen, denn ich sehe, daß Dir meine Gegenwart nicht mehr so lieb ist, wie sie es früher war – nur die eine Frage beantworte mir noch – giebt es kein Mittel, durch welches ich das Verlorene wieder gewinnen kann? Ist es so vollständig unmöglich, das Hinderniß, das ich nicht einmal kenne, aus dem Weg zu räumen – soll ich nicht wenigstens hoffen dürfen, daß noch Alles gut werden kann?“

„Nein, Bruno,“ sagte das arme Mädchen tonlos und kopfschüttelnd, „ich habe keine Hoffnung mehr. Um das Eine nur aber bitt’ ich Dich,“ setzte sie fast ängstlich hinzu, als er matt ihre Hand losließ und sich von ihr abwandte, „wenn ich auch einmal fort bin von hier und Du mich nicht mehr siehst, denk’ immer [776] und sei überzeugt, daß die Rosel gut und brav geblieben ist und Dich von Herzen lieb gehabt hat – willst Du mir das versprechen? – und Du darfst’s.“

„Ich will’s Dir versprechen,“ sagte Bruno, indem er ihr noch einmal die Hand reichte. „Und so sollen wir jetzt wirklich Abschied für’s Leben nehmen?“

„Für’s Leben, Bruno,“ sagte Rosel, während ihr ein paar große helle Thränen an den Wangen niederrollten und als Thau auf die Blumen fielen, die sie noch immer in der Hand hielt – „ich hätt’ Dir gern den Schmerz erspart, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber Du hast’s ja selber so haben wollen.“

„Ich kann mir’s noch immer nicht denken,“ nickte der junge Mann betrübt vor sich hin, „es ist mir fortwährend, als ob wir Beide in irgend einem schweren, entsetzlichen Traume lägen und jeden Augenblick daraus erwachen müßten. Und doch ist’s wahr und wirklich! So leb’ denn wohl, Rosel,“ fuhr er fort, indem er einen leisen, kaum fühlbaren Kuß auf ihre Stirn hauchte, „ich will Dir den Abschied nicht schwer machen. Ich geh jetzt fort zu meinem Beruf und hetze, wie die ganze letzte Woche, hinter Raubmördern und Falschmünzern her und liefere die Verbrecher den Gerichten aus. Glückliche Menschen bekomme ich nicht zu sehen, die ich neiden könnte, und da will ich versuchen, ob ich’s wenigstens vergessen mag. – Leb’ wohl, Rosel.“

Rosel war’s, als ob ihr Jemand mit einer eiskalten Hand das Herz zusammenpresse, und hätten Bruno nicht die Augen so voller Thränen gestanden, so mußte er sehen, wie blaß sie plötzlich bei seiner letzten Rede geworden.

„Hinter wem hetzest Du her?“ sagte sie fast tonlos, ohne die Hand loszulassen, die sie noch in der ihren hielt.

„Hinter einer Falschmünzerbande, Rosel,“ antwortete der junge Mann, „von der ich vorgestern selber das Glück hatte, einen der Agenten einzufangen. Ich freute mich damals darüber, weil ich dachte, daß es mir vorwärts helfen würde.“

„Und hat er gestanden?“

„Noch nicht, aber wir haben trotzdem allen Grund zu vermuthen, daß wir das Nest hier in der Nähe finden werden. So will ich denn wieder an meine Arbeit gehen. Lebe wohl, Rosel, und wenn ich Dich noch um Eines bitten darf, so – vergiß mich nicht ganz, denk’ manchmal an den Bruno, der es treu und ehrlich mit Dir gemeint hat und Dich lieben wird, so lange er lebt.“

Wie er noch einmal nach ihrer Hand griff, faßte er eine der Blumen, die aus dem Bouquet gefallen war; er hielt sie fest, und sich dann rasch abwendend, schritt er, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, aus dem Garten.

Rosel war, als er sie verlassen, kaum eines Gedankens fähig, mitten im Weg stehen geblieben; die Blumen fielen aus ihrer Hand auf den Boden nieder, sie merkte es gar nicht. Sie that einen Schritt vorwärts, als ob sie ihm nacheilen möchte; sie wollte rufen, aber sie brachte keinen Laut über die Lippen, und lange, lange schon war er im Gebüsch verschwunden und außer Hörweite, als sie erst wieder die Kraft erlangte, sich zu bewegen.

Mit dieser Kraft kehrte aber auch das Bewußtsein ihrer Lage, das Entsetzliche des über sie hereinbrechenden Unglücks zurück, und Bruno selber, der Mann, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, war der Träger desselben. Aber sie mußte ihren Vater sprechen, mußte ihn warnen und mit flüchtigen Schritten eilte sie in das Haus.

Ihr Vater war noch nicht da und, wie ihr Bärbel sagte, nach Hellenhof gegangen, hatte jedoch gesagt, daß er nicht lange ausbleiben würde. Sie wartete und wartete in peinlicher, verzehrender Ungeduld, doch er kam nicht. Sollte er wieder über Nacht ausbleiben? Der Abend dämmerte schon, indessen sie die einzelnen Minuten gezählt, die noch nie so langsam geschlichen waren, Paul Jochus ließ sich nicht blicken, und jetzt litt es sie nicht länger in dem alten Haus, wo es ihr war, als ob es über ihr zusammenbrechen müsse. Sie warf Hut und Capuze über und eilte den weiten Weg nach Hellenhof hinaus.

Wohl schauderte ihr dabei, wenn sie daran dachte, daß sie auch jenem unheimlichen Fremden begegnen müsse, aber die Angst um den Vater überwog das Alles und fast athemlos erreichte sie, schon lange nach Dunkelwerden, das etwas abgelegene Gartenhaus, das ihr Bruder bewohnte. Kein Licht brannte darin, sie klopfte an die Thür, Niemand antwortete ihr, kein Zeichen, kein Laut verrieth, daß sich ein lebendiges Wesen in der Wohnung befände.

Wo waren sie Alle? In der Ruine? Sie hätte vor Angst und Entsetzen in die Kniee brechen mögen, aber es war keine Zeit, um sich irgend einer Schwäche hinzugeben, und noch einmal klopfte sie, stärker als vorher, und wartete auf Antwort.

Da öffnete sich in dem nächsten kleinen Haus ein Fenster, und eine Stimme rief von dort heraus:

„Da drin ist Niemand zu Haus.“

„Und wo ist der Besitzer?“ frug Rosel zurück, dabei so viel als möglich ihre eigene Stimme verstellend.

„Ja, das soll Unsereins wissen,“ lautete die mürrische Antwort, „wo sich das liederliche Volk herumtreibt! Nach Wellheim zu Wein wahrscheinlich, wohin sie alle Abende gehen, die Gott werden läßt,“ und das Fenster wurde wieder zugeschlagen, denn die Nachtluft war kalt und unfreundlich.

„Jeden Abend!“ nur das eine Wort fand einen Wiederklang in ihrem Herzen. Also waren sie jeden Abend fort, und ihr Vater dann auch nicht in Hellenhof gewesen! Was half es ihr da, wenn sie hier ihre Rückkehr erwarten wollte? Mit schwankenden Schritten machte sie sich auf den Heimweg.

Wohl gab es einen Platz, wo sie fürchtete sie treffen zu können – in der Ruine, und als sie Hellenhof wieder verließ, war sie sich ihrer Absicht noch nicht klar bewußt, ob sie auch das Letzte wagen sollte, sie dort aufzusuchen. In flüchtiger Eile verfolgte sie ihre Bahn, und fast unbewußt lenkte sie, als sie die Abzweigung des Weges erreichte, ihren Fuß der alten Burg zu. Unten am Hügel aber verließ sie ihr Muth. Einmal ja, einmal hatte sie den Schrecken des alten Gemäuers getrotzt, wo sie es nur von den albernen Phantasiegebilden abergläubischer Thoren bevölkert glaubte. Jetzt stiegen entsetzlichere Bilder vor ihrer Seele auf, als der alte Ritter von Wildenfels mit seinem kopflosen Rumpf, Bilder, die ihr das innere Mark gerinnen machten; ihnen Trotz zu bieten, wagte sie nicht.

[790] Scheu, als ob sie den ganzen Spuk des alten Schlosses auf ihren Fährten wüßte, floh Rosel nach der Stadt zurück, mit der freilich schwachen Hoffnung, den Vater dort zu finden. Er war noch nicht zurückgekehrt, und immer noch, als Bärbel und die anderen Dienstleute schon lange in ihren Betten lagen, saß sie lauschend an dem nach dem Garten hinaus führenden Fenster und horchte auf das geringste Geräusch, bis ihr die Augen endlich vor Mattigkeit und Schwäche zufielen.

Und dort im Stuhl, fröstelnd vor Kälte, denn es hatte die Nacht scharf gefroren, erwachte sie, als eben der erste Sonnenstrahl auf die Wipfel der Bäume fiel. Dabei war ihr, als ob gerade eine Thür geschlossen würde. Sie fuhr empor und horchte – tiefe Stille lag auf dem ganzen Haus. War ihr Vater zurückgekehrt? Sie lauschte auf den Gang hinaus, ob sie irgend ein Geräusch hören könne, aber nichts regte sich, nur die draußen hängende Uhr hob aus und schlug Sieben. Sie warf sich ihr Umschlagetuch über die Schultern und trat auf den Gang hinaus. Die Mädchen mußten unten sein; sie konnte Niemanden hören, und vorsichtig schlich sie hinüber zu ihres Vaters Thür.

War er daheim? Leise klopfte sie zum ersten Mal an, und als keine Antwort erfolgte, stärker.

„Wer ist da?“ antwortete die Stimme des alten Jochus. „Bist Du es, Carl? Ich setz’ Dir meine Stiefeln gleich hinaus.“

„Ich bin’s, Vater.“

„Wer?“

„Ich, die Rosel.“

„Die Rosel? Alle Wetter, Mädel, was thust Du denn schon auf und was willst Du? Warte einen Augenblick, ich muß mich erst anziehen; ich mache Dir gleich auf.“

Rosel erwiderte nichts. Fest in ihr Tuch eingewickelt, stand sie draußen auf dem kalten Gang und horchte dem monotonen Ticken der Schwarzwälder Uhr. Es dauerte gar so lange, bis der Vater drin mit seinem Anzug fertig wurde. Jetzt endlich trat Jemand an die Thür, der Riegel wurde zurückgeschoben und Rosel stand auf der Schwelle. Fast unwillkürlich warf sie den Blick im innern Raum umher, vielleicht nur um zu sehen, ob sie allein wären, aber sie sah auch zugleich, daß das Bett des Vaters wohl ineinander gedrückt und die Decke zurückgeschlagen war, als ob es eben verlassen worden, doch das konnte sie nicht täuschen; das Bett war in dieser Nacht nicht berührt und der Vater jedenfalls erst am Morgen – vielleicht eben in diesem Augenblick – von seiner nächtlichen Wanderung zurückgekehrt.

„Aber Rosel,“ sagte Paul Jochus erstaunt, indem er sie kopfschüttelnd betrachtete, „Was hat Dich denn so früh aus den Federn getrieben und weshalb weckst Du mich so zeitig? Ist etwas vorgefallen, oder bist Du selber krank?“

„Nein, Vater,“ sagte Rosel und es wurde ihr schwer, zu sprechen, denn der Athem versetzte ihr die Brust, „ich bin wohl – aber – willst Du mir eine Frage beantworten?“

„Recht gern, Kind,“ entgegnete der Wirth, allein der Blick, der die Tochter dabei traf, strafte die bereitwilligen Worte Lügen, denn er flog scheu und mißtrauisch über sie hin; „was hast Du nur?“

„Du weißt, was ich neulich mit Dir besprochen habe, Vater,“ fuhr Rosel fort, „wie Du mir versprochen hast, daß Du dem Franz helfen wolltest, Alles – dort oben – aus dem Weg zu räumen, daß das unselige Geschäft aufgegeben sei und jener Mensch, den uns des Himmels Zorn hierher gesandt, Hellenhof verlassen wolle. Ist das geschehen?“

„Aber, liebes Herz,“ sagte der Vater mit einem erzwungenen Lachen, „um das zu fragen, hättest Du doch wohl auch noch ein paar Stunden warten können.“

„Ist das geschehen, Vater?“ drängte die Tochter.

„Gewiß ist’s,“ sagte der Mann halb unwillig, „der Brendel ist freilich noch nicht fort; er mußte erst seinen Paß zum Visiren zum französischen Consul schicken, und das hat ihn etwas aufgehalten, doch morgen reist er ab.“

„Und in der Ruine ist keine Spur jenes – jener Arbeit zurückgeblieben?“

„Nein, Kind, Alles glatt und sauber.“

„Gott sei Dank!“ stöhnte Rosel aus voller Brust, „so will ich denn die Angst auch gern umsonst getragen haben.“

„Was hast Du nur, weshalb denn Angst und vor was?“

„Nichts, Vater,“ sagte das Mädchen freundlich, „wenn der Franz die böse Sache aufgegeben hat, so ist Alles gut und es betrifft nicht uns, sondern fremde Menschen.“

„Aber was denn, Kind?“ frug der Wirth, der sich doch nicht ganz sicher fühlen mochte, „so sag’ mir doch, was Du hast und um was Du besorgt warst?“

„Um nichts, Vater, und ich danke dem Himmel, daß es um nichts war.“

„Aber ich bitte Dich darum.“

„Ich möchte nicht gern das Vergangene berühren und Dir weh thun.“

„Du hast mich nun neugierig gemacht, und ein Geheimniß ist’s doch nicht.“

„Ich weiß es nicht, Vater, aber ich glaube es nicht. Der Bruno war gestern Nachmittag wieder hier im Garten –“

„Hm,“ sagte der Wirth, der jetzt die Aufregung des Mädchens zu errathen glaubte, bedeutend beruhigt, „so – und bist Du freundlich mit ihm gewesen?“

„Weshalb soll ich unfreundlich mit ihm sein?“ sagte Rosel traurig. „Er ist brav und gut und wir leiden Beide gleich viel; er wird auch nicht wiederkommen. Es war das letzte Mal.“

„Aber was – was hat denn das mit der Ruine zu thun?“ frug der alte Jochus kopfschüttelnd.

„Er ist jetzt beim Criminalamt, Vater,“ sagte Rosel, doch leise und scheu, „und da – da erwähnte er zufällig, daß sie –“

„Daß sie – was?“ rief Jochus rasch.

„Mir jagte es Anfangs, als ich es hörte, einen Schreck ein,“ sagte das arme Mädchen, „aber so hat das ja nichts mit uns oder mit dem Franz zu thun – sie sind einer Falschmünzerbande auf der Spur und Alles, um was ich Dich bitten wollte, ist: mach’, daß der fremde Mensch, der Brendel, bald von Hellenhof wegkommt, damit der Franz keine Gemeinschaft mehr mit ihm hält.“

[791] Jochus war todtenbleich geworden, die Kniee zitterten ihm und er sank wie gebrochen in einen Stuhl.

„Vater!“ rief Rosel erschreckt und ein furchtbarer, entsetzlicher Verdacht stieg in ihr auf; „Vater, um Gotteswillen, hast Du mir in Allem die Wahrheit gesagt?“

„Was haben sie entdeckt?“ frug der Alte, der sie mit dem linken Arme von sich schob, mit harter, rauher Stimme, „sage mir Alles, Mädel, Du – Du weißt nicht, was davon abhängt.“

Rosel stand vor ihm, starr und thränenlos, sie brauchte keine Frage mehr an ihn zu thun, in diesen angstverzerrten Zügen lag die ganze Schuld und Sünde des Mannes, den sie hätte lieben und verehren sollen, nur zu deutlich vor ihr, und mit jetzt vollkommen ruhiger, aber eiskalter Stimme sagte sie:

„Was ich weiß, ist sehr wenig: einer Falschmünzerbande will man auf die Spur gekommen sein, deren Hauptsitz man hier in der Nähe vermuthet. Einer der Hehler oder Verbreiter ist vorgestern ertappt und verhaftet worden. Er hatte bis jetzt noch nicht gestanden.“

„Verhaftet – wo?“

„Ich weiß es nicht.“

„Durch wen?“

„Durch Herrn von der Haide,“ sagte das Mädchen kalt.

„Teufel!“ knirschte der alte Mann durch die Zähne, aber jetzt war auch keine Zeit mehr, Rücksichten zu nehmen oder etwas zu verheimlichen, was, wie er recht gut wußte, sonnenklar vor dem Auge der Tochter lag, denn ihr Blick ließ sich nicht mehr mißverstehen. Er sprang auf, fuhr rasch und hastig in seinen Rock, griff nach seinem Hut und eilte, ohne der Tochter Lebewohl zu sagen, die Treppe hinab und durch den Garten hinaus auf den Weg nach Hellenhof.


8. Die Entdeckung.

Paul Jochus hatte schon lange das Zimmer verlassen, und Rosel stand noch immer am Fenster, wohin sie getreten, um ihm durch den Garten nachzusehen. Wußte sie doch genau, welchen Weg er nehmen würde und wohin ihn seine hastigen Schritte trugen. Und wie sonderbar war ihr dabei zu Muthe! Sie sah Alles, was um sie her vorging, aber es schien gar nicht zu ihr zu gehören oder mit ihr in Verbindung zu stehen.

Unten im Garten, gerade unter dem Fenster lag das große, prachtvolle Bouquet, das sie gestern noch selber gepflückt, und sie wunderte sich jetzt, was da vorgegangen sein konnte, daß man Jemandem in ihrem Garten Blumen gestreut hätte, ohne daß sie selber davon wisse.

Da ging Bärbel in den Garten, um vom Gemüsebeete etwas Petersilie zu holen. Was hatte die fremde Person, die so wunderbar in einen Regenbogenschein gekleidet war, in ihrem Garten zu thun? Sie wollte das Fenster öffnen, um ihr zuzurufen; allein sie vermochte es nicht mehr. Sie hob den Arm und brach dann, ehe sie nur den Fenstergriff erfassen konnte, lautlos und ohnmächtig, wo sie stand, zusammen.

Dort lag sie wohl eine Stunde lang, bis das Mädchen hinauf kam, um das Zimmer zu reinigen, denn die Thür stand nur angelehnt.

Bärbel schlug jetzt Lärm im Haus, aber Rosel kam rasch wieder zu sich, und es war, als ob sie gerade in dieser Betäubung der Sinne, in dem vollen Vergessen des Geschehenen wieder frische Kräfte gesammelt habe.

Man hatte sie auf ihr Bett getragen und wollte jetzt nach dem Doctor laufen; doch Rosel litt es nicht. Sie fühlte sich wieder vollkommen wohl; nur eine merkwürdige Schwäche sei über sie gekommen, als sie dort drüben im Zimmer habe aufräumen wollen. Das wäre eine Ohnmacht gewesen, weiter nichts und jetzt vorüber. Man sollte nur ihr Fenster ein wenig öffnen, daß die frische kalte Morgenluft herein käme, das würde ihr mehr helfen als alle Doctoren der Welt.

Wie stürmte indessen der sonst so ruhige Wirth, Paul Jochus, auf der Straße hin, die nach Hellenhof führte! Das Entsetzliche, das bis jetzt nur immer als Schreckbild vor seiner Seele gestanden, war geschehen – war endlich eingetroffen, ihre Arbeit verrathen – verrathen im letzten Augenblick, wo sie sich Alle am Ziel ihrer Wünsche und Hoffnungen sahen, und nur der eine Gedanke jagte ihn vorwärts, daß es vielleicht selbst jetzt noch nicht zu spät sei, dem größten Unglück, einem Ertappen auf frischer That, vorzubeugen. Wußte er doch recht gut, wie schwer es sein würde, überzeugende Beweise gegen sie beizubringen, wenn nichts Thatsächliches vorlag, um sie zu überführen.

Die Bauern, die ihm unterwegs begegneten und ihn kannten, blieben in der Straße stehen und sahen ihm erstaunt nach. Was hatte der Mann so zu laufen? War irgendwo ein Unglück geschehen? Einige riefen ihn an, er hörte sie gar nicht, oder achtete wenigstens nicht darauf, – aber er fühlte doch zuletzt, daß er sich, besonders in der Nähe der Stadt, nicht auffällig benehmen dürfe, und mäßigte seine Schritte.

Endlich hatte er die Außengebäude von Hellenhof erreicht und bog hier in einen Seitenweg ab, der nur zwischen Gärten hinführte und ihn, von wenigen Menschen gesehen, zu der Wohnung seines Sohnes bringen konnte. Aber dort lag Alles still; die Bewohner schliefen noch nach ihrer nächtlichen Arbeit, und er mußte eine ganze Weile an der Thür pochen, ehe er die Beiden so weit ermuntert hatte, daß sie ihm öffneten. Wie rasch war jedoch jede Müdigkeit vorüber, als sie die Schreckenskunde hörten, die er brachte! Einer ihrer Helfershelfer entdeckt und verhaftet! Wer und wo? Betraf es auch wirklich sie? Doch sie durften kaum daran zweifeln, denn durch den glücklichen Erfolg, den sie bis jetzt gehabt, übermüthig gemacht, waren sie leichtsinniger vorgegangen, als sie eigentlich gesollt.

Und was nun?

Der Gefangene – wer es auch sein mochte – hatte nach Aussage des Actuars noch nichts gestanden, und es war nicht wahrscheinlich, daß er das so rasch thun würde, denn nur durch standhaftes Leugnen konnte er sich vor Strafe sichern, oder diese doch jedenfalls erleichtern. Allein sie wußten nicht, welche Beweise gegen ihn vorlagen, und konnten das auch nicht erfahren, denn schon eine einfache Frage hätte den Verdacht auf sie lenken müssen. Wie lange Zeit blieb ihnen nun selbst, um nicht allein ihr Product in Sicherheit zu bringen, sondern auch jede Spur zu vertilgen, die einen Verdacht auf sie lenken konnte? Franz meinte, daß sie, was auch geschehen möge, unter jeder Bedingung die Nacht abwarten müßten, Brendel aber, den eine merkwürdige Unruhe erfaßt zu haben schien, drang darauf, auch keine Stunde länger zu versäumen und ohne Weiteres an die Arbeit zu gehen, Zwei Mal wären sie jetzt gewarnt worden, das dritte Mal geschehe es nicht, und vor Abend gedenke er wenigstens, Hellenhof weit genug im Rücken zu haben, um von den Aussagen keines Menschen mehr gefährdet zu werden.

Sie hatten ja auch weiter nichts zu thun, als die schon fertigen und noch in der Ruine liegenden Pakete mit Banknoten in Sicherheit zu bringen und die wenigen noch unvollendeten so weit zu zerstören, daß ein Erkennen des Fabricats daran unmöglich wurde. Alles Andere ließen sie dann stehen und liegen, und wurde es wirklich aufgefunden, nun was that’s? Das Gericht bekam nur den Beweis in die Hände, daß dort ein Vergehen gegen Paragraph So und So des Strafgesetzbuches stattgefunden, wer es aber begangen und wo sich der jetzt befinde, könnte man aus den todten Werkzeugen nie errathen.

Franz sträubte sich noch. Er schlug vor, einen Spaziergang nach verschiedenen Seiten zu machen. Sie wollten sich trennen, um nicht zusammen gesehen zu werden, und sich dann mit der Abenddämmerung oder allenfalls schon Nachmittags in der Ruine treffen. Auf die wenigen Stunden könne es jetzt nicht ankommen, denn liege der geringste Verdacht gegen sie überhaupt vor, so würde man sie wahrlich nicht so lange unbelästigt gelassen haben, sie wären schon jetzt verhaftet worden. Brendel hatte indeß keine Ruhe; er drang mit seiner Meinung zuletzt durch, denn Paul Jochus selber fühlte sich von einer unsagbaren Angst überkommen, die ihm keine Ruhe ließ. Es wurde deshalb besprochen, gleich nach der Ruine aufzubrechen, und Jochus selbst sollte voranschreiten, während die beiden Compagnons indessen im Hause selbst Alles vernichteten, was bei einer Durchsuchung auch nur den geringsten Verdacht gegen sie erwecken oder einen solchen bestätigen könnte. Besonders hatten sie noch einige Probestiche verschiedener Noten im Besitz, die, als jetzt völlig werthlos, augenblicklich im Ofen verbrannt wurden. Ebenso vernichteten sie alle Papierproben, die zu Banknoten hätten benutzt werden können, und legten andere harmlose Arbeiten, die theils ganz, theils halb vollendet waren, [792] absichtlich auf ihren Tischen aus, um einer etwaigen Untersuchung zu zeigen, womit sie beschäftigt wären.

Erst als sie das Alles beendet und sich genau überzeugt hatten, daß nicht das Geringste zurückgeblieben sei, was ihnen hätte gefährlich werden können, verließen sie das Haus, um dem vorangegangenen Wirth auf einem anderen Wege zu folgen, der durch die jetzt verlassenen Weinberge führte. Sie nahmen sich dabei vollkommen Zeit. Jedenfalls würden sie sich mehr beeilt haben, wenn sie die Thätigkeit gesehen hätten, die sich heute Morgen im Criminalamt entwickelte.

[802] Noch gestern Abend hatte man bei dem in Haft genommenen Menschen, der durch des jungen Actuars Umsicht aufgespürt worden, Haussuchung gehalten und in einem Winkel seiner Schlafkammer, unter einem Haufen alter Zeitungen und Papiere, ein kleines, fest zusammengebundenes Paket neuer preußischer Fünfundzwanzigthaler-Scheine gefunden, die augenblicklich durch einen reitenden Boten nach Hellenhof hinübergeschickt wurden. Die Banknoten waren aber so täuschend nachgeahmt, daß sie der Untersuchungsrichter nicht für gefälscht, sondern für gestohlen hielt und die Sache bis zur Geschäftsstunde ruhen ließ, weil um neun Uhr schon ein Verhör für den Inhaftirten angesetzt worden. Da Actuar von der Haide den Menschen, einen Wollhändler aus dem Nassauischen, zu verhören hatte, so ließ ihn sein Vorgesetzter ersuchen, um acht Uhr zu ihm zu kommen, um ihm das jedenfalls gestohlene Gut einzuhändigen.

Der junge Mann erschien und nahm die Banknoten in Empfang; jedoch seinerseits mit dem Verdacht, daß sie es hier weit eher mit einem Fälscher, als einem gemeinen Dieb zu thun hätten, ging er, noch vor dem Verhör, mit einer der Noten zu einem ihm befreundeten Kupferstecher, um dessen Meinung darüber zu hören.

Dieser erklärte beim ersten Anblick die Banknote ebenfalls für echt, holte aber doch eine alte Fünfundzwanzigthaler-Note, die er gerade besaß, hervor und verglich beide mit der Loupe, wonach er bald auf kleine, sonst fast nicht zu bemerkende Mängel aufmerksam wurde. Nach wenigen Minuten schon erklärte er, daß hier ein allerdings meisterhaft gearbeitetes Falsificat vorliege: die Note sei falsch.

Das Verhör sollte nicht lange dauern. Der Wollhändler, der sich in solcher Art durch die bei ihm gefundenen Noten überführt sah, gab nach kurzen Kreuzfragen die Wahrheit der Anklage zu und suchte jetzt nur alle Schuld von sich selber abzuwälzen. Er habe die Noten von einem Freund bekommen, um sie auszugeben, sagte er.

Und wie hieß der Freund, von dem er sie bekommen?

Der Mann zögerte mit der Antwort: er suchte Ausflüchte und nannte zuerst ein paar fremde Namen, aber es half ihm nichts. Er hatte sich schon zu weit verfahren, um noch zurück zu können, und gab endlich eine Person an, bei der das Herz des Untersuchenden stockte – Paul Jochus in Wellheim!

„Paul Jochus?“ rief der junge Actuar entsetzt aus.

„Der Wirth vom Burgverließ,“ bestätigte leise der Gefangene, und der Protokollant eilte, die wichtige Thatsache zu Papier zu bringen.

Einen Augenblick herrschte Todtenstille in dem weiten Verhörzimmer, und nur das Kritzeln der Feder zischelte, wie das Flüstern böser Geister in der Luft. Jetzt hatte der Protokollführer die Aussage niedergeschrieben und sah den Actuar an. Warum zögerte dieser, mit seinen Fragen fortzufahren? Warum schmiedete er das Eisen nicht, so lange es heiß war? Der junge Mann konnte nicht – die Zunge klebte ihm fast am Gaumen, und in wirren, wirbelnden Bildern jagten ihm die Ereignisse des vergangenen Tages an der Seele vorbei.

Deshalb hatte Rosel seine Hand ausgeschlagen, seine Werbung zurückgewiesen! Das war das entsetzliche Geheimniß, das sich zwischen sie gelegt, und seit jener Nacht – ja – seit jener Nacht erst, in der sie auf der Ruine gewesen, und dort – dort mußte sie es erfahren haben!

Endlich ermannte sich der Actuar wieder – er fühlte nur das Eine, daß er seine Pflicht thun müsse, was auch immer die Folgen davon sein mochten; er konnte und wollte sich derselben nicht entziehen. Und Rosel? – sie mochte um das Verbrechen gewußt haben, aber nie hatte sie Theil daran genommen, das fühlte er in jeder Faser seines Herzens; wie unglücklich sie dadurch geworden, davon war er ja selber Zeuge gewesen. Aber andere Gedanken jagten zugleich durch sein Hirn. Wer waren die Helfershelfer, die der Wirth gehabt haben mußte, denn der alte Jochus hatte dies Papier nie selber fabricirt – wer konnten sie anders sein als sein Sohn, der hier in Hellenhof ansässige Graveur, und jener eingewanderte Künstler – der Mensch, der es gewagt hatte, sein Auge zu Rosel zu erheben? Er war von seinem Stuhl aufgestanden und ein paar Mal im Zimmer auf- und abgegangen, dann klingelte er. Einer der Gerichtsdiener kam herein und er flüsterte ihm leise einige Worte zu, worauf der Mann das Zimmer wieder verließ. Jetzt erst setzte der Actuar das Verhör fort, das aber nicht mehr viel Wichtiges ergab, denn der Gefangene schien es für gerathener zu halten, sich so wenig als möglich an der Schuld betheiligt darzustellen, und wollte von keinen weiteren Noten wissen, die er je empfangen und verbreitet habe. Auch ob Paul Jochus, der Wirth, mit irgend wem in Verbindung stehe, wollte er nicht wissen. Er war in Wellheim gewesen, und der Wirth [803] hatte ihm hier das Anerbieten gemacht. Wo der die Noten her habe, könne er nicht sagen. Er wollte oder konnte nichts weiter gestehen und mußte in seine Zelle zurückgeführt werden.

Es war zehn Uhr geworden, als der ausgesandte Bote zurückkehrte und dem Herrn Actuar meldete, die beiden Graveure Franz Jochus und Wilhelm Brendel seien nicht in ihrer Behausung, wohl aber wollte ein Weinbauer vor kaum einer halben Stunde gesehen haben, wie sie draußen von dem Weg nach Wellheim abgebogen und der Wildenfels-Ruine zugeschritten wären.

Jetzt durfte er seinen Verdacht nicht länger zurückhalten und ließ sich bei seinem Vorgesetzten melden, dem er die einzelnen Thatsachen mittheilte, ja selbst seine Neigung zu der Tochter des Paul Jochus nicht verschwieg und seine Befürchtung aussprach, daß jener nächtliche Besuch der Ruine ihr irgend etwas verrathen haben müsse, das sie unglücklich und elend gemacht, denn sie sei von der Zeit an wie umgewandelt gewesen.

Der alte Criminalrichter hörte ihm aufmerksam zu und nickte nur manchmal leise mit dem Kopfe.

„Und was gedenken Sie jetzt zu thun?“ frug er, als der junge Mann schwieg.

„Ich wollte Sie bitten, einen Anderen mit der augenblicklichen Untersuchung der Ruine zu beauftragen; in wenigen Stunden könnte es zu spät sein.“

„Aber es ist nicht möglich, daß die Herren schon irgend welchen Verdacht geschöpft haben. Sie können nicht einmal wissen, daß ihr Bundesgenosse eingebracht ist.“

Der Actuar zögerte mit der Antwort, denn er mußte sich selber dadurch anklagen; er dachte dessen, was er gestern Abend mit Rosel gesprochen. Erst nachträglich war ihm aufgefallen, welchen Antheil sie gerade in dem Augenblick an einer Sache genommen, die ihr doch eigentlich so fern liegen mußte. Wer hätte es der Tochter verdenken wollen, wenn sie den Vater gewarnt, und wenn er jetzt dem Vorgesetzten seine Befürchtung verheimlichte, machte er sich dann nicht zum Mitschuldigen an dem Verbrechen?

Es war ein augenblicklicher Kampf zwischen Liebe und Pflicht, aber die Pflicht siegte, noch dazu, da er nur dadurch hoffen durfte, das ihm theure Mädchen von all’ jenen entsetzlichen Verbindungen zu befreien und dennoch für sich zu gewinnen.

Er erzählte dem Untersuchungsrichter sein gestriges Gespräch mit dem armen Mädchen und verschwieg nichts. Kaum aber hatte er geendet, als der alte Herr sich von seinem Stuhle erhob und rief:

„Sie haben Recht, Herr Actuar, und hier meine Hand, ich verstehe, welche Ueberwindung Ihnen das Geheimniß gekostet haben mag, und verspreche Ihnen auch, daß Sie mit der Sache nichts weiter zu thun haben sollen. Ueberlassen Sie das Andere mir und senden Sie mir nur augenblicklich den Herrn Assessor Schüler herüber. Mit dem werde ich das Weitere besprechen.“

Jetzt entwickelte sich in dem alten Gebäude eine ganz merkwürdige Thätigkeit und es dauerte keine Viertelstunde, so wurden Leute nach allen Seiten ausgeschickt.

Drei berittene Gensd’armen trabten, so rasch ihre Pferde sie bringen konnten, den Weg nach Wellheim; ihnen folgten etwas langsamer drei andere in Begleitung einer kleinen Abtheilung Militär und mehrere Polizeidiener. Assessor Schüler selber mit einem jungen Prakticanten fuhr in einem Einspänner den nämlichen Weg.

Zu gleicher Zeit wurde Polizei nach dem Hause der beiden Graveure Jochus und Brendel gesandt, sie trafen aber noch Niemanden daheim und postirten sich dann, ohne Lärm zu machen, in der Nachbarschaft. Die Gensd’armen waren direct vor das Wirthshaus zum Burgverließ geritten. Rosel stand gerade in der Thür, als sie hielten, und jeder Blutstropfen mußte ihr Antlitz verlassen haben, denn sie sah blaß aus wie eine Leiche. Aber jede Schwäche war auch von ihr gewichen, denn seit heute Morgen wußte sie, was kommen mußte. Daß es etwas früher kam, als sie erwartet haben mochte, konnte sie nicht überraschen. Sie beantwortete die Fragen nach ihrem Vater ruhig und gefaßt; er habe heute Morgen das Haus verlassen und sei noch nicht zurückgekehrt; wo er sich aufhalte, könne sie nicht sagen, vielleicht drüben in Hellenhof, bei ihrem Bruder.

„Thun Sie Ihre Pflicht,“ sagte sie seufzend zu den Gensd’armen, die ihr das Bedauern aussprachen, das Haus besetzen zu müssen, „ich kann’s nicht hindern, und wenn ich’s könnte,“ setzte sie leise und scheu hinzu, „weiß ich nicht einmal, ob ich’s thäte.“

Damit ging sie in ihr Zimmer hinauf, setzte sich an’s Fenster und starrte still und schweigend, doch mit thränenlosen Augen, nach der alten Ruine hinauf, deren halbverfallenen Thurm sie von dort aus deutlich durch die Wipfel der Büsche und Obstbäume unterscheiden konnte.


9. Schluß.

Indessen verfolgten die drei Verbrecher ihre verschiedenen Bahnen, die sie an den Schauplatz ihrer Thätigkeit – und zwar zum letzten Mal – zusammenführen sollten. Anfangs hatten sie sich völlig Zeit genommen und Brendel selber war in einem mäßigen Schritt, doch düster brütend vorwärts gewandert. Aber je länger er sich seinen alten Erinnerungen überließ, desto mehr trieb ihn die Angst vor Entdeckung weiter und zuletzt eilte er in einer solchen Hast vorwärts, daß ihm Franz kaum zu folgen vermochte.

„Zum Teufel,“ rief dieser endlich ärgerlich, „was hetzest Du denn nur so furchtbar heute Morgen? So eilig ist die Geschichte nicht, daß wir uns unnöthiger Weise den Athem aus der Seele laufen sollten.“

„Wir sind Thoren gewesen,“ knirschte Brendel zwischen den Zähnen durch, „daß wir uns so lange Zeit genommen haben, und mir hat geahnt, wie es noch Alles kommen würde.“

„Aber was ist denn eigentlich gekommen?“ rief Franz ärgerlich. „Sie haben irgend Jemanden dabei ertappt, falsche Banknoten auszugeben, das ist Alles, und was wollen sie machen, wenn er nicht gesteht? Indeß wirklich den schlimmsten Fall genommen, daß er gestände, was er weiß, so verräth er doch unser Versteck nicht, das Niemand weiter kennt, als wir selber. Wie ich’s mir unterwegs überlegt habe, glaub’ ich, es wäre am Ende gar das Beste, wir ließen Alles dort oben ruhig, wie es steht, denn kein Mensch denkt an die alte Ruine, um dort Nachsuchung zu halten.“

„Und Deine Schwester kennt unser Geheimniß wohl nicht?“

„Du glaubst doch bei Gott nicht, daß die uns verrathen würde?“

„Ich will wünschen, daß wir uns nicht vom Gegentheil überzeugen,“ brummte Brendel, „aber so viel weiß ich gewiß, nicht eine Viertelstunde vertrau’ ich länger einer Weiberzunge. Macht Ihr, was Ihr wollt, mir kann’s recht sein; schon heut’ Abend jedoch bin ich auf dem Weg zur französischen Grenze.“

Franz hatte, wenn auch im ersten Augenblick durch die Nachricht überrascht, noch nicht so recht an eine wirkliche Entdeckung ihres verbrecherischen Treibens geglaubt, da sie ihm so lange und ungestraft gefolgt waren; durch Brendel’s Angst wurde er jetzt selber mit angstvoll. Die Möglichkeit eines Verraths ließ sich allerdings nicht leugnen, und doppelt schwer würde sie derselbe in einem Augenblicke betroffen haben, wo sie wirklich am Ziel ihrer Wünsche standen und ein bedeutendes Capital meisterhaft gefertigter Noten in ihrem Besitz wußten. Jedenfalls war es deshalb vorsichtig gehandelt, diese wenigstens in Sicherheit zu bringen, vielleicht auch gerathen, sich selber eine kurze Zeit aus dem Weg zu halten, bis man erst gewiß wußte, daß der Sturm vorübergebraust sei. Mit diesen Gedanken beschäftigt, erstieg er schweigend mit dem Gefährten den rauhen, buschbewachsenen Hügel, bis sie den Pfad erreichten, der hinaufführte.

Paul Jochus war noch nicht da, lange ließ er indeß nicht auf sich warten. Kaum hatten sie das Gewölbe betreten, als sie seinen Schritt und gleich darauf sein Zeichen hörten.

„Aber Vater, wo hast Du nur gesteckt?“ rief ihm Franz entgegen, „wir hatten fast noch einmal so weit als Du.“

„Dann müßt Ihr gelaufen sein,“ sagte der Alte mürrisch, „ich hielt mich noch unterwegs auf. Wie ich kaum die Büsche erreicht hatte und ein Stück hinangeklettert war, bis zu der Stelle, wo früher die hölzerne Bank stand und von wo aus man einen Theil der Chaussee übersehen kann, kamen plötzlich drei Gensd’armen im scharfen Trab die Straße gen Wellheim hinunter geritten.“

„Nun – und?“

„Und?“ brummte Jochus, „ich möchte wissen, weshalb die in so verdammter Eile waren und wohin sie wollten.“

„Hast Du’s denn nicht gesehen?“

[804] „Wie konnt’ ich? Weiter ein Stück drunten verdecken die Büsche wieder die Aussicht. So weit ich sie sehen konnte, hielten sie die Straße.“

„Bah,“ sagte Franz verächtlich, „wer weiß, welchem armen Handwerksburschen ohne Wanderbuch sie auf der Fährte sind. Uns geniren sie hier nicht.“

„Etwas ist aber im Wind,“ sagte Brendel finster, „und es war vielleicht die höchste Zeit, daß wir an die Arbeit gingen. Was fangen wir aber mit der Presse an? Verstecken wir sie, wie wir’s früher bestimmt?“

„Gewiß,“ sagte Franz, „das Loch dazu ist ja schon lange gegraben und in einer halben Stunde haben wir Alles aus dem Weg.“

„Und der Kasten?“

„Muß mit hinein. Wir dürfen keine Spur zurücklassen. Theile nur indessen die Noten ab, Brendel, damit Jeder seinen Part bei sich verstecken kann. Du, Vater, hilf ihm und ich werde indessen das Grabgeschäft besorgen. Schade um die schöne Presse, sie muß hier total verrosten, doch es läßt sich eben nicht ändern. Fort dürfen wir sie unter keiner Bedingung schaffen, jetzt wenigstens noch nicht. Vielleicht findet sich im Winter und in den langen Nächten einmal Zeit und Gelegenheit dazu.“

Die drei Leute gingen nun rüstig an die Arbeit, denn es galt nur noch die letzten Spuren zu vertilgen, durch welche sie eine Entdeckung fürchten durften, und dann ihren Raub in Sicherheit zu bringen, ehe irgend ein Verdacht auf sie fallen konnte. Die Presse wurde in eine schon bereit gehaltene breite Grube langsam und vorsichtig hineingelassen, und während sich Brendel mit dem alten Jochus daran machte, die schon in Pakete gesonderten Noten in drei Theile zu scheiden und seinen Theil, so gut das eben ging, an seinem Körper zu verbergen, nahm Franz das kurze, schwere Beil und schlug die Beine von dem eichenen Tisch ab, der ihnen bis jetzt als Arbeitstafel gedient und dessen Heraufschaffen ihnen früher die größte Mühe gemacht. Es ging das nicht ohne Lärm ab und Brendel fühlte sich zuletzt durch das Hämmern so beunruhigt, daß er ärgerlich ausrief:

„Zum Teufel auch, ich wollte, Du hättest das alte Ding hier unten ruhig stehen und verfaulen lassen. Und wenn sie ihn einmal fänden, was läge daran?“

„Wenn sie den Tisch fänden, wüßten sie auch, daß noch mehr hier unten versteckt ist,“ sagte Franz störrisch, „aber seid Ihr denn noch nicht mit dem Abzählen fertig?“

„Gewiß, Deine Noten stecken hier in der Ledertasche.“

„Gut, dann geh’ Du indessen lieber einmal hinauf, Vater, und halte eine Viertelstunde Wacht; indessen machen wir die Geschichte hier fertig und in Ordnung. Laß Dein Paket nur so lange hier unten, es wäre ja doch möglich, daß ein oder der andere Fremde bei dem schönen Wetter hier hinaufkletterte, und sicher ist sicher.“

„’s ist am Ende besser,“ sagte der Alte, „aber halte Dich dazu; wir haben schon eine Menge Zeit verloren und ich muß machen, daß ich wieder nach Wellheim komme.“

Noch während er sprach, verbarg er einen Theil der Pakete, von denen jedes eintausend Thaler enthielt, an seinem Körper, legte dann die anderen unten in eine Ecke, um sie nachher mitzunehmen, und stieg langsam den steilen, schlüpfrigen Pfad hinauf, der in den Burghof hineinführte.

Einmal hielt er erschreckt inne, denn es war ihm fast, als ob er oben ein Geräusch gehört hätte, regungslos stand er und horchte, doch es schien Alles ruhig. Nur hohl und dumpf klangen die Schläge des Beils von unten herauf, mit denen Franz jetzt die Stühle zertrümmerte, um sie ebenfalls in die Grube zu werfen, an der Brendel schon angefangen hatte, sie an der einen Seite auszufüllen. Dicht daneben hatte er noch ein kleines, aber ziemlich tiefes Loch gegraben und in dieses den Rest der noch nicht vollendeten Banknoten mit dem Spaten hinabgestampft; dort unten mochten sie verfaulen, denn wenn sie jetzt ein Feuer anzündeten, so konnte sie vielleicht der aufsteigende Rauch verrathen.

Paul Jochus hatte indessen die steilen Treppenüberreste erreicht, die hinauf in’s Freie führten. Es war ihm wunderbar bänglich zu Muthe und er scheute sich an das Tageslicht hinaufzusteigen. Warum denn? Oft und oft hatte er den Weg gemacht und kannte doch wahrhaftig keine Furcht, es war nur ein sonderbares Gefühl, das ihn beschlich, und immer wieder horchte er auf’s Neue. Aber da unten wurde es ihm zuletzt, als ob er gar keinen Athem mehr holen könne; wie Blei lag es ihm auf der Brust, und er kletterte jetzt rasch die Treppe hinauf, um nur erst einmal an die frische Luft zu kommen.

[821] In das kleine Gewölbe, das Paul Jochus jetzt betrat und das dicht an den Burghof stieß, fiel allerdings die Sonne noch nicht herein, denn die einzige dort eingebrochene Thür lag nach der Nordseite, es war jedoch hell genug darin, um sich umsehen zu können, und er athmete hoch auf, als er keinen Menschen hier erblickte; war es doch fast, als ob er erwartet hätte, hier Jemanden zu finden. Plötzlich aber stieß er einen lauten Angstschrei aus, denn in dem Moment sprangen zwei dunkelgekleidete Gestalten durch die schmale Thür und warfen sich auf ihn. Jeder Flucht- und Widerstandsversuch war unmöglich, weil den Zweien noch Andere folgten. Soldaten sah er ebenfalls mit ihren blitzenden Helmen und Gewehren. Im Nu hatten sie seine Arme gefaßt und ihn an weiterer Flucht verhindert.

„Was wollt Ihr?“ schrie er absichtlich laut, „was habt Ihr vor? Seid Ihr Räuber und Mörder?“

Das Klopfen hatte unten aufgehört, aber immer mehr Menschen drängten in den engen Raum.

„Laternen her!“ rief der Assessor Schüler, der das Ganze leitete, „hier ist der Eingang zu dem Versteck. Klettere einmal Einer mit einer Laterne voran. Ihr Uebrigen breitet Euch oben aus; ich brauche nur vier Mann mit mir, wir wissen nicht, ob der Bau nicht noch eine Nothröhre hat, durch welche die Schufte vielleicht ausfahren könnten. Vorwärts! Ihr kennt Eure Ordre.“

Paul Jochus war ein baumstarker Mann, und in gewöhnlicher Zeit würden vielleicht vier Leute kaum hinreichend gewesen sein, ihn zu überwältigen und zu halten, jetzt konnte ihn fast ein [822] Kind niederwerfen. Er war wie gebrochen, und ließ Alles mit sich geschehen, sträubte sich auch nicht im Geringsten, als man ihm die Hände auf dem Rücken zusammenschnürte und so jeden Fluchtversuch abschnitt.

Da fielen draußen am Hügelhang rasch hintereinander zwei Schüsse, dann war Alles still und nicht einmal die in das Gewölbe Gestiegenen kehrten zurück.


Assessor Schüler kannte das alte Nest, in dem er sich schon als Knabe herumgetummelt, ziemlich genau. Er wußte auch, daß es unterwölbt sei, und war schon als Kind, wo man den Platz noch häufiger besuchte, überall darin umhergekrochen. Lagen auch lange Jahre dazwischen, so erinnerte er sich doch des Terrains noch deutlich genug und traf danach seine Vorsichtsmaßregeln. Es schien ihm nämlich nicht unwahrscheinlich, daß die Verbrecher, wenn sie sich wirklich dort oben sollten eingenistet haben, auch schlau genug gewesen wären, irgend einen ihnen durch die verschiedenen Gänge gebotenen Vortheil zu benutzen; wohin diese auszweigten, wußte er freilich nicht.

Er begnügte sich indeß auch nicht damit, bloß die Burg selber geräuschlos zu ersteigen und zu besetzen, sondern er ließ den ganzen oberen Hügel, auf welchem sie stand, richtig bestellen, wie bei einer Treibjagd, so daß Soldaten mit scharfgeladenen Gewehren immer etwa vierzig Schritt von einander an kleine Lichtungen oder Pfade postirt und einander noch in Sicht waren. Erst als er sich in dieser Hinsicht so viel wie möglich gesichert wußte, folgte er selber den vorangeschickten Polizeidienern und erhielt von diesen schon an der steinernen Treppe die Meldung, daß man einen kellerartigen Eingang, der nach unten führe, entdeckt habe und dort unten ein dumpfes Klopfen hören könne.

Nachdem man sich nun rasch überzeugt hatte, daß dies wirklich der einzige sichtbare Weg sei, der oben von der Burg aus in das Innere führe, wurde derselbe besetzt und der Assessor machte sich gerade selber bereit hinabzusteigen, als sie den Wirth langsam heraufkommen hörten. Seine Gefangennahme erfolgte dann, wie vorher beschrieben, und Assessor Schüler säumte nun keinen Augenblick, um das Nest da unten selbst auszustöbern.

Das hämmernde Geräusch hatte gleich nach dem ersten Angstschrei des Gefangenen aufgehört. Todtenstille herrschte und die matt brennenden Laternen warfen ein unheimliches Licht auf den schmalen, düsteren Gang, aber unaufhaltsam und so rasch es der schlüpfrige Boden erlaubte, drangen sie vor, als sie sich plötzlich an einem Loch sahen, in das weder Leiter noch Treppe hinabführte und dessen Tiefe sie auch in der Dunkelheit nicht erkennen konnten. Die Leute wußten sich aber zu helfen, denn daß sie auf dem richtigen Pfad seien, bewiesen die dem weichen Boden hier eingedrückten vielen Fußspuren. Einer der Polizeidiener knüpfte rasch ein mitgenommenes Seil an die Laterne und ließ sie in das Loch hinab, wonach sich dann bald herausstellte, daß es kaum zehn Fuß tief sei und unten weichen Boden habe. Wahrscheinlich hatte hier eine Leiter gelehnt, die bei dem ersten Alarm von den unten Befindlichen weggezogen worden, um den Verfolgern den Weg abzuschneiden.

Da hörten sie draußen die Schüsse.

„Ob ich’s mir nicht gedacht habe,“ brummte der Assessor. „Vorwärts, Leute, wir müssen hinunter. Wer springt dort zuerst hinab?“

Einer der jüngsten Polizeidiener ließ sich nicht lange bitten, denn auch sein Geschäft war Jagd und was thut ein Jäger nicht, um dem verfolgten Wilde beizukommen? Er hob sich die Laterne ein wenig aus dem Weg und war mit Einem Satz unten.

„Geh’ ein kleines Stück vor, ob Du keine Leiter findest.“

„Hier liegt sie schon!“ rief der Mann, der mit der aufgenommenen Laterne nach vorn geleuchtet hatte.

„Her damit! Bravo, mein Bursch, das war gut gemacht, und nun hinunter mit Euch, Ihr Leute!“

Rasch ging es immer nicht, denn es war nachtdunkel dort unten, aber sie schienen hier auch den tiefsten Platz des Gewölbes erreicht zu haben. Ein schmaler Gang bog links ab und wenige Schritte weiter fanden sie sich in dem Gewölbe, das Paul Jochus vor noch nicht langer Zeit verlassen hatte und wo seine beiden Helfershelfer zurückgeblieben waren. Von diesen ließ sich jedoch nirgend mehr eine Spur erkennen.

Die halb zugeworfene Grube fanden sie, mit dem Werkzeug noch daneben, doch kein menschliches Wesen, und erst als Assessor Schüler selber die Laterne nahm und an den Wänden rings herumleuchtete, entdeckte er eine kleine Oeffnung, durch welche eben gebückt ein Mann kriechen konnte. Dort waren sie jedenfalls hinaus; ohne weiteres Zögern folgte er nach.

Die rings um den Hügel postirten Soldaten hatten indessen ihre Plätze mit dem Gefühl eines Jägers behauptet, der mitten im Wald angestellt ist, ohne zu wissen, von welcher Seite das Treiben kommt. Sie drehten, das Gewehr in Anschlag, den Kopf bald nach der, bald nach jener Seite und fuhren fast erschreckt zusammen, wenn ein Eichhörnchen von Zweig zu Zweig sprang oder eine Maus im Laub raschelte, ja begriffen zuletzt nicht recht, was sie hier draußen eigentlich sollten, denn befanden sich die Verbrecher wirklich in der Ruine und wußten sie einen geheimen Weg zur Flucht, so würden sie doch nie in dieses Dickicht hineingekrochen sein. Allerdings kam es ihnen so vor, als ob sie irgendwo ein dumpfes Klopfen hörten, aber woher das tönte, ließ sich nicht bestimmen, und es konnte ebensogut von irgend einem Holzfäller herrühren, der weit im Walde drin an einem Baum hackte. Bald schwieg auch das und Todtenstille lag im Wald.

Der eine Soldat, ein Jägerbursch aus dem Spessart, stand etwa zehn Schritt über einer schmalen Felsplatte, wo er eine kleine, mit Heidelbeerbüschen überwachsene Lichtung unter sich hatte. Da, horch! was war das? Ein Fuchs, der vielleicht hier seinen Bau hatte und den schönen Morgen zu einem Spaziergange benutzen wollte? Unbewußt fast machte er sich schußfertig. Da wurde Moos bei Seite geworfen, das konnte ja doch kein Fuchs sein. Das Herz schlug ihm wie ein Schmiedehammer in der Brust. Jetzt arbeitete sich eine dunkle Gestalt unter dem Felsen vor – das war ein Mensch und mit zwei Sätzen stand der Jäger unten auf der Platte.

„Halt oder ich schieße!“ schrie er und suchte sich festzustellen, allein der Flüchtige hielt nicht. Im Nu hatte er den freien Boden erreicht und wie ein flüchtiger Hirsch setzte er mitten in das Dickicht hinein. Er war aber an den richtigen Mann gekommen, denn der gelernte Jäger brauchte nicht lange, um wieder einen festen Stand zu bekommen, und ehe der Fliehende das schützende Dickicht erreichen konnte, fiel sein Schuß, bei dem der Getroffene in den Busch hineinschlug. Fast zugleich feuerte auch der ihm nächststehende Soldat, durch den Ruf aufmerksam, nach der Gestalt, die er ebenfalls durch die Büsche erkennen konnte, und von allen Seiten flogen die dort postirten Soldaten jetzt herbei, um Theil an der Verfolgung zu nehmen. Sie hatten aber leichte Arbeit, denn während zwei hinuntersprangen, um den Verwundeten aufzunehmen, bewegte sich das überhängende Moos und Gestrüpp noch einmal und ein bleiches, zitterndes Menschenbild kam daraus vorgekrochen, das nicht mehr den geringsten Widerstand leistete.

Es war Franz. Hinter sich die Verfolger, der Vater gefangen, der Freund erschossen, der Platz von Soldaten umstellt, auf den sie ihre letzte Hoffnung gesetzt, was hätte da noch ein verzweifelter Fluchtversuch genützt? Er war verloren und ergab sich, vollständig gebrochen, in sein Schicksal.


Der Verlauf des Processes nahm das allgemeine Interesse des Publicums in Anspruch, die Beweise waren jedoch zu klar, als daß auch nur einer der Gefangenen hätte wagen dürfen, zu leugnen. Nicht allein der ganze Vorrath gefälschter Noten war aufgefunden worden, sondern auch die Presse, die zu der Arbeit gedient. Das Urtheil für Paul Jochus und seinen Sohn lautete auf acht Jahre Zuchthaus.

Anders war es mit Brendel, der einen Kugelschuß in den Schenkel bekommen hatte und wochenlang lag, ehe er transportirt werden konnte. Man erkannte in ihm während der Untersuchung einen schwereren, lang verfolgten Verbrecher, der einst in der unmittelbaren Nähe von Berlin einen frechen Raubmord verübt, und auf Requisition des dortigen Gerichts wurde er dahin abgeliefert.

Einer der Inhaftirten aber entzog sich der Strafe. Am fünften Tag der Untersuchung fand man Paul Jochus in seinem Gefängniß erhängt. Er hatte sich mit seinem Taschentuch an dem eisernen Gitter seines etwas hochgelegenen Fensters erdrosselt.

Das Weinhaus zum Burgverließ war mittlerweile von den Gerichten in Beschlag genommen worden und Rosel zu ihrem Pathen, dem alten Registrator, gezogen.

Dorthin kam Bruno von der Haide, um sie aufzusuchen. Das [823] Verbrechen des Vaters hatte die Liebe zu dem Mädchen nicht ertödten können, ja sie wuchs mit dem Unglück, das sie betroffen, aber er sah sie nicht wieder. Zweimal war er dort und zweimal ließ sie ihm sagen, daß sie ihn nicht sprechen könne. Als er zum dritten Mal kam, fand er einen Brief von ihr vor, in dem sie mit herzlichen Worten den letzten Abschied von ihm nahm.

Sie hatte sich in die Gesellschaft der Barmherzigen Schwestern aufnehmen lassen und war nach Lima in Peru gegangen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Alles, Du selbst auch, nie (korrigiert nach: „Hüben und Drüben“. Neue gesammelte Erzählungen von Friedrich Gerstäcker. Arnoldische Buchhandlung, Leipzig 1868, Zweiter Band, S. 168)