Schwere, Elektricität und Magnetismus/Dritter Abschnitt

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Zweiter Abschnitt.


Der Satz von Green.



§. 36.
Princip der Erhaltung der lebendigen Kraft für einen materiellen Punkt.


 Um nicht allein die Kräfte, sondern auch die durch sie hervorgebrachten Bewegungen untersuchen zu können, ist es nöthig, an einige Sätze der Dynamik zu erinnern.

 Wir betrachten einen materiellen Punkt von der Masse . Seine Coordinaten sind Functionen der Zeit , und die Aufgabe der Dynamik besteht darin, diese Functionen ausfindig zu machen, wenn zu jeder Zeit die bewegende Kraft gegeben ist. Zur Lösung dieser Aufgabe sind Integrationen auszuführen. Den dabei auftretenden Integrations-Constanten hat man dann Specialwerthe beizulegen, so dass gewisse Nebenbedingungen des Problems erfüllt werden. Als solche Nebenbedingungen können z. B. gegeben sein die Anfangslage und die Anfangsgeschwindigkeit des bewegten materiellen Punktes, oder auch seine Anfangs- und seine Endlage.

 Die bewegende Kraft, welche auf den materiellen Punkt wirkt, sei . Ihre Componenten in den Richtungen der positiven Coordinatenaxen bezeichnen wir resp. mit . Dann haben wir die Differentialgleichungen


(1)




In diesen Gleichungen multipliciren wir auf beiden Seiten der Reihe nach mit , verbinden die Resultate links und rechts durch Addition und integriren nach . Dadurch ergibt sich


(2)


Wir bezeichnen mit die Länge der Bahn, welche der materielle Punkt bis zum Ablauf der Zeit durchlaufen hat, so dass ist für . Dann haben wir , und die Gleichung (2) geht über in


(3)


Auf der rechten Seite dieser Gleichung können wir auch als Integrations-Variable einführen und unter dem Integralzeichen schreiben



Hier sind die Cosinus der Winkel, welche das Bahnelement mit den positiven Coordinatenaxen einschliesst. Bezeichnet man nun ferner mit , , die Winkel, welche die Richtung von mit den Richtungen der Componenten bildet, so findet sich



Dabei ist unter der Winkel zu verstehen, welchen die im Punkte angelegte Tangente der Bahn mit der Richtung der bewegenden Kraft einschliesst.

 Die Gleichung (3) lautet hiernach in anderer Form


(4)


Wir bezeichnen die Geschwindigkeit mit und den Werth, den sie zur Zeit hat, mit . Nehmen wir die bestimmte Integration vor und setzen für die Zeit die Grenzen und , also für den Weg die Grenzen und fest, so ergibt sich


(5)


In dieser Gleichung spricht sich der Satz aus, dass die in dem Zeitintervall von bis gewonnene lebendige Kraft gleich ist der während derselben Zeit verrichteten mechanischen Arbeit. Im allgemeinen ist die Arbeit nicht allein von der Anfangs- und Endlage des bewegten Punktes abhängig, sondern auch von der Bahn, die er durchläuft. Sie setzt sich ja aus allen den Producten zusammen, die man erhält, wenn jedes Bahnelement mit der in seine Richtung fallenden Componente der bewegenden Kraft multiplicirt wird. Von besonderer Wichtigkeit ist der Fall, dass die Arbeit für alle Bahnen, die aus einer gegebenen Anfangslage in eine gegebene Endlage überführen, dieselbe ist, dass sie nur von der Anfangs- und Endlage des bewegten Punktes abhängig ist. Dieser Fall tritt ein, wenn die Componenten die resp. nach genommenen partiellen Derivirten einer und derselben Function sind, welche direct nur von abhängt, deren Ausdruck also die Zeit nicht explicite enthält. In diesem Falle geht die Gleichung (3) über in


(6)


und die Gleichung (5) geht über in


(7)


Dabei ist der Werth, welchen die Function annimmt, wenn man den Coordinaten des bewegten Punktes ihre Anfangswerthe beilegt.

 In den Gleichungen (6) und (7) spricht sich der Satz aus:

 Wenn die Componenten die resp. nach genommenen Derivirten derselben Function sind, welche direct nur von abhängt, so ist die während einer Bewegung gewonnene lebendige Kraft gleich der Differenz der Werthe, welche die Function in der Anfangs- und in der Endlage des bewegten Punktes annimmt.

 Dieser Satz ist das Princip der Erhaltung der lebendigen Kraft.


§. 37.
Princip der Erhaltung der lebendigen Kraft für ein freies System von materiellen Punkten. Die Gleichung:


 Wir gehen über zu der Betrachtung eines Systems von bewegten materiellen Punkten. Ihre Massen seien . Die Coordinaten des Punktes von der Masse bezeichnen wir mit und die Componenten der auf ihn wirkenden bewegenden Kraft mit Diese Componenten sollen von der gegenseitigen Lage der Punkte abhängig sein. Deshalb können wir jetzt nicht jeden Punkt einzeln betrachten, wir fassen sie gleichzeitig in ihrer Gesammtheit auf, wir untersuchen die Bewegung des Systems.

 Das System soll frei sein, d.h. jeder Punkt soll der auf ihn wirkenden bewegenden Kraft ohne Hindernis Folge leisten. Dann gelten für jeden einzelnen Punkt die Gleichungen (1) des vorigen Paragraphen. Wir können demnach für den Punkt die Gleichung (3) des vorigen Paragraphen ableiten, welche jetzt lautet:



oder, wenn man setzt:



Diese letzte Gleichung stellt einzelne Gleichungen vor, die man erhält, wenn für der Reihe nach die ganzen Zahlen gesetzt werden. Wir wollen diese Gleichungen durch Addition verbinden. Dadurch ergibt sich


(1)


Hier ist wieder der Fall von besonderer Wichtigkeit, dass die resp. nach genommenen partiellen Derivirten einer und derselben Function sind, welche direct nur von den Coordinaten der sämmtlichen bewegten Punkte abhängt, deren Ausdruck also die Zeit nicht explicite enthält. Dann ist



das vollständige Differential der Function . Es gibt die Arbeit an, welche das System in dem auf die abgelaufene Zeit folgenden Zeitelement verrichtet.

 Setzen wir noch zur Abkürzung



so kann unter der eben gemachten Voraussetzung die Gleichung (1) geschrieben werden


(2)


 Die Differenz der beiden Functionen und nennt man die mechanische Kraft des Systems. Die Function heisst die virtuelle mechanische Kraft, die potentielle mechanische Kraft.

 Wir bezeichnen mit und die Werthe, welche die Functionen und zur Zeit haben. Dann ergibt sich aus (2) unmittelbar


(3)


Wenn also die Bedingung für das Vorhandensein der Function erfüllt ist, so berechnet sich der Zuwachs an lebendiger Kraft (virtueller mechanischer Kraft), welche das freie System von materiellen Punkten bei einer wirklich ausgeführten Bewegung erfährt, als die Differenz der Werthe, welche die Function für die Anfangs- und die Endlage der Punkte des Systems besitzt. Diese Differenz ist aber unabhängig von den Wegen, auf welchen die Punkte aus ihrer Anfangslage in die Endlage übergeführt werden. Dieser Satz, welcher in Gleichung (3), oder auch in Gleichung (2) sich ausspricht, ist für das freie System von bewegten materiellen Punkten das Princip der Erhaltung der lebendigen Kraft.


§. 38.
Das Potential.


 Wir gehen zu einem besonderen Falle über. Die Kräfte, von welchen die materiellen Punkte des freien Systems in Anspruch genommen werden, sollen gegenseitige Anziehungen oder Abstossungen sein, deren Grösse nur von den Massen der auf einander wirkenden Punkte und von ihrer Entfernung abhängt. Dann gibt es eine Function , wie sie im vorigen Paragraphen eingeführt

ist. Um dies zu beweisen, betrachten wir irgend welche zwei von den Punkten und bezeichnen ihre Masse resp. mit und Diese beiden Punkte sollen in der Richtung ihrer Verbindungslinie
Fig. 28.
eine bewegende Kraft auf einander ausüben, die wir mit bezeichnen. Die Kraft ist Abstossung oder Anziehung, je nachdem der Werth dieser Function positiv oder negativ ist. In dem Zeitelement durchlaufe der Punkt den Weg und der Punkt den Weg (Fig. 28). Dabei verrichtet der Punkt die mechanische Arbeit




und der Punkt verrichtet die Arbeit



Es findet sich aber leicht



und auf demselben Wege



Die von beiden Punkten im Zeitelement verrichtete Arbeit ist demnach



Bezeichnen wir nun mit eine Function von , deren Differentialquotient ist:



so ist die von bis zur abgelaufenen Zeit vermöge der Wechselwirkung zwischen den Massen und geleistete Arbeit:



Die Gesammtarbeit aller Massen des ganzen Systems findet sich, indem man in dem letzten Ausdruck für alle Combinationen zweiter Klasse aus den Elementen setzt und die entstehenden einzelnen Werthe summirt. Die Gesammtarbeit ist also


(1)


Die Summe ist die potentielle mechanische Kraft . Wir nennen sie kürzer das Potential. Die Integrations-Constante soll so gewählt werden, dass ist, wenn alle Punkte in unendlicher Entfernung liegen.

 Das Potential ist also die Arbeit, welche verrichtet würde bei der Uebertragung der Punkte aus unendlicher Entfernung in ihre wirkliche Lage.

 Das Potential ist unabhängig von den Wegen, auf welchen man diese Uebertragung vornehmen will. Ebenso ist aber die Gesammtarbeit (1) des Massensystems, die bei dem Uebergange aus einer Lage im endlichen Gebiete in eine andere solche Lage verrichtet wird, unabhängig von den Wegen, welche die einzelnen Punkte durchlaufen. Sie hängt allein von der Anfangs- und von der Endlage der Punkte des Systems ab. Man kann also, wenn es nur auf die Berechnung der verrichteten mechanischen Arbeit ankommt, alle Punkte aus ihrer Anfangslage in unendliche Entfernung rücken und hierauf in ihre Endlage übergehen lassen. Bei der ersten Bewegung erhält man als Arbeit den negativen Werth des Potentials für die Anfangslage, bei der zweiten das Potential selbst für die Endlage. Dies ist die Bedeutung des Ausdrucks (1).

 Bei Anziehung im umgekehrten Verhältnis des Quadrates der Entfernung ist das Potential


(2)


Hier ist wieder für jede Combination zweiter Klasse aus den Elementen zu nehmen, und die entstehenden einzelnen Ausdrücke sind zu summiren.

 Wir haben bis jetzt vorausgesetzt, dass jeder Punkt des Systems mit allen anderen in Wechselwirkung stehe. Das Potential, welches man dabei erhält, nennt man das Potential des Massensystems auf sich selbst.

 Es ist aber auch der Fall zu betrachten, dass jeder Punkt des einen Massensystems in Wechselwirkung steht mit jedem Punkte eines zweiten Systems.

 Wir wollen die Massen des einen Systems mit , die des anderen Systems mit bezeichnen. Wenn die Wechselwirkung in Anziehung oder Abstossung besteht, deren Grösse eine Function der Entfernung ist, so erhalten wir für die geleistete Arbeit wieder den Ausdruck (1). Die Entfernung bezieht sich aber jetzt auf einen Punkt des einen Systems und einen Punkt des anderen. Es ist also jetzt



Die Summirung ist so zu verstehen, dass je ein Punkt des ersten Systems mit je einem Punkte des andern zusammengestellt, für jede Zusammenstellung die Function gebildet und alle entstehenden Functionen summirt werden. In dem Integral



ist die Integrationsconstante so zu wählen, dass wird für . Dann ist


(3)


das Potential des einen Massensystems auf das andere.

 Bei Anziehung im umgekehrten Verhältnis des Quadrates der Entfernung hat man jetzt das Potential



 Bei Abstossung nach demselben Gesetze ist in (2) und (4) auf der rechten Seite negatives Vorzeichen zu setzen.

 Die Potentialfunction einer anziehenden (oder abstossenden) Masse auf einen Punkt ist das Potential dieser Masse auf die in dem Punkte concentrirte Masseneinheit.


§. 39.
Das Princip des Lagrange für ein freies System. Die Gleichung:


 Das Princip des Lagrange ist für ein freies System in der Gleichung ausgesprochen:


(1)


Darin sind die 3 Variationen der Coordinaten von einander unabhängig. Man hat also zur Erfüllung der Gleichung (1) für sich gleich Null zu setzen, was mit jeder einzelnen Variation multiplicirt ist. Auf diese Weise erhält man für die Punkte des Systems die 3 Differentialgleichungen der Bewegung.

 Wenn die auf die Punkte einwirkenden Kräfte so beschaffen sind, dass ein Potential vorhanden ist, so lässt die Gleichung (1) sich schreiben:


(2)


Dafür gibt es aber einen kürzeren Ausdruck, nemlich


(3)


Diese Gleichung ist so zu verstehen. Aus einer gegebenen Anfangslage (für ) kann man sich die Punkte des Systems in eine gegebene Endlage (zur Zeit ) auf unendlich vielen verschiedenen Wegen übergeführt denken. Für jeden Uebergang auf bestimmten Wegen hat das Integral


(4)


einen bestimmten Werth, der aber sich ändert, sobald die Wege der einzelnen Punkte des Systems geändert werden. Vergleicht man nun zwei Uebergänge mit einander, bei denen die Wege, die jeder einzelne Punkt durchläuft, nur unendlich wenig von einander abweichen, so sind auch die Werthe des Integrals (4) für den einen und für den anderen Uebergang nur unendlich wenig von einander verschieden. Die Aenderung, welche dem Integralwerth für den ersten Uebergang zu ertheilen ist, damit der Integralwerth für den zweiten Uebergang herauskomme, wird die Variation des Integrals (4) genannt.

 Die Gleichung (3) sagt aus, dass von allen denkbaren Uebergängen aus der gegebenen Anfangslage in die gegebene Endlage in Wirklichkeit derjenige zu Stande kommt, für welchen die Variation des Integrals (4) gleich Null ist.

 Um zu beweisen, dass dieser Satz nichts anderes ist als das Princip des Lagrange, führen wir die Variation wirklich aus.

 Es ist zunächst



also findet sich



und in Folge davon



 Den Ausdruck



wollen wir durch Integration nach Theilen umformen. Dadurch ergibt sich



Für die Anfangslage und für die Endlage (nach Ablauf der Zeit ) ist aber also fällt der vom Integralzeichen freie Bestandtheil auf der rechten Seite der letzten Gleichung weg, und wir erhalten



Auf demselben Wege findet sich




 Folglich geht jetzt die Gleichung (3) in folgende über:


(5)


Zu ihrer Erfüllung ist nothwendig und hinreichend, dass für jeden Zeitmoment die Function unter dem Integralzeichen gleich Null sei, also:


(6)


Dies ist aber die Gleichung (2). Folglich ist bewiesen, dass das Princip des Lagrange bei dem Vorhandensein eines Potentials durch die Gleichung (3) ausgedrückt wird.

 In unserm Falle ist das System frei. Die 3 Variationen der Coordinaten sind also von einander unabhängig. Demnach zerfällt die Gleichung (6) in 3 einzelne Gleichungen, indem — wie schon oben bemerkt — für sich gleich Null zu setzen ist, was mit jeder einzelnen von den 3 Variationen multiplicirt vorkommt. Also findet sich


(7)




Hierin ist der Reihe nach zu setzen. Dann sind die Gleichungen (7) nichts anderes als die Differentialgleichungen der Bewegung, wie sie aus dem Prinzip des Lagrange hervorgehen.



§. 40.
Das nicht freie System.


 Das System der Punkte ist nicht frei, wenn zwischen den Punkten oder zwischen einigen von ihnen, solche Verbindungen vorhanden sind, vermöge deren die einzelnen Punkte zu anderen Bewegungen gezwungen werden, als sie bloss unter dem Einfluss der auf sie wirkenden Kräfte ausgeführt hätten. Dieser Fall soll jetzt betrachtet werden.

 Nehmen wir den Punkt von der Masse . In Folge der vorhandenen Verbindungen vollführt er eine andere Bewegung, als wenn er frei und nur dem Antriebe der Kraftcomponenten ausgesetzt wäre. Es fragt sich dann, welche Kräfte man noch hinzufügen müsse, damit sie mit jenen Componenten zusammen den völlig frei gedachten Punkt gerade in die Bewegung versetzen, die wirklich zu Stande kommt. Kennt man diese Zusatzkräfte für jeden Punkt, so kann man die Bewegung des Systems aus einem doppelten Gesichtspunkte betrachten. Einmal kommt sie wirklich zu Stande unter Einwirkung der gegebenen bewegenden Kräfte und der vorhandenen Verbindungen. Das andere mal würde sie in genau derselben Weise zu Stande kommen, wenn die Punkte des völlig frei gemachten Systems von den gegebenen Kräften und von den eben betrachteten Zusatzkräften getrieben würden. Da nun die Wirkung in beiden Fällen dieselbe ist, und nur die Wirkung in Betracht kommt, so hat man das Recht, die eine Ursache durch die andere zu ersetzen. D. h. man darf die Bewegung so auffassen, als ob die Punkte des Systems frei wären und ausser den gegebenen Kräften noch die Zusatzkräfte in Wirksamkeit träten. Die gegebenen Kräfte sollen wieder so beschaffen sein, dass ein Potential vorhanden ist. Dann spricht sich das Princip des Lagrange in der Gleichung aus:


(1)


Es kömmt nun darauf an, für jeden Punkt des Systems die Zusatzkräfte wirklich ausfindig zu machen. Zu dem Ende kann man die Sache auch so auffassen. Es ist erlaubt, für jeden Punkt des unfreien Systems solche Kräfte hinzuzufügen, die sich gegenseitig im Gleichgewicht halten. Für den Punkt fügen wir parallel den Coordinatenaxen die Kräfte



und die Kräfte



hinzu. Die letztgenannten sollen so gewählt werden, dass ihre Wirkung und die Wirkung der vorhandenen Verbindungen sich gegenseitig vernichten. Dadurch wird eben das System zu einem freien, und zu den gegebenen Kräften treten die Zusatzkräfte hinzu. Diese sind aber völlig bestimmt, sobald man die
Fig. 29.
Fig. 30.
Kräfte kennt, durch welche die Wirkung der Verbindungen aufgehoben wird.

 Es ist also vor allem nothwendig, zu untersuchen, wie die Kräfte beschaffen sind, welche durch die Verbindungen aufgehoben werden und ihrerseits die Wirkungen der Verbindungen aufheben. Wir betrachten deshalb die verschiedenen Arten der Verbindungen.

 Erstens. Zwei Punkte und seien durch eine starre Verbindungslinie gezwungen, in constanter Entfernung von einander zu bleiben (Fig. 29 u. 30). Die Bedingung, welche dadurch eingeführt wird, lässt sich durch die Gleichung aussprechen:


(2)


wenn



gesetzt wird. Durch diese Verbindung können nur solche Kräfte aufgehoben werden, welche die Entfernung der beiden Punkte zu vermehren oder zu vermindern streben, d. h. zwei gleich grosse Kräfte, deren Richtungen einander entgegengesetzt in die Verbindungslinie der beiden Punkte fallen, und von denen die eine auf den Punkt , die andere auf den Punkt wirkt. Folglich sind auch die Componenten einer Kraft , welche in der Richtung oder in der Richtung auf den Punkt wirkt. Und es sind die Componenten einer ebenso grossen Kraft , die der vorigen entgegengesetzt auf den Punkt wirkt. Es ist also


(3)







 Das virtuelle Moment der Zusatzkräfte ist demnach


(4)


d. h.


oder auch


Die Grösse der Kraft bleibt vorläufig unbestimmt. Ihr Vorzeichen kann sowohl positiv als auch negativ sein. Es ist positiv für Fig. 29, negativ für Fig. 30. Man hat aber zu bemerken, dass ist in Folge der Bedingungsgleichung (2).

 Zweitens. Die beiden Punkte und seien durch einen biegsamen, aber unausdehnsamen Faden verbunden. Sie werden dadurch an eine Bedingung geknüpft, deren analytischer Ausdruck ist


(5)


wenn gesetzt wird. In diesem Falle bildet die Verbindung gar kein Hindernis, so lange ist, und es ist ebenso lange die Zusatzkraft . Wenn aber ist, so hebt die Verbindung zwei gleich grosse Abstossungskräfte auf, deren Richtungen einander entgegengesetzt in die Verbindungslinie der beiden Punkte fallen, und von denen die eine auf den Punkt , die andere auf den Punkt wirkt. Bezeichnet man also mit die absolute Grösse der beiden Zusatzkräfte, welche im Punkte und im Punkte anzubringen sind, so hat man (Fig. 30) für die Componenten die Gleichungen


(6)







 Das virtuelle Moment dieser Zusatzkräfte ist


(7)


Dieses Moment ist gleich Null für , weil dann ist. Es ist gleich Null oder positiv, wenn ist. Denn dann ist vermöge der Bedingung (5). Der Werth der absoluten Grösse bleibt für vorläufig unbestimmt.

 Drittens. Die beiden Punkte und seien so mit einander verbunden, dass ihr Abstand von einer gegebenen Grösse an beliebig vermehrt, aber unter diese Grösse herab nicht vermindert werden kann. Diese Bedingung lässt sich durch (5) ausdrücken, wenn



gesetzt wird. Die Verbindung bildet kein Hindernis, so lange , und ebenso lange ist demnach die Zusatzkraft . Wenn aber ist, so hebt die Verbindung zwei gleich grosse Anziehungskräfte auf, deren Richtungen einander entgegengesetzt in die Verbindungslinie der beiden Punkte fallen, und von denen die eine auf den Punkt die andere auf den Punkt wirkt. Bezeichnet man wieder mit die absolute Grösse der beiden Zusatzkräfte, welche im Punkte und im Punkte anzubringen sind, so gelten (Fig. 29) für die Componenten die Gleichungen (3). Das virtuelle Moment dieser Zusatzkräfte ist demnach


(8)


Es ist gleich Null für weil dann Es ist gleich Null oder positiv, wenn ist. Denn dann ist vermöge der Bedingung (5). Der Werth der absoluten Grösse bleibt für wieder vorläufig unbestimmt.

 Viertens. Der Punkt sei gezwungen, in einer Fläche zu bleiben, welche durch die Gleichung


(9)


charakterisirt wird. Die Fläche scheidet zwei Räume von einander. Für jeden Punkt in dem einen Raume für jeden Punkt in dem anderen Raume ist Für irgend einen Punkt in der Fläche selbst unterscheiden wir die positive und die negative Normale. Die positive Normale geht von dem Punkte aus in den Raum, für welchen positiv ist. Sie schliesst mit den positiven Richtungen der Coordinatenaxen Winkel ein, deren Cosinus die Werthe haben





Die Bedingung, an welche die Bewegung des Punktes geknüpft ist, lässt sich durch die Gleichung ausdrücken:


(10)


wenn gesetzt wird. Das Hindernis, welches dadurch der freien Bewegung des Punktes entgegengesetzt wird, kann nur eine Kraft aufheben, deren Richtung stets in die negative oder in die positive Normale der Fläche fällt. Also wird auch die Zusatzkraft welche im Punkte anzubringen ist, die Richtung der positiven oder der negativen Normale haben. Setzen wir zur Abkürzung


(11)


so hat jene Zusatzkraft die Componenten



und ihr virtuelles Moment ist


(12)


Das Vorzeichen von ist positiv oder negativ, je nachdem die Zusatzkraft in die positive oder in die negative Normale fällt. Der Werth von bleibt vorläufig unbestimmt. Aber das virtuelle Moment ist gleich Null, weil vermöge der Gleichung (10).

 Fünftens. Der Punkt soll sich frei bewegen können in dem Raume, für welchen ist, und auf der Fläche (9). Er werde aber verhindert, durch diese Fläche hindurch in den Raum überzutreten, für welchen Diese Bedingung lässt sich so aussprechen:


(13)


wenn gesetzt wird. Hier ist die Zusatzkraft , welche dieselbe Wirkung ausübt wie das Hindernis, gleich Null, so lange Sie ist positiv, wenn Ihr virtuelles Moment ist


(14)


wobei wieder durch die Gleichung (11) definirt wird. Dieses Moment ist so lange weil dann ist. Es ist Null oder positiv für Denn dann ist positiv und vermöge der Bedingung (13).

 Fassen wir die gewonnenen Resultate zusammen. Die Bedingungen, welche den Punkten des unfreien Systems durch die vorhandenen Verbindungen auferlegt werden, lassen sich analytisch ausdrücken durch Gleichungen oder Ungleichungen von der Form



Die Functionen sind abhängig von den Coordinaten der Punkte des Systems oder von einigen derselben. Das Princip des Lagrange ist jetzt in der Gleichung enthalten


(15)


Dafür kann man auch schreiben


(16)


Die durch das Zeichen vorgeschriebene Summirung bezieht sich auf sämmtliche Functionen , die in den Bedingungen des Systems vorkommen. Die Variationen sind der Reihe nach mit den vorläufig noch unbestimmten Grössen zu multipliciren. Die rechte Seite der Gleichung (16) ist entweder Null oder negativ, weil jedes einzelne gleich Null oder positiv ist.



§.41.
Fortsetzung: Bestimmung der Grössen .


 Es handelt sich nun noch darum, die Grössen zu bestimmen. Ihrer Bedeutung nach sind diese Grössen entweder gleich oder proportional den Zusatzkräften, welche man einzuführen hat, damit das System als völlig frei betrachtet werden könne. Nach Einführung der Grössen sind demnach die Variationen der 3 Coordinaten wieder von einander unabhängig. Man hat also in Gleichung (15) des vorigen Paragraphen für jedes zu schreiben



Man hat ferner, wie in §. 39, das Integral



zu transformiren. Nachher findet sich unter dem Integralzeichen, wenn alles zusammengefasst wird, eine Summe von Gliedern, welche der Reihe nach die Variationen als Factoren enthalten. Zur Erfüllung der Gleichung ist dann nothwendig und hinreichend, dass für sich besonders gleich Null gesetzt werde, was mit jeder einzelnen Variation multiplicirt ist. Dadurch erhält man die Differentialgleichungen der Bewegung, welche jetzt lauten


(1)




Als unbekannt sind in diesen Gleichungen anzusehen die Coordinaten, insofern ihre Abhängigkeit von gesucht wird, ausserdem aber ebenso viele Grössen , als Bedingungen in der Form gegeben sind. Die Gleichungen (1) und die analytischen Ausdrücke der Bedingungen sind also an Zahl ebenso gross wie die Anzahl der Unbekannten. So lange eine Ungleichung von der Form erfüllt ist, hat man das zugehörige zu setzen. Erst wenn die Coordinaten aufhören, die Ungleichung zu erfüllen, tritt die Gleichung in Kraft, und das zugehörige hat dann einen unbekannten Werth. Umgekehrt bleibt, wenn die Bedingung in der doppelten Form auftritt, die Gleichung allein nur so lange bestehen, als das zugehörige von Null verschieden ist, und von dem Augenblicke an, in welchem wird, erhält neben der Gleichung auch die Ungleichung ihre Gültigkeit. Man hat also immer ebenso viele Gleichungen als Unbekannte, und daraus geht hervor, dass die Grössen vermöge der vorhandenen Gleichungen bestimmte Werthe besitzen. Hat man diese ermittelt und in die Gleichungen (1) eingesetzt, so handelt es sich nur noch um die Integration von simultanen Differentialgleichungen, in welchen die Coefficienten sämmtlich bekannt sind.

 Um die Werthe der von Null verschiedenen Grössen zu ermitteln , hat man in den Gleichungen von der Form zweimal hinter einander nach zu differentiiren. Aus den so gewonnenen neuen Gleichungen, deren Zahl wieder gleich der Zahl der unbekannten ist, werden mit Hülfe der Gleichungen (1) die nach genommenen zweiten Differentialquotienten der Coordinaten eliminirt. Dadurch hat man die Gleichungen erlangt, aus welchen die Grössen sich berechnen lassen.  Diese Methode rührt von Lagrange her.



§. 42.
Fortsetzung: Andere Methode.


 Die Berücksichtigung der Bedingungen des Systems lässt sich auch noch in anderer Weise bewerkstelligen. Es seien diese Bedingungen in Gleichungen ausgesprochen:


(1)


Die Grössen sind gegebene Functionen der Coordinaten. Mit Hülfe der Gleichungen (1) kann man von den Coordinaten als Functionen der übrigen ausdrücken, und es werden dann, wenn man diese Abhängigkeit beachtet, die Gleichungen (1) identisch erfüllt. Man kann aber auch, — und das ist noch allgemeiner — neue Variable einführen und jede der Coordinaten als Function dieser neuen Variabeln so ausdrücken, dass die Gleichungen (1) identisch erfüllt sind. Geht man dann darauf aus, die Grössen nach dem Princip des Lagrange als Functionen von zu bestimmen, so ist dieses Problem von Nebenbedingungen frei.

 Um den eben ausgesprochenen Grundgedanken zu verwirklichen, hat man zunächst in die Functionen und die neuen Variabeln einzuführen. Es ist


(2)


Man hat aber


(3)




wenn zur Abkürzung für gesetzt wird. In den Gleichungen (3) sind bekannte Functionen von . Führt man also in die Gleichung (2) für die Ausdrücke ein, welche die rechten Seiten von (3) angeben, so geht dadurch in eine homogene Function zweiten Grades von den Grössen über, und die auftretenden Coefficienten sind Functionen von .

 Das Potential ist eine Function von .

 In unserm Problem wird die Anfangs- und die Endlage des Systems als bekannt vorausgesetzt. Es sind also die Anfangs- und die Endwerthe von bekannt.

 Gehen wir nun daran, das Prinzip des Lagrange in Anwendung zu bringen, so ist die Variation



herzustellen. Es findet sich



 Der Bestandtheil



ist zu transformiren. Wir erhalten



Der vom Integralzeichen freie Theil auf der rechten Seite dieser Gleichung fällt weg, weil für die Anfangs- und die Endlage des Systems ist. Also erhalten wir


(4)


Nach dem Princip des Lagrange ist nun



und zur Erfüllung dieser Gleichung ist nothwendig und hinreichend, dass während der Dauer der Bewegung zu jeder Zeit


(5)


sei. Diese Gleichung zerfällt in einzelne Gleichungen. Da nemlich die Variationen von völlig willkürlich und von einander unabhängig sind, so muss in (5) für sich gleich Null gesetzt werden, was mit jeder einzelnen Variation multiplicirt ist. Dadurch ergibt sich


(6)


und hierin ist der Reihe nach zu setzen. Dann hat man in (6) ein System von simultanen Differentialgleichungen, durch deren Integration die Grössen als Functionen von gefunden werden.



§. 43.
Der Satz von der Erhaltung der lebendigen Kraft hergeleitet aus dem Princip des Lagrange.


 Aus dem Princip des Lagrange lässt sich die Gültigkeit des Satzes von der Erhaltung der lebendigen Kraft herleiten, unter der Voraussetzung, dass das Potential die Variable nicht explicite enthält. Da der Satz von der Erhaltung der lebendigen Kraft in der Gleichung sich ausspricht:



so kommt es nur darauf an, zu beweisen, dass



ist. Nun berechnet sich aber


(1)


wenn , wie vorausgesetzt wird, die Variable nicht explicite enthält. Wir haben im vorigen Paragraphen gesehen, dass eine homogene Function zweiten Grades von den Grössen ist, also:


(2)


 Hier sollen und irgend welche ganzen Zahlen aus der Reihe sein. Jeder Werth, den annehmen kann, soll mit jedem Werthe von einmal zusammengestellt, und die entstehenden einzelnen Ausdrücke sollen addirt werden. Danach ist eine Summe von Gliedern, von denen jedes seinen eigenen Coefficienten hat. Diese Coefficienten, für welche wir allgemein die Relation feststellen, sind Functionen der Grössen .

 Aus der Gleichung (2) ergibt sich durch Differentiation



und ferner



In dieser letzten Gleichung wollen wir auf beiden Seiten mit multipliciren, dann für der Reihe nach alle ganzen Zahlen einsetzen und die Resultate rechts und links vom Gleichheitszeichen addiren. Dadurch findet sich


(3)


Betrachten wir zunächst den ersten Bestandtheil der rechten Seite. Es ist



und in Folge davon


(4)


Der zweite Bestandteil auf der rechten Seite der Gleichung (3) lässt sich schreiben



und demnach hat man


(5)


Benutzt man die Gleichungen (4) und (5), so geht die Gleichung (3) in folgende über


(6)


Das Princip des Lagrange spricht sich aus in der Gleichung (6) des vorigen Paragraphen, in welcher man der Reihe nach setzen darf. Multiplicirt man nun in dieser Gleichung auf beiden Seiten mit und summirt über alle Werthe von , so ergibt sich



Hier braucht man aber nur die eben abgeleitete Gleichung (6) zu berücksichtigen, um zu finden


(7)


d. h. mit Rücksicht auf (1):


(8)


und das sollte bewiesen werden.

 Die Untersuchungen der §§. 40 bis 43 sind in dem besonderen Falle anwendbar, dass die materiellen Punkte des Systems ihre gegenseitige Lage nicht ändern. Sie gelten demnach auch für die Bewegung eines starren Körpers. Die Lage eines solchen starren Körpers ist im Raume völlig bestimmt, wenn man sechs von einander unabhängige Grössen kennt, nemlich die drei Coordinaten eines mit dem Körper fest verbundenen Punktes, z. B. des Schwerpunktes, dann zwei Winkel, welche die Richtung einer geraden Linie festlegen, die durch jenen Punkt geht und mit dem Körper fest verbunden ist, und endlich ein Winkel, welcher die Lage einer Ebene bestimmt, die jene Linie in sich enthält und mit dem Körper ebenfalls fest verbunden ist. Bei der Bewegung eines starren Körpers hat man also diese sechs Grössen als die Variabeln zu nehmen.