Russische Bettler in Riga

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Textdaten
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Autor: Ch.
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Titel: Russische Bettler in Riga
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 574
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[571]

Ein Nest russischer Bettler in Riga.
Originalzeichnung von Ludwig Löffler.

[574] Russische Bettler in Riga. (Mit Abbildung, S. 571) Als ich in Riga den engen, gewundenen Straßen und den schiefen Häusern, die trotz der angebahnten Russificirung durchaus den Charakter einer kleinen, urdeutschen Stadt tragen, meinen ersten Gruß dargebracht hatte, überschritt ich die einstigen Festungsgräben. Sie sind jetzt zu heiteren Parkanlagen umgewandelt, welche zur Petersburger Vorstadt führen. Wenn Riga äußerlich Kleinbürgerthum in der Altstadt, Schmutz und Verkommenheit in der Moskauer Vorstadt zur Schau stellt, so bietet es hier die prunkhaften palastartigen Neubauten der wohlhabenden Kaufmannswelt dar; denn was man auch klagt über das allmähliche Sinken des dortigen Handels, des einstigen Reichthums – die jetzigen Kaufherren sind immer noch die würdigen Enkel jener Bremer, welche den Handelsplatz gründeten und ihm zu einer gewissen Macht verhalfen. Hier gleicht Riga jeder andern vornehmen Stadt, und nur vereinzelt erblickt man die grauen zerlumpten Gestalten der niedrigen Russen und Letten, die sich mehr in den anderen Stadtvierteln aufhalten.

Ich verwerthete meine Empfehlungen, fand die glänzendste Gastfreundschaft, hatte einen Theil der Zeit in dem brillanten Wöhrmanns-Park bei „Ertal“ zugebracht und schlenderte nun, begleitet von einigen neuen Bekanntschaften, nach der Altstadt zurück. Es war in der Dämmerungsstunde. Wir näherten uns der Verbindungsbrücke der Parkanlagen, als plötzlich aus dem Dunkel eines der Gebüsche eine große, fast formlose Gestalt zu Boden fiel und ein vorübergehendes Paar, einen Russen mit seiner Dame, zurückschrecken machte. Gleichzeitig tauchten aus demselben Winkel noch andere patriarchalische Gestalten hervor, die, auf den Knieen rutschend und sich bekreuzend, in leisen unarticulirten Tönen sich an die Mildthätigkeit der Vorübergehenden wandten.

Schon in Dünaburg hatte ich das Elend in seiner widerwärtigstem Gestalt kennen gelernt, als ich beim Grauen des Morgens mich in der Nähe der Wartesäle herumtrieb und auf den Abgang des Rigaer Zuges wartete. Allerlei Volk stand gelangweilt umher. Ich durchstöberte die nächste Umgebung und trat in eine Art Hofraum, dessen grauer Fußboden ein eigenthümlich coupirtes Terrain zeigte. Beobachtend und zögernd näherte ich mich den Unebenheiten und, wunderbarer Weise, die Hügel bewegten sich, sie entwickelten Formen, ja, es waren lebende Wesen, es waren menschliche Körper, die, in graufriesenen Mänteln, zusammengekauert dasaßen und durcheinander lagen. Nur dem Nahenden streckten sie die knöchernen Arme entgegen, wie das umgestürzte Steinbild eines Wischnu. Selten habe ich einen so abstoßenden Anblick gehabt, wie diese Haufen von Verkommenheit, und ich möchte behaupten, daß ein Nest jener erdfahlen Schlangenart, die, eine in die andere verschlungen, in unheimliche Knäuel geballt, daliegen, einen gewissen Grad von Lieblichkeit entwickelte, verglichen mit diesem Menschenklumpen.

Rigas Armenpflege scheint im Allgemeinen gut organisirt zu sein, so daß kein eigentlich Nothleidender ohne besondere Hülfe bleibt; denn waren mir auch Lumpen und Dürftigkeit hinreichend begegnet, so waren dies doch die ersten privilegirten Bettler, welche ich hier vor mir hatte. Es war ein Bild, dessen Stimmung der auf Seite 571 befindliche Holzschnitt nur oberflächlich andeuten kann.
Ch.