Deutsches Lied und deutsches Bild
Nur Wenige haben noch die Muße oder die geistige Sammlung und Concentration, aus den Quellen unserer Literatur, unserer Gedankenproduction, unserer Poesie sich selbst das ihnen Verwandte, Sympathische, Denkwürdige, das Gelungene und Vorzügliche auszuwählen, unser rasch lebendes Geschlecht will vielmehr gleich sein Mahl fix und fertig präparirt und aufgetischt erhalten und sich sonder Mühe daran letzten. Darum greift das Publicum mit solcher Vorliebe zu jenen sogenannten Blüthenlesen, Anthologien, Chrestomathien, „Lichtstrahlen“ aus den Schöpfungen unserer Dichter und Schriftsteller, wie sie jedes Jahr uns neu auf den Christtisch legt.
Auch jetzt beginnen diese Vorboten der lieben Weihnachtszeit bereits in die Welt hinaus zu flattern, und es freut uns, darunter namentlich auf eine Erscheinung aufmerksam machen zu können, die mehr als die gewöhnliche Bedeutung dieser Dutzendbücher hat, weil sie in der That zugleich ein Kunstwerk ist. Es ist das demnächst zur Veröffentlichung gelangende
in welchem einer unserer ersten Poeten, Friedrich Bodenstedt, mit bewährtem Dichterblicke eine Reihe unserer schönsten deutschen Lieder, Romanzen, Balladen zu einem prächtigen Strauße zusammengebunden und so in einem organisch verwachsenen Ganzen ein Bild deutschen Lebens und Geistes geboten hat. Viele der gefeiertsten deutschen Maler in Düsseldorf und München, in Berlin und Dresden, in Carlsruhe und Weimar aber haben das Album mit einer großen Anzahl ausgezeichneter Illustrationen, theils größeren Compositionen, theils Randzeichnungen und Vignetten, geschmückt, die in wahrhaft künstlerischer Weise im Holzschnitt wiedergegeben sind.
Daß wir nicht zu viel sagten, wenn wir dem Buche eine mehr als gewöhnliche Bedeutung beilegten, werden die vorstehenden Proben daraus darthun, die uns die Freundlichkeit des Verlegers – C. Grote in Berlin – schon jetzt mitzutheilen gestattet, um das Werk dergestalt sich auf das Wirksamste selbst empfehlen zu lassen. Das erste unserer Bilder, von Carl Schlesinger in Düsseldorf gezeichnet, gilt einem Liede Robert Reinick’s, aus dem uns das sinnige, reine, sonnenhelle Gemüth des leider so früh uns entrissenen Malers und Dichters warm entgegentritt. Es lautet:
In dem Himmel ruht die Erde,
Mond und Sterne halten Wacht;
Auf der Erd’ ein kleiner Garten
Schlummert in der Blumen Pracht; –
Gute Nacht, gute Nacht!
In dem Garten steht ein Häuschen,
Still von Linden überwacht;
Draußen vor dem Erkerfenster
Hält ein Vogel singend Wacht. –
Gute Nacht, gute Nacht!
In dem Erker schläft ein Mädchen,
Träumet von der Blumen Pracht:
Ihr im Herzen ruht der Himmel,
Drin die Engel halten Wacht. –
Gute Nacht, gute Nacht!
Unsere zweite Illustration, dem kunstreichen Griffel Paul Thumann’s in Weimar entsprossen, dem die Gartenlaube schon so manches liebe Bild verdankt, bedarf keines Commentars. Alle Welt hat es ja schon gesungen oder singen hören, jenes ergreifende Lied Joh. Nepomuk Vogl’s vom „Wanderburschen mit dem Stab in der Hand“, der „wieder heimkommt aus dem fremden Land“, und den Niemand mehr erkennt, als sein altes Mütterlein, denn
„Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug’ hat ihn doch gleich erkannt.“