Schiller’s Bedeutung für das deutsche Volk

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Autor: Max Ring
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Titel: Schiller’s Bedeutung für das deutsche Volk
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 666-668
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Schiller’s Bedeutung für das deutsche Volk.

Ein heiliges Feuer hat alle deutsche Herzen bei der Erinnerung an das hundertjährige Geburtsfest des berühmten Dichters entzündet; nicht eine Stadt, sondern alle Städte, nicht ein Stamm, sondern alle Stämme des sonst vielfach gespaltenen Vaterlandes rüsten sich zur gemeinsamen Feier des unsterblichen Sängers. Die so heiß ersehnte Einheit scheint plötzlich vom Himmel herabgestiegen und über Nacht herrlich aufgeblüht zu sein. Wie um eine heilige Fahne schaart sich das deutsche Volk um das Standbild seines großen Todten.

Welch’ ein Wunder ist geschehen? Woher diese flammende Begeisterung der ganzen Nation?

Andere Dichter haben vor und mit Schiller gelebt, deren Werke nicht minder den Stempel der Unsterblichkeit an sich tragen, deren Schöpfungen uns entzücken und Bewunderung erregen, die sich würdig ihm zur Seite stellen dürfen. Nicht fehlt es unserem Vaterlande an tapferen Helden, großen Männern, deren Verdienste wir freudig anerkennen, deren Thaten die Geschichte preisend aufbewahrt. Aber Keiner von ihnen hat in dem Maße die Liebe seines Volkes sich errungen, die heute Schiller’s Stirn wie Strahlenglorie umgibt und schmückt.

Wodurch hat Er diese Liebe sich erworben; wodurch eine solche Verehrung von uns verdient?

Weil Schiller wie kein Anderer sein Volk geachtet und geliebt, darum liebt es auch ihn wie keinen Anderen; weil er für sein Volk gedichtet und gelebt, darum ist auch er vor Allen der Dichter seines Volkes. In ihm hat sich der deutsche Genius am reinsten offenbart; seine hohe Dichterseele spiegelt, wie der Silberquell das goldene Licht der Sonne, das Höchste und das Beste wieder, was dem Deutschen theuer und eigen ist: die Begeisterung für die Freiheit, die Achtung für Menschenwürde, die Liebe zum Vaterlande, das glühende Streben nach Wahrheit und Erkenntniß, verbunden mit der erhabensten Sittlichkeit. Darum wird Schiller von seiner Nation wie kein anderer Dichter heut’ gefeiert; darum sind seine Werke in jeder Hand. Jung und Alt, Vornehm und Gering, der König auf seinem Thron wie der Handwerker bei der Arbeit, der Hochgebildete wie der Bildungsbedürftige kennen seine Lieder und schöpfen aus ihnen Hoffnung und Trost, Muth und Begeisterung. Von den Bergen, wo die Freiheit wohnt, schallen sie herab zum stillen Thal und wecken das Echo in der Menschenbrust. Beim fröhlichen Mahl und hellem Gläserklang tönt das Lied der Freude:

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.

Rascher pocht das Herz des Knaben, wenn er die Balladen Schiller’s liest, die „Bürgschaft“, welche so herrlich das Gefühl der Freundschaft preist, den „Gang nach dem Eisenhammer“ voll wahrer Frömmigkeit und Herzenseinfalt, den „Taucher“, der die Wunder der Tiefe mit allem Zauber, deren Vers und Sprache fähig ist, enthüllt. Röther färben sich der Jungfrau Wangen, wenn der Dichter ihr das süße Geheimniß ihres Herzens deutet; sie flüstert tief bewegt ihm nach:

O, daß sie ewig grünen bliebe,
Die schöne Zeit der jungen Liebe!

Gibt es einen Jüngling, den des Sängers Lieder nicht mit Begeisterung erfüllen, zu edlen Entschlüssen und großen Thaten spornen? Seine Gedichte sind das Evangelium der Jugend geworden und verdienen es zu sein wegen der Reinheit ihres Inhalts, wegen des sittlichen Adels, der aus ihnen spricht. Nie hat Schiller dem Geschmack der Mode gehuldigt, nie auch nur eine Zeile geschrieben, über die er zu erröthen brauchte; nie erniedrigte sich seine Muse, weder zum Schmeicheln, noch zum frivolen Spiel. Wohl durfte mit Recht sein geistiger Zwillingsbruder Goethe von ihm rühmen:

Und hinter ihm im wesenlosen Scheine
Lag, was uns Alle bändigt, das Gemeine.

Aber auch dem gereiften Manne bringt der Dichter in seinen Gesängen einen Schatz von Weisheit und Lebenserfahrung zugetragen; reich an Gedanken kehrt er von dem „Spaziergang“ an Schiller’s Hand in sein Haus zurück, wo er die sinnige Frau mit leuchtenden Blicken findet, entzückt von dem Lobe, das kein Sänger ihr schöner sang, als er.

Schiller’s Muse ist sein „Mädchen aus der Fremde“:

Und theilte Jedem eine Gabe,
Dem Früchte, Jenem Blumen aus;
Der Jübgling und der Greis am Stabe,
Ein Jeder ging beschenkt nach Haus.

Doch am größten und bedeutendsten erscheint sein Genius, wenn er von den Bretern herab, welche für ihn „die Welt bedeuten“, zu dem versammelten Volke spricht. Mit athemloser Stille und gespannter Erwartung hängt das dichtgedrängte Haus an den wunderbaren Gestalten, an den großen und erhabenen Schöpfungen seiner dramatischen Poesie. Wie weiß er das Herz seiner Zuschauer zu erschüttern und zu rühren, bald mit Bewunderung für die Tugend, bald mit Abscheu vor dem Laster zu erfüllen! Aber vor Allem ist Schiller in seinen Dramen der Dichter der Freiheit, die sich wie ein rother Faden durch seine Werke, vom ersten bis zum letzten, zieht.

Mit dem Motto: „in tyrannos!“ eröffnete er mit jugendlichem Ungestüm in den „Räubern“ den Kampf gegen die drückenden Fesseln der Tyrannei; Karl Moor ist der revolutionaire Geist des Jahrhunderts selbst, der, unter dem Drucke der sogenannten patriarchalischen Zustände zum Aeußersten getrieben, gewaltsam jede Fessel sprengt und in titanenhafter Wildheit gegen die Gesellschaft sich auflehnt. Mit prophetischem Geiste ahnte der damals achtzehnjährige Dichter die große politische und sociale Bewegung seiner Zeit, deren welterschütternde Ideen er von der Bühne herab verkündigte, bevor noch Männer wie Mirabeau, Danton und Robespierre dieselben gleich Brandfackeln in die Welt schleuderten. Ganz Deutschland war erstaunt über die Kühnheit eines ungekannten Jünglings und bewunderte seinen Muth und mehr noch sein Genie. Damals schon erkannte das Volk mit richtigem Instincte in Schiller seinen Dichter und jauchzte ihm Beifall zu, während die Großen und Schriftgelehrten, vor Allen aber sein Landesvater, der Herzog Karl von Würtemberg, mit dem gleichen Instincte in dem Schüler seiner Karlsschule den Feind des Despotismus ahnte und ihn mit dem Schicksale des ihm verwandten eingekerkerten Schubart bedrohte.

In tiefer Uebereinstimmung seines Handelns mit seinem Dichten trotzte Schiller dem Verbote des Herzogs, ohne dessen Bewilligung nichts mehr drucken zu lassen; er ergriff die Flucht, indem er Eltern, Vaterland und sichere Lebensstellung seinem heiligen Berufe opferte.

Unter Mangel und Entbehrungen der schwersten Art verfolgte er den einmal eingeschlagenen Weg, indem er in Mannheim seinen „Fiesko“ zur Aufführung brachte, den er selbst ein republikanisches Trauerspiel nannte. Der Hauch der Freiheit beseelte auch dies neue Werk, worin er in dem ehernen Verina den echten Republikaner von unerschütterlicher Festigkeit dem glänzenden, die Freiheit nur zu seinen egoistischen Zwecken mißbrauchenden Fiesko gegenüberstellte. Aber das im Shakespeareschen Riesengeiste erfaßte Stück war für die damalige Stimmung und die kleinlichen Verhältnisse in Deutschland zu groß. Schiller schrieb darüber an seinen späteren Schwager Reinwald: „Den Fiesko verstand das Publicum nicht. Republikanische Freiheit ist hier zu Lande ein Schall ohne Bedeutung, ein leerer Name; in den Adern der Pfälzer fließt kein römisches Blut.“

Weit näher lag dagegen Schiller’s „Kabale und Liebe“ der Anschauungsweise des deutschen Volkes. Waren es ja dessen Jammer, dessen Leiden unter der damaligen Minister- und Maitressenwirthschaft, welche der Dichter mit schonungsloser Hand aufdeckte, indem er auf die tiefe Wunde des Vaterlandes wies; gab er doch in dem Musikus Miller und seiner Familie das treue Bild des unterdrückten Bürgerthums, während er in dem Präsidenten und seinen Helfershelfern die Nichtswürdigkeiten der vornehmen Welt brandmarkte. In einer Reihe der erschütterndsten Scenen kämpft er für die Freiheit gegen das Standesvorurtheil, dessen Lächerlichkeit und Verderblichkeit er bald mit schneidendem Spotte geißelt, bald mit heiligem Ernste richtet. Indem er aber diesen höheren Standpunkt seinem Werke verlieh, erhob er das beschränkte, bürgerliche [667] Familiengemälde zu einer Tragödie von wahrhaft geschichtlicher und politischer Bedeutung.

Alle Wünsche aber, alle Hoffnungen und Träume einer nach Freiheit dürstenden Seele strömte der Dichter in seinem „Don Carlos“ aus. Noch heute, in einer den materiellen Interessen nur zu sehr hingegebenen Zeit, wirkt der ideale Gehalt dieses Trauerspiels stets begeisternd auf die Menge und vor Allem auf das Herz der Jugend, deren Lieblingsheld der edle, hochherzige Marquis Posa geworden ist; noch heute, Gott und dem Dichter sei dafür gedankt, wecken die Verse des todesmuthigen Schwärmers für Menschenwürde und Völkerwohl ein tausendfältiges Echo in unserem Vaterlande, rütteln sie ein nur zu oft der Lethargie oder der Blasirtheit verfallenes Geschlecht aus seinem Schlaf, wenn die erhabene Mahnung, für den Tyrannen Philipp bestimmt, an sein Herz pocht:

 Sehen Sie sich um
In seiner heiligen Natur! Auf Freiheit
Ist sie gegründet – und wie reich ist sie
Durch Freiheit! Er, der große Schöpfer, wirft
In einen Tropfen Thau den Wurm, und läßt
Noch in den todten Räumen der Verwesung
Die Willkür sich ergötzen – Ihre Schöpfung
Wie eng und arm! Das Rauschen eines Blattes
Erschreckt den Herrn der Christenheit – Sie müssen
Vor jeder Tugend zittern. Er – der Freiheit
Entzückende Erscheinung nicht zu stören –
Er läßt der Uebel grauenvolles Heer
In seiner Welt blind toben – ihn,
Den Künstler, wird man nicht gewahr; bescheiden
Verhüllt er sich in ewige Gesetze!
Die sieht der Freigeist, doch nicht ihn. Wozu
Ein Gott? sagt er: die Welt ist sich genug,
Und keines Christen Andacht hat ihn mehr,
Als dieses Freigeists Lästerung, gepriesen. –

Aber für Schiller in seiner fortwährenden Entwickelung war die Freiheit kein bloßer abstracter Begriff, das Vaterland kein leerer Schall, das Volk kein eitles Wort. Ueber die Liebe zur Menschheit vergaß er nicht sein Volk, das deutsche Volk, dessen Größe und Erhebung ihm vor Allem am Herzen lag. Er wollte es stark durch Einigkeit und geachtet wissen; tief empfand er die Schmach und Erniedrigung desselben unter einheimischer Tyrannei und dem Drucke fremder Eroberer. Schon in seinem „Wallenstein“ deutete er auf unser Grundübel hin, auf unsere nationale Zerrissenheit:

Was geht der Schwed’ mich an? Ich hasse ihn, wie
Den Pfuhl der Hölle und mit Gott gedenk’ ich ihn
Bald über seine Ostsee heimzujagen.
Mir ist’s allein um’s Ganze. Seht! Ich hab’
Ein Herz, der Jammer des deutschen Volkes erbarmt mich.

Selbst der Ehrgeiz eines Wallensteins schreckt nicht vor dem Abfall von seinem Kaiser, aber wohl vor dem Verrathe am Vaterlande zurück; er fragt darum:

Wie war’s mit jenem königlichen Bourbon,
Der seines Volkes Feinden sich verkaufte
Und Wunden schlug dem eignen Vaterland?
Fluch war sein Lohn, der Menschen Abscheu rächt
Die unnatürlich frevelhafte That.

Aus diesem wahren, aber keineswegs beschränkten Patriotismus entsprang die herrliche Gestalt der „Jungfrau von Orleans“, welche ihr gottgeweihtes Schwert gegen die Unterdrücker ihres Volkes zieht. Der Dichter wurde wieder zum Seher, der seiner Zeit vorauseilte und den künftigen Freiheitskampf verkündigte. In der stillen Werkstätte der Gedanken erschien ihm der Genius und offenbarte ihm die Geschicke seiner Nation: nicht durch die Macht der uneinigen Fürsten, durch die Tapferkeit des übermüthigen Adels, sondern nur durch den Geist des Volkes sollte einst das Vaterland gerettet aus seiner größten Schmach wieder auferstehen; wie Frankreich durch die gottbegeisterte Jungfrau von niederer Geburt sich von Neuem erhoben hatte. In dem Volke erkannte Schiller mit welthistorischem Blicke die Elemente einer neuen besseren Zeit, den Träger einer großen Zukunft. Wie in allen seinen Werken, so bekundete er auch hier seine Liebe, sein Vertrauen zu dem Volke, dem er das Höchste zumuthete. Vorzugsweise aber war es wieder die deutsche Nation, welche er im Auge hatte, obgleich er die Geschichte seines Drama’s, sei es Zufall oder weise Absicht, dem französischen Boden entlehnte. Unter seiner Hand jedoch erhielt der fremde Stoff ein vaterländisches Gepräge, ähnlich den heidnischen Altären, welche dem Christenthume dienen, gleich dem Schwerte, das ein tapferer Krieger dem Feinde entreißt, um ihn selbst damit zu bekämpfen.

Mit Recht erinnert sich daher die edle Königin Louise von Preußen in einem ihrer schönsten Briefe aus dem Jahre 1809 in ihrem tiefsten Schmerze an den hingeschiedenen Dichter der Jungfrau, von dem sie folgendermaßen an eine Freundin schreibt: „Auf den Bergen ist die Freiheit!“ Klingt diese Stelle, die ich erst jetzt verstehe, nicht wie eine Prophezeiung, wenn Sie auf das Hochgebirge blicken, das sich auf den Ruf seines Hofer erhoben hat? Welch ein Mann, dieser Andreas Hofer! Ein Bauer wird ein Feldherr und was für einer! Seine Waffe – Gebet, sein Bundesgenosse – Gott! Er kämpft mit gefalteten Händen, kämpft mit gebeugten Knieen und schlägt wie mit dem Flammenschwerte des Cherubs! Und dieses treue Schweizer-Volk, das meine Seele schon aus Pestalozzi angeheimelt hat! Ein Kind an Gemüth, kämpft es wie die Titanen mit Felsstücken, die es von seinen Bergen niederrollt. Ganz wie in Spanien! Gott, wenn die Zeit der Jungfrau wiederkäme und wenn der Feind, der böse Feind doch überwunden würde, überwunden durch die nämliche Gewalt, durch die einst die Franken, das Mädchen von Orleans an der Spitze, ihren Erbfeind aus dem Lande schlugen! – Ach, auch in meinem Schiller hab’ ich wieder und wieder gelesen! Warum ließ er sich nicht nach Berlin bewegen? Warum mußte er sterben? Ob der Dichter des Tell auch verblendet worden, wie der Geschichtsschreiber der Eidgenossen? (Johannes von Müller, der französischer Staatsrath wurde.) Nein! Nein! Lesen Sie die Stelle:

Nichtswürdig ist die Nation, die nicht
Ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre!

„Kann diese Stelle trügen? – Und ich kann noch fragen: warum er sterben mußte? Wen Gott lieb hat in dieser Zeit, den nimmt er zu sich.“

Bewundern wir in Schillers Jungfrau seinen Seherblick, womit er die künftige Größe und Bedeutung des Volkes ahnte, so müssen wir noch weit mehr den welthistorischen Sinn anstaunen, der uns aus seinem „Tell“ entgegen leuchtet. Schillers Idealismus, den man ihm so oft und stets mit Unrecht zum Vorwurf macht, wird immer von dem Geiste der Geschichte so lebenskräftig durchströmt, daß sich Beide gegenseitig ergänzen und durchdringen. Solch eine Ergänzung zu der idealen Jungfrau bildet sein Tell; dort die gottbegeisterte Schwärmerin, hier der besonnene Mann, dort die Idee, hier die That, dort das evangelische Wunder des Glaubens, hier der mächtige Impuls der selbstbewußten Freiheit. Beide Werke verhalten sich zu einander wie der Mann zur Frau, wie die dunkle Ahnung zu dem klaren Wissen. Der Dichter selbst hat in seinem letzten Drama das Wesen der Freiheit auch am tiefsten erfaßt. Nicht der Einzelne, so hoch er auch stehen mag und sei er selbst ein Mann wie Tell, vermag mehr das große Werk allein zu thun; dazu bedarf es aller Kräfte, aller Stände, aller Parteien im Vaterlande. Das Volk selbst muß zum Helden werden in dem Drama seines Freiheitskampfes. Adel und Bürger, Landmann und Handwerker müssen sich einst die Hände reichen, um die Despoten zu verjagen. In diesem Sinne ruft der edle Attinghausen dem verführten Rudenz zu:

Lern’ dieses Volk der Hirten kennen, Knabe!
Ich kenn’s, ich hab’ es angeführt in Schlachten.
Ich hab es fechten sehen bei Farenz.
Sie sollen kommen, uns ein Joch aufzwingen,
Das wir entschlossen sind nicht zu ertragen!
O, lerne fühlen, welchen Stamms du bist!
Wirf nicht für eitlen Glanz und Flitterschein
Die echte Perle deines Werthes hin –
Das Haupt zu heißen eines freien Volks,
Das dir aus Liebe nur sich herzlich weiht,
Das treulich zu dir steht im Kampf und Tod –
Das sei dein Stolz, des Adels rühme dich.
Die angebornen Bande knüpfe fest,
An’s Vaterland, das theure, schließ dich an,
Das halte fest mit deinem ganzen Herzen.

Und sterbend mahnt der Greis die Seinigen zur Eintracht:

Drum haltet fest zusammen – fest und ewig –
Kein Ort der Freiheit sei dem andern fremd –
Hochwachten stellet aus auf euren Bergen.
Daß sich der Bund zum Bunde rasch versammle.
Seid einig – einig – einig.

Ist es nicht, als hätte Schiller selbst, von einer plötzlichen Ahnung seines eigenen nahen Todes ergriffen, im Tell ein Vermächtniß [668] für ewige Zeiten hinterlassen wollen, das Erbtheil einer unbegrenzten Liebe für sein Volk?

Anfang und Ende seiner nur zu kurzen Dichterbahn stimmen in seltener, so bei keinem andern Dichter vorhandenen Harmonie zusammen; dem stürmischen Morgenrothe, womit sich sein Gestirn in den Räubern ankündigte, folgte das verklärte Alpenglühn seines Tell; noch am Rande des Grabes pflanzte der Mann das Banner der Freiheit auf, das der Jüngling einst so kühn entfaltete.

Solche Treue ist selten!

Aus der Saat aber, welche der große Säemann ausgestreut, erwuchs jene Begeisterung, die Mutter edler Thaten. An Schillers heiliger Gluth entzündete sich die deutsche Jugend zum Kampf für das Vaterland gegen den fremden Unterdrücker. Aus seiner Quelle schöpften die späteren Freiheitssänger, ein Theodor Körner, ein Max von Schenkendorf, ihre schönsten Lieder. Die Worte des Dichters wurden zu Thaten; an seinen patriotischen Gedanken ermannten sich seine Zeitgenossen. Das Theater, einst nur der Schauplatz banaler Unterhaltung, wurde durch ihn zum geweihten Tempel umgewandelt, und noch heute erfaßt die Zuschauer, wie einst unsere Väter, ein heiliger Schauer der Begeisterung, wenn der ritterliche Dunois sein Volk zum Widerstande gegen den Erbfeind auffordert, wenn der wackere Stauffacher uns zuruft:

Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last, greift er
Hinauf getrosten Muthes in den Himmel
Und holt herunter seine ew’gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst.

Somit dankt das deutsche Volk dem Dichter das Bewußtsein seiner Würde, seiner Kraft; er weckte in ihm die Liebe zur Freiheit, den Haß gegen jeden inneren und äußeren Despotismus; er stärkte den Nationalsinn, der dem Deutschen am meisten Noth thut. Seine unsterblichen Werke haben nicht nur unsere Muttersprache bereichert, unsern Sinn für Kunst und Literatur gehoben, unsere geistige Bildung gefördert; sie sind keine bloßen Erzeugnisse der dichterischen Phantasie, geschaffen vorzugsweise zum ästhetischen Genuß; sondern die höchsten und bedeutendsten Denkmäler des deutschen Genius, lebendige Lehrer und Erwecker des Volkes, ewige und unerschütterliche Wegweiser auf der Bahn des Fortschritts zu allem Guten und Vollendeten. Wie kein anderer Dichter verbindet Schiller mit der schönen Form auch den bedeutenden Inhalt, mit der künstlerischen Abrundung auch die höchste Idee. Seine Werke sind goldene Früchte in silbernen Schalen, Blüthen der reinsten Menschheit, wie die Rose die größte Schönheit mit dem seelenvollsten Duft vereinend. Darum sind sie auch das Gemeingut der ganzen Nation und nicht einer vorzugsweise ästhetisch gebildeten Classe geworden, verständlich für Alle, tief eingedrungen in das Volk, welches mit den Sentenzen und Gedanken Schillers den Schatz seiner Weisheit bereichert und sie den ihm eigenthümlichen Sprüchwörtern einverleibt hat.

Darum erfüllt die Nation nur eine heilige Pflicht, wenn sie heut in dieser großen, allgemeinen Feier die Schuld ihrer Dankbarkeit abzutragen versucht; sie ehrt sich nur selbst, indem sie ihren Lieblingsdichter ehrt.

Aber nicht das helle Glockengeläute, das von allen Thürmen schallt, nicht der Glanz der Fackeln, nicht das Jauchzen der Menge, wenn die Hülle von des Dichters Standbild fällt, nicht der Festgesang zu seinem Preise, Reden und Toaste zu seinem Lobe in dem mit Blumen geschmückten Saal sind die Opfer, welche der Genius heut von uns verlangt. Sie legen zwar ein Zeugniß unserer Liebe und Verehrung ab; doch der Unsterbliche bedarf unserer Anerkennung nicht. Sein erhabener Geist, der vom Sternenzelt herniederschaut, fordert andere und höhere Gaben.

Was habt Ihr, darf er uns in dieser Stunde fragen, mit meinem Vermächtnisse angefangen? Habt Ihr das heilige Erbe, das ich Euch hinterlassen, bewahrt und durch Eure Arbeit noch vermehrt? Seid Ihr, wie ich es gewollt, ein freies, einiges Volk geworden, groß nach innen und nach außen Achtung gebietend, vertrauend auf die eigene Kraft und bereit, das Leben für die höchsten Güter der Menschheit einzusetzen? Seid ihr fortgeschritten auf der Bahn, die ich Euch vorgezeichnet, auf der Bahn der Duldung, der Humanität, oder zurückgefallen in die Nacht des Aberglaubens und der Finsterniß?

Noch können wir dem seligen Geiste nicht antworten, wie wir so gern möchten; noch ist Deutschland nicht in seinem Sinne frei und einig, noch sind wir kein Volk von Brüdern, wenn auch die Sehnsucht nach dieser Einheit mächtiger als je empfunden wird. Noch fehlt es der Nation an freudigem Opfermuth; noch dulden wir das Unrecht in unserer Mitte; noch lassen wir es zu, daß die Partei, welche im Finstern schleicht, uns das Licht der Vernunft zu verdunkeln und zu rauben sucht. Noch treiben die Alba’s und Domingo’s unter uns ihr Wesen, nur daß sie feiger geworden sind, als ihre größeren Vorbilder. Noch stehen wir unter der Herrschaft eines alle höheren Interessen bedrohenden Materialismus; noch knieen wir vor dem goldenen Kalb, dem Götzen dieser Zeit.

Wollen wir daher Schiller wirklich feiern, wie er es um uns verdient, so müssen wir in seinem Geiste denken, handeln und leben.

Das deutsche Volk, das er so sehr geliebt, hat noch die hohe Aufgabe zu lösen, die er ihm gestellt: Freiheit und Einigkeit sei unsere Losung!

Der Adel suche seinen Adel nicht in verrotteten Vorurtheilen und Verfolgung seiner Sonderinteressen; er schließe sich dem Ganzen innig an und zeichne sich vor Allen durch Liebe zum Vaterlande, durch jede männliche Tugend aus!

Der Gelehrte sehe nicht mit vornehmem Dünkel auf die Menge herab! Sein Wissen hat nur Werth, wenn es das Gemeinwohl fördert.

Der Lehrer der Religion lerne von Schiller Duldung und Liebe, die das wahre Christenthum gebietet!

Der Dichter vor Allen strebe dem hohen Vorbilde eines Schiller nach in seiner Achtung für Menschenwürde, in seiner idealen Begeisterung für alles Edle und Erhabene, womit der Materialismus der Gegenwart bekämpft werden muß! Seine Muse sei keusch und rein, zu stolz, dem verdorbenen Geschmack des Augenblicks zu huldigen.

Der Bürger vergesse über dem Streben nach Erwerb nicht die höheren Güter des Lebens, seine geistige Ausbildung, die Bereicherung mit solchen Schätzen, die ihm kein Zufall rauben kann.

So feiern wir Alle, Alle Schiller am würdigsten, so danken wir dem Unsterblichen am schönsten.

M. R.