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Schwester Brigitte

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Autor: Otto von Leitgeb
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Titel: Schwester Brigitte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16–21, S. 268–271, 288–291, 303–307, 319–323, 336–339, 352–355,
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[268]

Schwester Brigitte.

Novelle von Otto von Leitgeb.


1.

Der Kampf war beendet. Zwei Tage lang hatten die Truppen in zerstreuten Gefechten gerungen, den Feind aus der bedrohlichen Stellung zu verdrängen. Zwei Tage lang waren die kleine Stadt und die Ortschaften rings umher in schweren Pulverdampf gehüllt gewesen, so daß die Augustsonne wie durch ein weißes Nebelmeer brach. Und heute war die Entscheidung gefallen. Zahlreich waren auf beiden Seiten die Opfer an Mannschaft, an Pferden, an Equipage. Die weiten Felderstrecken zwischen dem Fluß und den Waldhügeln waren zerstört, zerstampft, von den Geschossen zerwühlt und vernichtet. Wo vor wenigen Tagen noch die wogende Saat geprangt, lag ein verwüstetes Blachfeld. Viele Gehöfte, die in dem von den Batterien bestrichenen Gebiete gestanden, lagen in Trümmer zerschossen andere waren geräumt und verlassen. Furchtbare Opfer hatte der Sieg gekostet, aber er war unser.

Eine feindliche Batterie, in halber Höhe am Ausgange der Thalsohle aufgefahren, hatte den Abzug der Truppen gedeckt, so daß an eine Verfolgung nicht gedacht werden konnte. Die Einnahme dieser Batterie war die letzte schwere Aufgabe der Sieger gewesen. Dreimal schmetterten die Trompeten die Signale zum Sturm, dreimal fegten die blitzenden Salven aus der Geschützreihe die Stürmenden zurück, ein Knäuel von Toten und ächzenden Verwundeten - alles hinabkollernd durchs Gebüsch, über die Grashänge, ins Bachbett. Die Batterie ist zu nehmen, um jeden Preis! - und das vierte Mal gelang es. Unter dem gellenden Hornruf der Signale rückten die Bataillone geschlossen vor, über die Steine, durchs Jungholz, durch Dorngestrüpp, beim Krachen der Geschütze, im prasselnden Gewehrfeuer. Ein letzter furchtbarer Anprall, das dumpfe Getöse des Handgemenges an den aufgeworfenen Schanzgräben, abgerissene Hornrufe, wie ein schwirrender Kampfschrei - und dann schwiegen die Geschütze plötzlich, nur vereiuzelt tönte hin und wider noch ein Gewehrschuß - die Batterie war genommen, die Bemannung niedergemacht oder gefangen. - Aber um welchen Preis! - Innerhalb der Schanze lag alles wirr durcheinander - Tote, Verwundete, umgestürzte Munitionskarren, zertrümmerte Lafetten, verendende Pferde, Waffen, Monturfetzen. Wo die Sieger das letzte Geschütz genommen, waren breite dunkle Flecken am Boden, wie auf einem Schlachtplatz. Zwei Kanoniere, die man nicht von ihrem Platze zu reißen vermocht, und die das Stück bis zum letzten Augenblick bedient hatteu, lagen da, der eine auf dem Rücken, langausgestreckt, den blutenden Kopf mit dem Todesgesicht am Fuß der Lafette, der andere, mit einem Fetzen in der starren Hand, ein formloser Klumpen, unter dem Geschützrohr.

Die Truppenreste sammelten sich und rückten ab. Ein paar Detachements wurden vorgeschoben und besetzten den Straßenzug. Im blutigroten Schein der tiefstehenden Sonne zogen lange Wagenkolonnen über die Walstatt - Geschütze, abrückende Munitionszüge, Gepäck- und Proviantwagen, dann Sanitätskolonnen. Und letztere blieben da, zerstreuten sich über das Schlachtfeld, Aerzte, Krankenwärter, Träger, barmherzige Schwestern. Langsam, in kleinen Abteilungen fuhren die Wagen mit den Toten und Verwundeten ab, eigenes Fuhrwerk und anderes aller Art, wie es zu requirieren gewesen: Mietwagen, strohbedeckte Bauernkarren, Leiterwagen. Langsam fuhren sie die Chaussee dahin, dem Städtchen zu. -

Eine Strecke Weges vor diesem, in einem weitläufigen offenen Garten, wo große Baumgruppen stehen, liegt zwischen Eichen und Tannen ein einstöckiges altmodisches Landhaus. Im Erdgeschoß war eine Ambulanz errichtet worden, die jetzt aungelassen und zum Lazaret nach der Stadt gebracht werden sollte. Das alte Paar, das einsam in dem Hause lebte, ein strammer hagerer Herr und eine silberhaarige rüstige Greisin, hatten sich vielen Dank verdient in diesen schweren Stunden. Jetzt sollte die Sorge und Unruhe, die in ihr stilles Leben gefallen war, wieder weggenommen werden. Nur einer, ein Schwerverwundeter, mußte hier belassen werden. Die alten Leute fanden es natürlich und sagten ihre beste Pflege zu. „Es ist der Lieuteuaut Georg Werter von den Sechser-Dragonern,“ sagte der Stabsarzt. „Sie wissen, vor dem Sturm auf die Batterie - eine Kartätsche hat ihm das Pferd unterm Leib weggenommen und er selbst ist durch einen Splitter auf der Brust verwundet, sehr schwer -“ der Stabsarzt sah den alten Herrn mit einem bedeutsamen Blicke an. „Es wäre ja möglich, daß er davonkommt, stark genug wäre er dazu. - Der muß hier bleiben, Herr Landrat. Einer der Aerzte wird täglich heraufkommen, früh und abends, und ich werde Ihnen eine Wärterin schicken, die hier zu bleiben hat. Haben Sie niemand im Haus, der sie in den nötigen Stunden ablösen könnte?“

„O ja, Frau Stübel, unsere Beschließerin; sie ist geschickt.“

„Sehr gut,“ sagte der Stabsarzt. „Das ist mir angenehm; wir haben keinen Ueberschuß. Ich werde gleich eine tüchtige verläßliche Person heraufbeordern. Gleich nach meiner Hinkunft will ich einen Zettel schreiben, daß Schwester Brigitte sich zwecks Pflege eines Schwerblessierten zu Landrat von Kolbing zu begeben und bis auf weiteres da zu verbleiben hat - bis auf weiteres. Es ist nur noch der Patient zu befragen, ob und wo er Eltern, Geschwister oder sonst jemand Nahestehenden hat - der Form wegen, Herr Landrat.“

Die Anfrage hatte keinen Erfolg. Lieutenant Georg Werter hatte niemand, keine Eltern, keine Geschwister. Er wurde in dem Eckzimmer des oberen Geschosses gebettet, dessen Fenster in den Garten gingen und wo man das Rollen der Wagen, die passierenden Truppen und Pferde von der Landstraße nicht hörte.

Schwester Brigitte kam. Es war ein hochgewachsenes Mädchen von schlanker Gestalt mit stillen Zügen, denen die von Luft und Wetter gebräunten Wangen den darin ausgeprägten Ernst verstärkten. Sie kam in einem kleinen Wägelchen angefahren und fand den Weg durch die leere Thorhalle über die Treppe zu den Wohnräumen hinauf. Oben begegnete ihr die alte Frau und sah das junge Wesen mit einer Art neugieriger Teilnahme an, wie Schwester Brigitte dastand in ihrem schwarzen Gewande, ein kleines Täschchen in der Hand, freundlich heraufblickend unter dem weißen Stirnbande ihres Schleiers. Sie wußte schon, wie es sich mit dem Kranken verhalte. Der Arzt hatte sie unterrichtet. So bat sie denn, ihm ihre Ankunft zu melden, damit er nicht überrascht werde.

„Aber Sie werden doch erst ablegen wollen?“ Schwester Brigitte lächelte ein wenig.

„Die kleine Tasche - ich lege sie indes hierher!“

Sie reichte Georg die Hand und beugte sich zu ihm nieder, einen Gruß in den Worten wie ihn die lange Uebung ihr gegeben. In ihre tiefe Stimme hatte die Natur selbst einen tröstlichen Klang gelegt. Des Kranken langsamer Blick haftete, den neuen Eindruck zu erfassen, auf den fremden Zügen. Von der untergehenden Sonne fielen die tiefgefärbten Strahlen seitwärts nach seinem Lager zu und gossen über Schwester Brigittens Gesicht einen dunkelroten Schein.

Sie sprach nichts weiter, um ihn nicht selbst zum Sprechen anzuregen, aber sie machte sich gleich zu schaffen an seinem Kissen, an dem Tischchen auf dem die Medikamente standen und das Verbandzeug, die Lampe für die Nacht. Seine Blicke folgten ihren Bewegungen durchs Zimmer. Es war eine Zerstreuung, eine Abwechslung. Und dann schloß er müde die Augen.

Die Schwester stand am Fußende des Bettes und betrachtete nachdenklich das Gesicht des Schlummernden. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, und während sie unbeweglich stand, senkte sich ihr Kopf tief herab. Dann hob sie die Arme und kreuzte sie fest über ihrem Busen, fast, als sollte diese Gebärde sie in einem stummen Gebete stützen.

Gegen den verbleichenden Abendhimmel sah Georg ihre Silhouette am Fenster, durch das man ein paar Baumwipfel und in der Ferne das schwache Profil des Hügelzuges erblickte.

Mit der Dämmerung ward es still. Das Landhaus war vom Militär geräumt, der Verkehr auf der Straße hörte auf. Von draußen wo der Kampf des Tages seine blutigen Spuren hinterlassen, sah man hin und herwandernde Lichter durch die Dunkelheit herüberschimmern.

Dann verstummte allmählich auch die geringe Bewegung im Hause. Gegen neun kam der Arzt mit flüchtigem Schritt und [270] nickte Georg zu - „Wie geht's? Wie geht's?“ Dann schienen die langsamen Blicke des jungen Offiziers die Antwort eher in den Zügen des Doktors zu suchen, als daß er sie selbst geben konnte, und leise zuckte er mit den Achseln. Aber der Arzt hatte auch keine Antwort erwartet. Er fühlte nach dem Pulse, betastete die Haut und entblößte endlich die Brust von dem Verbande. „Hier draußen sieht es gar nicht übel aus!“ Und zur Schwester Brigitte gewandt: „So, bitte, wollen Sie mir nun helfen; wir werden ihn aufstützen!“

Mit starken Armen und geübtem Griff nahm Schwester Brigitte Georg um die Schultern und stützte ihn. Sein müder Kopf lehnte an ihrer Brust, und der Arzt tastete und horchte ab.

„Gut - danke!“ Er gab dann noch eine oder die andere Weisung und ging. Die Schwester richtete die Kissen zurecht und die Decke, stellte die Lampe hinter den Schirm auf den entfernteren Tisch und neigte sich zu Georg herab.

„Wünschen Sie noch etwas?“

Er schüttelte leise den Kopf und ein schwaches, dankbares Lächeln glitt über seine Wangen. In seinen Augen lag etwas Gutmütiges, Hilfloses, beinahe Kindliches, das sie rührte.

„Nein - danke, danke!“

Er streckte die Hand ein wenig auf der Decke aus. Sie war schmal und fleischlos, und als Schwester Brigitte sie flüchtig ergriff, lagen die fieberischen Finger regungslos in der ihren.

„Nun werden Sie schlafen. Ich bin immer hier. Gute Nacht denn!“

Später hörte sie in dem großen Nebenzimmer den leisen Schritt der alten Frau.

„Wie geht es?“

„Es scheint, nicht schlechter.“

„Der arme Junge! - Mir schien der Doktor nicht recht zufrieden. Du lieber Gott! Welch bittere Zeit mußten wir noch erleben! Auch Sie müssen die Drangsale schwer tragen. Ich hörte ja - wie lange schon hatten Sie keine Rast! Sind Sie recht müde, mein Kind?“

„Nein,“ sagte Schwester Brigitte, „wir sind nie müde!“

„Frau Stübel kommt nach Mitternacht. Sie wird Sie auf einige Stunden ablösen. Sie wird Ihnen auch das Zimmer zeigen, wo Sie wenigstens die kurze Frist ausruhen können.“

Und dann setzte sich Schwester Brigitte in den großen altväterischen Lehnstuhl am Fenster, und alles schwieg. Sie hörte nur den leisen, unregelmäßigen Atemzug des Kranken oder eine unruhige Bewegung, die er auf den Kissen machte. Sofort stand sie geräuschlos an seiner Seite. Ist er wach? - Hat er Schmerzen - irgend einen Wunsch? Aber seine Augen waren geschlossen, er schien zu schlafen.

Und alles schwieg. Sie hörte nur draußen, im Garten, das leise Rauschen des Nachtwindes in den Baumwipfeln und hin und wieder den abgebrochenen Ruf eines Vögelchens, das irgendwo in den Zweigen nicht zur Ruhe kommen konnte. Es war so still - so still, als könnte man den eigenen Herzschlag vernehmen und die Schwingen der Gedanken, die durch die Seele flattern.

Nach dem unsteten Wanderleben der letzten Wochen umgab die Ruhe des Landhauses Schwester Brigitte doch fast mit einem Gefühle der Rast. Und in der Stille spannen sich ihre Gedanken zu verschlungenen Fäden aus. Eine Reihe grell erleuchteter Bilder, aus dem Lager, vom Marsche, vom Schlachtfeld, aus den Lazaretten, zog an ihr vorüber, wie etwas Ueberstandenes. Und weit hinter dieser Zeit knüpften sich die Fäden an ihre Erinnerung.

Die Gestalt ihres alten Vaters mengte sich darein. Sie sah sein scharfgeschnittenes, aber gutmütiges braunes Soldatengesicht vor sich, mit den hellblauen Augen, die so herzlich und frisch unter den buschigen Brauen hervorblitzten. Sie erinnerte sich der Sommerabende in dem Hausgärtchen der Heimat. Dort stand ein großer Kirschbaum, unter dem sie oft gesessen, der Vater und der Bruder, der jetzt bei seinem Regimente war, drüben an der Grenze. Ein bißchen scheu verweilte sie bei der Vergangenheit, die ja ihr Herz nicht mehr kennen sollte.

Vom Nachthimmel, auf dem langsam ein Stern nach dem andern aufgetaucht war, wandte sie ihren Blick ins Zimmer zurück. Sie nahm ihr Andachtsbuch vom Tische und beugte sich über die vergilbten, abgegriffenen Blätter. -

Als Georg am nächsten Morgen erwachte, wiederholte sich der neue und fremde Eindruck, den er gestern bei der Ankunft der Schwester gehabt. Nur erschien sie ihm größer, bleicher und ernster. Hatte er getränmt, daß sie, an seinem Bette stehend, sich zu ihm herabgebeugt, ihre Hand auf die seine gelegt und lächelnd ihm ins Antlitz geschaut habe?

Um Schwester Brigittens Augen lag ein bläulicher Schatten, als hätte ihr die erste Nacht im fremden Hause wenig Ruhe gebracht. Sie sah müde aus, und zwischen ihren Brauen zog eine feine Falte in ihre Stirne und gab ihr einen verschlossenen, fast strengen Ausdruck. Ihr sorgliches Wesen war indessen voll Beruhigung für den Kranken, der fieberisch und mit Unbehagen erwacht war. Mehrmals, wenn er den Arm gegen die verwundete Seite preßte und in einem plötzlichen Anfalle des Schmerzes die Augen schloß, war es wie eine Ermutigung, wenn er dann aufblickend zu ihr hinübersah. Denn keiner dieser Augenblicke entging ihr. Und dann lag in der kaum merklichen Gebärde, mit der sie ihm zunickte, ein ungesprochenes, tröstliches Wort.

Die Phantasien des Kranken hefteten sich an ihre Erscheinung. Er hatte sie so oft gesehen, diese stillen Frauengestalten. Sind sie Menschen wie die andern? - Sind es Wesen von Fleisch und Blut, mit Wünschen und Hoffnungen wie die andern? - Sind sie von dieser Welt, oder herabgestiegen aus dem Ewigen? - Und sind sie alle nicht ein Einziges - ein Gedanke, eine Idee, die menschliche Gestalt angenommen? - die Idee des Trostes, der Barmherzigkeit, des gestillten Schmerzes, die fleischgewordene Idee göttlicher Liebe; Abgesandte der Ewigkeit, Himmelsboten und Engel?

Vor seinen fieberheißen Blicken zerflossen die Umrisse ihrer Gestalt zu einer phantastischen Erscheinung. Ihr schwarzes Gewand wurde weiß und breitete sich aus zu einem weiten Mantel, der in reichen Falten von ihren Schultern wallte. Der weiche Schleier floß durchsichtig und glänzend, wie von Sonnenstrahlen gewoben, über ihr Haupt und von ihrem Nacken herab. Ihr schönes bleiches Gesicht war ruhig aufwärts gerichtet, und ihre Augen sahen mit übernatürlichem Glanze in den Himmel hinauf. Und zum Himmel streckte sie den schlanken Arm empor, von mattem Weiß, wie der reinste Alabaster. -

Schwester Brigitte legte leise die Hand auf seine Stirn.

„Sie sehen zu viel Licht,“ sagte sie. Dann ging sie und ließ die grünen Vorhänge an den Fenstern zur Hälfte nieder.

„Wir müssen Medizin nehmen jetzt.“

Georg nickte.

Sie goß das Medikament in den Löffel, trat zu ihm und stützte seinen Nacken mit ihrem Arm. Im unruhigen Bedürfnis, sich zu bewegen, setzte er sich halb auf, und während sie den Löffel an seine trockenen Lippen führte, neigte er den Kopf matt auf die Seite und lehnte ihn an ihre Schulter.

Nun sie ihn langsam wieder auf die Kissen niederließ, fiel ihr Blick auf die Wand gegenüber. Der Lichtstreif aus dem halbgeschlossenen Fenster hatte ihren Schatten hingeworfen. Dort ruhten ihre Köpfe aneinander und lösten sich nun wie aus einer Umarmung.

Als wollte sie eine Unruhe fortwischen, strich Schwester Brigitte mit der Hand über ihre Schläfe. Und vor Georgs leichtem Schlummer verschwanden die irrenden Bilder seiner Seele. -

Der Zufall stellte Schwester Brigitte ein Bild vor Augen, das die Vergangenheit verdeckt hatte, und das in ihrer Erinnerung verblaßt war wie die Empfindung eines fernen Traumes.

Aber als habe der Traum ein Leben für sich gehabt und ein Anrecht an ihr behalten, das stärker als die Kraft ihres Herzens war, zog er noch einmal an ihr vorüber, und das bleiche Bild nahm Leben und Farbe an.

Der kranke Fremdling war dem Freunde, von dem sie ihr Gedächtnis ewig geschieden meinte, so ähnlich, daß jeder Zug ihr mit grausamer Wirklichkeit jenen lebendig wieder vor Augen stellte.

Umsonst lehnte sie sich auf dagegen.

Die Thränen, die sie in der ersten Nacht geweint, waren wie neue Flut, die in das alte Strombett der Erinnerung fließt, daß die Wellen wieder rauschen unter den Zweigen, in deren Schatten wir geruht, am Wiesenrand, wo die Blümlein nicken, und durchs Thal, in dem die Sonne glitzert.

Sie konnte ihren Lauf nicht hemmen, die Stimme nicht zum Schweigen bringen, die in ihr laut geworden, und die alle die entrückten Stunden wieder aufrief und von der Vergangenheit sprach, mit ihrer Lust und ihrem Leid.

In ihrem Andachtsbuche stand der Satz: „Heilig ist die Hingabe Deines Lebens. Und thust Du etwas dawider, sei es auch mit dem flüchtigsten Gedanken Deiner Seele, so ist es Sünde!“

Die Worte schlugen auf ihr Herz wie die Hand des reuigen Beters. - Aber sie konnten ihr doch nicht helfen gegen die Flut [271] der Erinnerung, die den alten Weg gefunden hatte durch Sonne und Schatten ……

Sie war sich in den ersten Tagen beinahe müßig vorgekommen, wenn die alte Frau des Nachmittags darauf bestand, daß sie in den Garten hinabgehe, etwas frische Luft zu schöpfen, um die Zeit, wo die heiße Augustsonne sich tiefer neigte.

Jetzt nahm dies einen Zauber an für sie, und ehe noch der Vorwurf in ihr stark ward, daß ihre Schwäche sündhaft sei, spülten ihn die strömenden Gedanken hinweg, die die stummen Merkzeichen der Erinnerung aufsuchten und sie zusammentrugen, halb willenlos, doch mit Schmerz und liebevollem Eifer die Bilder aneinanderreihend.

An die letzten Gebüsche am Rande des Gartens stieß ein Wiesenplan, auf dem ein kleiner Bube Kühe weidete, und von der Rasenbank unter dem großen Baume, der dort stand, sah man über die Wiese und das kleine Buchenwäldchen, hinter dem in einiger Entfernung ein Kirchturm der Stadt hervorragte. Schwester Brigitte kehrte täglich zu dem stillen Platz zurück. Der kleine Hüterbube blickte manchmal aus der Ferne neugierig zu ihr herüber, oder er bekümmerte sich gar nicht um die fremde Erscheinung, spielte im Gras, rief seinen Tieren zu und stieß hin und wieder einen fröhlichen Jauchzer aus. Eigentlich fühlte er sich ein bißchen verdrängt, denn wenn niemand da war, lungerte er gern auf der Bank, spielte mit seinen Steinchen darauf und hatte im stillen von dem Platze Besitz ergriffen. Die Schwester fand manchmal die Spuren seines Spieles, bunte Steine, Holzstäbchen oder vertrocknete Blumen herum verstreut. Einmal hatte er gerade vor der Bank ein kleines Grabhügelein aufgerichtet, Leberblumen und Berberitzen staken darin und neigten sich welk zu Boden. Sie blickte lange starr auf den kleinen Erdhaufen nieder, bei dem das Kind an den Tod gedacht hatte.

Und wieder fluteten die Erinnerungen über sie.

Stille Tränen liefen über ihre Wangen. Sie verlangte nicht, sie zu hemmen.

So saß sie oft regungslos da, ein armes einsames Menschenkind, das sich demütig unter seinem Schicksal beugte.

Und so wie die vergangenen Jahre in ihrem Leben gestanden hatten, tauchten sie wieder empor, durch einen Zufall geweckt, als sei ihr geboten, sie nochmals durchzuleben, ihre Kraft daran zu prüfen.


2.

In dem kleinen dreifensterigen Hause, das den Winkel des Marktplatzes abstumpfte, spielte sich ein einfaches Familienleben ab. Das einzige große Ereignis, das bisher darüber hinweggegangen, der Tod der Mutter, lag mehrere Jahre zurück. Damals war der alte Lieutenant, wie man Herrn Krüger von seinem ehemaligen Stande her immer nannte, freilich in rechte Verlegenheit gekommen, denn die zwei Kinder waren bloß halbwüchsig, als der Tod die Hand der Mutter von ihnen wegzog. Aber es kam doch wider Erwarten gut. Käthe war ein verständiges Ding, das sich bald mit aller Würde in die Rolle einer kleinen Hausfrau fand, und Franz wollte schon bald auf eigenen Füßen stehen. Die Base guckte ab und zu in das Hauswesen herein, und so fand man sich allmählich in dem neuen Geleise zurecht, weil es schon nicht anders hatte sein sollen. Mit stiller Dankbarkeit gedachte der alte Mann oft der Toten, als er sah, welchen Segen ihr tüchtiges Wesen zurückgelassen. So konnte er nun ruhig an seinem Tische sitzen und der überwundene Schmerz ließ keine dauernde Sorge als Schatten hinter sich.

Käthes Bruder hatte einen Freund, den Sohn eines alten Kriegskameraden des Vaters, eine Waise, für den Herr Krüger aus treu und praktisch verstandener Freundschaft mit seinen einfachen Kräften sorgte, bis er heranwuchs. Er war mindestens zu allen Mahlzeiten im Hause, und obwohl die beiden Knaben ein paar Jahre älter waren als Käthe, stand sie doch noch zu ihnen und im gemeinsamen Umkreise von Interessen und Spielen. Dies um so mehr, als das einzige Mädchen, mit dem sie Umgang gehabt, Kaufmanns Gusti, drüben von der anderen Seite des Marktes, früh weggekommen war. Die Base erzählte, daß die neue Stiefmutter das Kind nicht leiden mochte, andere sagten, sie solle draußen erzogen werden, weil der Vater ein feines Fräulein aus ihr machen wollte. So schloß sich Käthe an die Knaben an, und da sie sich so nahe gestanden hatten, so weit ihre Erinnerung überhaupt zurückreichte, war auch Hubert nie anderes für sie gewesen als der eigene Bruder. Und der lebhafte gutmütige Junge mit dem blonden Krauskopf war von jeher ihr getreuer Kamerad. Die beiden behandelten sie im allgemeinen mit einem gewissen ritterlichen Respekt, wie ihn glückliche Anlage manchmal in kindlichen Herzen echter sein läßt als in erwachsenen. Aber hin und wieder, an den Sonntagnachmittagen, wenn Franz einmal mehr Freunde aus der Schule bei sich hatte und dann die beliebten Räuber- oder Kriegsspiele getrieben wurden und die eifernde Männlichkeit ein bißchen rauh und übermütig werden wollte, sprang doch der Abstand hervor zwischen dem einzelnen schwarzhaarigen Mägdlein in seinem unbewußt weiblichen Gefühle und der polternden Knabenrotte. Da konnte es denn auch zu Streit und Kränkungen kommen. Bei solchen Anlässen nun stand Hubert stets auf Käthes Seite. Es durfte ihr keiner ein Härchen krümmen, und wer ihr zu nahe getreten war oder gar einmal ein paar Thränen abgezwungen hatte, verfiel sicherlich seiner Vergeltung in Form einiger derben Püffe. So sammelte sich in dem kleinen Mädchenherzen ein Vorrat fester Dankbarkeit und Freundschaft.

Die Jahre flossen vorüber in ihrer Einfachheit. Und die Gestalt des Jugendfreundes rückte für Käthe in ein anderes Licht. Ihre jugendliche Phantasie verwob ihn in die Dichtungen, die sie kennenlernte. Und war es früher meist er gewesen, den sie in den Edelknappen und Rittern, in den mutigen Jägern und unglücklichen Prinzen der Märchen wiedererkannte, so konnte es später leicht geschehen, daß Siegfried oder Parcival ihm ähnlich sahen; und in Thekla von Gumperts Erzählungen konnte er ebenso plötzlich den Kopf durch die Fabel stecken wie in der Maßliebchenkette und in Ivanhoe, die nach und nach der kleine Weihnachtstisch brachte unter dem duftenden Tannenbaum.

Schließlich aber, jenseit der Grenze, wo sie den Kinderschuhen entwachsen war, blieb doch nichts von all dem Fremden an ihm haften. Dann war er nichts mehr als er selbst, und ihr Herz stand ihm immer gleich nahe, in dem Wohlgefühl vertrauter und sicherer Freundschaft, die das Wort entbehren kann.

Sie duzten einander wie früher. Er kam wie früher und suchte sie auf, in der Küche, in der Kammer, im Garten. Er durfte sie necken, bei den schwarzen Zöpfen nehmen, oder auch am Kopfe, wenn er, wie so oft als Kind, ihren Blick in eine bestimmte Richtung leiten wollte. Sie küßten sich auch, wie sie es als Kinder gethan, so, wenn sie gerade nebeneinander waren und der harmlose Wunsch es wollte, wenn er ihr für etwas zu danken hatte, oder wenn sie von ihm eine Aufmerksamkeit erwiesen bekommen. Im ganzen war er der Verpflichtete. Ihre frühe Selbständigkeit hatte ihr bald die Rolle des Hausmütterchens zugeteilt. Als die beiden Burschen dann zu großen jungen Leuten herangewachsen waren, gab es für die drei Männer im Hause mancherlei zu bedenken und zu besorgen, was sie mit fraulichem Wesen that, mit ihrem gleichmäßigen ruhigen Ernst und geräuschlosen Schaffen.

[288] Der schmale längliche Garten zog sich hinter dem kleinen Hause des alten Lieutenants hin bis unter die hohe, fensterlose Hintermauer der alten Gebäude auf der andern Seite. Wenn die Hausthüre offen stand, sah man vom Markte aus auf den Kiesweg, der zwischen den Johannisbeerstauden hinführte, bis zu dem großen uralten Kirschbaum hinaus. Unter dem stand eine Bank und ein verwitterter Tisch, in den Boden festgerammt. Der kleine Platz bildete den Mittelpunkt des Gärtchens, und außer dem Hauptwege ging sonst nur noch rechts und links je ein schmaler Steg zwischen den Gemüsebeeten vom Hause weg bis ans Ende. Des weiteren befanden sich nur wenige alte Obstbäume, ein paar blühende Büsche, ein paar Beete mit Levkojen, Rosmarin und hochstengeligen Lilien, und hier und da ein bescheidenes Rosenstöckchen im Garten. Den übrigen Raum widmete der Vater seinen Gemüsen, damit das Haus für seine eigene Küche aufkomme. Das war ein Gebiet für seine und Käthes emsige Arbeit. Als Kind hatte sie in einem Winkel ein eigenes Gärtchen gehabt, und es war eines ihrer Lieblingsspiele gewesen, daß die beiden Knaben bei ihr in Tagelohn traten und fleißig arbeiten mußten. Am Staket, gegen die Straße, standen einige Sträucher, die den Staub und fremde Blicke abhalten sollten, und in der Ecke vorn, wo sich das Gärtchen ans Haus schloß, gab es den einzigen Luxus der ganzen Anlage, eine kleine, aus schmalen Fichtenlatten zusammengenagelte Laube, ganz von Geißblatt überwuchert, wo der Vater an Sommerabenden seine Pfeife rauchte, seine Zeitung las, auf den Markt hinaus sah, oder auch wohl mit einem vorübergehenden Nachbar plauderte.

Indessen hatte sich mit vorrückender Zeit der kleine Kreis im Hause noch vermindert. Bruder Franz fand auswärts eine Stelle, und Hubert trat beim Forstamte in Dienst, weshalb auch er nicht mehr so regelmäßig kam wie früher. War er aber frei, so verbrachte er seine Zeit doch hier; am Tische war sein Platz immer gedeckt, und weil gerade er von den beiden zurückgeblieben war, wurde er noch mehr wie ein Kind vom Hause. –

An dem alten Kirschbaume war ein Ast verdorrt, und das tote Holz zwischen dem kräftigen Blätterwerk beleidigte Käthes Augen schon lange, bis sich Hubert eines Tages erbot, hinaufzusteigen und den Knüppel herunterzuhauen. Er nahm eine Axt mit. Käthe hatte ihre Handarbeit auf den Tisch gelegt und sah ihm lachend zu, wie er sich vorerst mit einigem Abmühen an dem dicken Stamme bis zu den untersten Aesten emporarbeiten mußte, weil er eine Leiter verschmäht hatte. Die Sommersonne blitzte in den Zweigen, und eine geschwätzige Spatzenschar schwirrte aus dem Wipfel davon, als das Rumoren unten begann. Und dann hackte Hubert darauf los, daß die Späne flogen. Aber ein Unglück stand bevor. Von kräftigem Schwung geführt fuhr die Axt nieder, unwillkürlich ließ die getroffene Linke den Ast fahren, Hubert schwankte und faßte in die knackenden Zweige, es rauschte in dem alten Baum, und mit dröhnendem Aufschlag stürzte Hubert zu Boden.

Käthe lief in namenlosem Entsetzen herzu und beugte sich über ihn. Als sie das Blut sah, schrie sie laut auf und kalter Schweiß trat auf ihr bleiches Gesicht. Hubert lächelte und sagte: „Es ist ja nichts – erschrick nur nicht!“

Mühsam raffte er seine schmerzenden Glieber auf, mußte sich aber kräftig auf den Tisch stützen, um in einer Anwandlung plötzlicher Schwäche nicht umzusinken. Er war an der Kante des Tisches schwer aufgefallen, und aus einer Schramme unter dem Haar lief das Blut über seine Stirne.

„Hübsch muß ich aussehen!“ sagte er. „Geh, Käthe, bring’ mir etwas Wasser und ein Tuch!“

Sie war schon fortgeeilt ins Haus.

Und dann kam der alte Lieutenant, so rasch er eilen konnte. Erschrocken war er zwar auch sehr, aber merken ließ er nichts davon, und zu allererst mußte ein Verweis kommen.

„Natürlich, mein Junge, nur immer recht verständig! – Das will ein Forstmann werden! – Dazu nimmt man eine Säge und nicht ein Beil. – Leg Dich nun hin. Käthe wird auch ein Kissen bringen. – Zeig’ ’mal die Hand her! – Recht hübsch! – Und da hat er sich richtig den Kopf aufgeschlagen. – Na, sei froh, daß er so hart ist! – Es ist nur eine tüchtige Schramme. Ihr Lotterbuben, Ihr!“

Hubert kannte den alten Herrn zu wohl, um nicht zu merken, daß durch sein Schelten die Bewegung zitterte. Aber er hielt sich ganz still, schloß die Augen und lehnte den schmerzenden Kopf zurück.

Käthe kam mit einem Waschbecken, mit Tüchern und einem Kissen. Er mußte sich nun doch hinlegen. Sie wusch ihm Hand und Kopf und legte einen Verband an, so gut es ging. Viel Aufhebens machte man nicht über derlei Geschehnisse in Krügers Haus, und die jungen Leute hatten gelernt, kein ratloses Lärmen zu machen, wo man einfach zugreifen soll. Aber in ihrem Herzen bebte eine große Angst, und wie ihre Hände zitterten, konnte sie nicht verbergen.

„Ganz dumm war ich – der Vater hat recht!“ sagte Hubert und drückte sich das kalte Tuch fester an die heiße Stirn.

„Sei nur ruhig jetzt,“ mahnte Käthe. „Jetzt mußt Du einmal still halten. Er ist nach dem Doktor gegangen. Indessen mache ich Dir Umschläge. Hast Du Kopfschmerzen?“

„Nein – aber so ein Lazarett lasse ich mir gerne gefallen, und Schwester Käthe als Pflegerin!“

„Sei nur recht ruhig,“ sagte sie.

Der Vorwurf nagte an ihr, daß sie mit schuld sei an dem Unfall, und während sie neben seinem Kopfe auf der Bank saß und vor sich hinsah, wie sich die Strahlen der Nachmittagssonne über das Gärtchen neigten, brannte es ihr unter den Wimpern.

Der alte Doktor hatte sich rasch eingefunden. Er untersuchte die Wunden und schüttelte den Kopf.

„Das an der Hand – ist gar nichts. Verharscht in ein paar Tagen. Oben hätte es schlimmer sein können. Aber zum Glück hat er einen harten Schädel. Daß Sie mir aber hübsch ruhig bleiben! – Bravo! Käthe macht das prächtig. Lassen Sie ihn aber gar nichts sprechen. Und wenn’s ihm gefällt, kann er ja da heraußen bleiben, es ist ganz hübsch kühl und schattig – wenn’s ihm nicht zu hart wird! Abends dann früh zu Bett, und morgen werden wir weiter sehen.“

Während Käthe nun da auf der Bank saß und sich bemühte, Hubert zuweilen etwas Vergnügliches zum Trost zu sagen, rauchte der alte Lieutenant seine Pfeife und ging auf dem Seitenwege auf und ab. Sie sah seine hagere, etwas gebückte Gestalt ab ünd zu zwischen den Büschen erscheinen und erkannte aus den rascheren Schritten und aus den tieferen und eiligeren Zügen, womit er den Rauch von sich paffte, daß er sich noch nicht beruhigt hatte.

Wenn sie auf Huberts Stirn den Umschlag wechselte, mußte ihre Hand einen Augenblick auf seinem dichten Kraushaar liegen. Und hinter ihm sitzend betrachtete sie sein Gesicht. Ihr war mit einem Male, als hätte sie den Jugendfreund noch niemals so recht angesehen, seit er herangewachsen war zu einem jungen Manne. Ueber den schmalen Lippen streckte sich ein kleines Schnurrbärtchen, und etwas von männlicher Reife lag auf seinen leicht gebräunten Wangen.

Die Sonne sank hinter den Häusern; unbemerkt verging die Zeit.

Einmal blieb ihre Hand ruhig auf seinem Scheitel liegen, als ob das dichte weiche Haar ihre Finger festhielte.

„Käthe, was für eine gute kühle Hand Du hast!“ sagte Hubert, und sie zog betroffen wie von einer unbewußten Bewegung, den Arm zurück.

Der Vater kam.

„Nun steh’ ’mal auf, mein Junge; wir wollen sehen, wie es geht! Nun? – Da sieh, Käthe! Wie ein verwundeter Soldat sieht er aus.“

Hubert lächelte.

„Morgen wird alles wieder gut sein. Jetzt solltest Du nach Haus, und da legst Du Dich dann gleich hin.“

„Ich bin ja aber ganz wohl.“

„Thut nichts, Du wirst dann noch wohler sein. Ein andermal mach’ es klüger! Jetzt mußt Du wie ein Blessierter über den Markt marschieren. Ich werde Dich begleiten.“

Hubert scherzte noch in seinem Dank an Käthe, und dann blieb sie allein zurück.

[290] Sie saß noch eine ganze Weile, während der Abend hereinbrach und die Dämmerung unter den Bäumen und aus den Büschen wuchs. In den Zweigen über ihr huschten unruhig ein paar Vöglein und suchten eine Ruhestätte. Sie hörte auf dem holperigen Pflaster des Marktes langsame Ackerfuhrwerke vom Tagewerk heim- und vorüberziehen. Am Himmel verblaßte das Abendrot und über die Giebeldächer senkte sich leise die Dunkelheit in den kleinen Garten hernieder. Sie unterschied die Beete und Sträucher nicht mehr, nur die hohen Lilien leuchteten noch mit ihren blendend weißen Blüten auf, wie Sterne in der Finsternis. Und aus den alabasternen Kelchen stieg eine Welle von schwerem Wohlgeruch empor in den weichen Sommerabend und flutete wie ein Dunstschleier durch die Luft. So sandten die Blumenkelche gleich Räucherschalen ihren duftenden Hauch der geschiedenen Sonne nach. Die Nacht verwischte die einengende nächste Umgebung. Und so schien es auch Käthe, als blickte sie ins Unendliche und Grenzenlose, auf dem der Gedanke schwimmt wie der Blumenduft im lauen Sommerabend, wie sie dasaß im tiefen Schatten unter dem alten Baume und ziellos sinnend in die Dunkelheit sah.

Hubert wohnte in der nächsten Nähe. Vom Fenster ihres Zimmers, an das der kleine Erker stieß, konnte Käthe den Dachfirst sehen. Das Haus lag in einer der benachbarten Gassen, wo eine ganze Reihe alter, schiefwinkeliger Wohnhäuser stand, die ihre hohen Dächer aneinander lehnten und sich zusammenzudrücken schienen, als ob sie scheu auswichen vor dem neuen Baugeiste, der hier und da in dem Städtchen mit dem Alten aufräumen wollte.

Auch an jenem Abend stand Käthe am Fenster, ehe sie sich zur Ruhe begab. Ganz verlassen und still lag der Markt da, und der Mond konnte ungestört herumleuchten über das holperige Pflaster und in den offenen Hausflur. Kein Laut regte sich außer dem schwachen Plätschern des Brunnens. Um den sandsteinernen Flußgott oben, der nicht müde wurde, seinen Krug auszugießen, flimmerte das Mondlicht, und wie Silberstaub blitzten die Tropfen, in die der dünne Wasserstrahl zerstob, sobald er auf der leeren Platte unten aufiel.

Ebenso fließen die Empfindungen hin und die Menschenträume. Sie fallen in unseren Herzen auf und sprühen in kleinen Tropfen empor. Sie sind ein kalter, feindlicher Regenschauer, wenn es dunkel ist in uns, aber sie leuchten und schimmern wie Perlen, wenn ein Licht ausströmt von unseren Herzen, und dann spannt sich eine farbenprächtige Iris über unseren Weg und wir wandeln in ihrem Glanze.

Am nächsten Tage war Hubert wohlauf, bis auf die Hand. Er kam wie gewöhnlich vorüber auf seinem Wege ins Amt. Sie begegneten sich im Flur. Er hielt sie ein wenig fest und tröstete sie scherzend über den gestrigen Schrecken. Wie von der Neckerei geweckt, zog eine dunkle Röte auf ihren Wangen auf, und da der Vater eben aus dem Garten hereintrat, drehte sie sich beschämt auf den Hacken um und schlüpfte in die Küche.

Und in dem keuschen Mädchenherzen war eine stille, tiefe Neigung sich ihrer bewußt geworden; eine scheue Knospe war aufgegangen, wie des Maien Blumenflor.

Sie trug ihren süßen Traum verborgen in sich. Es war ihr, als müßte sie ihn schützen vor aller Augen; auch vor ihm, dem ihr Herz entgegenschlug. Und sehnte sie sich nach dem Augenblicke, wo er unter die Thüre trat, so trieb es sie manchmal dennoch fort aus seiner Nähe. Eine Umwandlung ging vor in ihr. Die kindliche Unbefangenheit war gewichen, die Morgenröte, die über ihrem Leben gelegen, zerflossen vor einem neuen, hellen Tage. Ein Rätsel lag in ihr. Und alles um sie wurde größer und weiter. Anders verstand sie nun den blauen Sonnenhimmel, die stillen, lauen Abende, die silbernen Mondscheinnächte. Das Gärtchen wurde etwas anderes; der alte Markt mit seinen grauen Häusern und den grünen Läden ein neues Bild. Etwas Großes, Freies, Göttliches dehnte ihre Brust aus, ein Gesang ohne Worte, eine Sehnsucht ohne Namen.

Der Glanz ihres Herzens leuchtete in ihren Blicken. Ihre schlanke Gestalt streckte sich, und ihre Stirn trug sie höher als früher, als wollte sie ein göttliches Fingerzeichen weisen. In ihrer Brust klang beständig ein verhaltener Jubel und eine Art von Verklärung kam in ihr Wesen – das höchste Geschenk der Gottheit, das sie nur den Auserwählten gewährt: die Liebe zu kennen als wunschloses Gebet, als Erwartung ohne Gestalt, als Sehnsucht ohne Ziel, die Liebe in ihrer himmlischen, selbstlosen Zaubermacht, wo sie noch nicht fragt um Gegenliebe.

So kam sie einmal in den Garten hinaus, gegen den alten Kirschbaum, wo Hubert saß, und er sah ihr mit einer Art Verwunderung entgegen.

„Je, Käthe, was bist Du nun eigentlich schon für ein großes Mädchen! Freilich, am letzten Geburtstag warst Du ja neunzehn. Ein respektables Alter,“ setzte er neckend hinzu.

Sie lachte. „Ja, zeig’ nur rechten Respekt!“

„Natürlich! – Aber sag’ mal, scheint’s Dir nicht zuweilen einförmig hier?“

„Wie meinst Du das?“

„Nur so! – Du hast ja noch nichts gesehen als unsern schönen Markt und die alten Häuser; Franz ist auch fort. der Vater ist alt.“ Seine Mundwinkel zuckten mutwillig, und er setzte hinzu: „Ihr werdet ja nicht immer so einsam bleiben wollen –“

Aber Käthe entging geschickt seiner anzüglichen Rede, kramte in ihrem Arbeitskorb und holte ein paar Küchentücher heraus, die sie einsäumen wollte.


3.

Als der Sommer zu Ende ging, kam Kaufmanns Gusti heim aus einem Institute, wo sie ein paar Jahre unterrichtet worden war. Ihr erster Besuch galt der alten Freundin drüben in dem Häuschen an der Ecke, und dann kam sie fast jeden Tag. Sie war viel gebildeter als Käthe, sie hatte mehr gelesen und gesehen und nahm manchmal einen Ton der Ueberlegenheit, der Weltkenntnis an. Auch lauter, gesprächiger und lustiger war sie als Käthe und schüttete über die Freundin, nachdem die richtige Anknüpfung nach den Jahren der Trennung sich wiedergefunden hatte, wahre Sturzwellen von Erzählungen des Erlebten und Erschauten aus.

Kam Hubert dazu, so entspannen sich zwischen ihr und ihm oft lustige Neckereien, wovon er gar kein Ende finden konnte, als ob seiner mutwilligen und fröhlichen Natur bisher die Gelegenheit dazu nicht ausgiebig genug geboten worden wäre. Lächelnd saß dann Käthe mit ihrer Arbeit dabei.

Jähes Unwetter blies die letzten schönen Spätsommertage davon. Der Herbst riß die Blätter von den Bäumen, zerzauste im Garten die Büsche und entblätterte die letzten Rosen. Auf den Feldern draußen sammelten sich schreiende Krähen zu Scharen und stelzten über die Aecker. Zerrissene Regenwolken flogen über die Häuser weg und gossen Tag um Tag ihren Inhalt herab, daß am Markte schon große Tümpel standen und die alten Häuser mit den graugesprenkelten Fassaden und den moosigen Schindeldächern völlig verwaschen dreinschauten. Neben Käthes Fenster platschte aus dem aufgesperrten Drachenmaul der Dachrinne unablässig ein dicker Wasserstrahl herab und das blecherne Ungetüm schien eine schadenfrohe Grimasse zu schneiden vor Freude über das Gepolter. Die Abende wurden lang, und da man noch nicht heizen wollte, saß man frierend in den Zimmern.

Noch vor dem Allerseelentage wirbelten die ersten Flocken nieder und die alten Leute, die überall ein bißchen das Privilegium haben, für Wetterpropheten zu gelten, sagten einen strengen Winter an.

„Das wird hübsch für mich,“ meinte Hubert. „Ich habe nun ein paar Monate Dienst im Forst draußen. Geh, Käthe! Könntest mir wieder einmal ein Paar dicke Fäustlinge stricken, und wenn ich sie früher als erst um Weihnachten bekomme, will ich Dein mildthätiges Herz preisen!“

Sie machte sich im Verborgenen gleich daran, schaffte sich eine dicke warme Wolle an und arbeitete des Abends, wenn sie allein in ihrem Zimmer saß. An dem ablaufenden Faden zwischen ihren Fingern hingen tausend Gedanken. Wenn sie die fortschreitende Arbeit prüfend betrachtete, dachte sie an seine Hand, und der Handschuh weckte eine ganze Reihe von Bildern vor ihr: den einsamen Wald mit den weichen Schneelasten auf den gebogenen Tannenzweigen, die Triften, ganz verhüllt in der weißen Flaumdecke. Ausgestapfte Fußpfade gehen über den Schnee, über den ab und zu verdorrte Farne hängen, und die wenigen braunen Halme, die so lang gewesen, daß sie noch herausragen können. Wildspuren kreuzen den Weg. Wie verlassen muß es dann draußen sein, beinahe unheimlich!

Auch der Garten lag ganz vereinsamt, verweht und begraben im Schnee. Die Thüre, die hinausführte, blieb geschlossen, und der halbdunkle Flur bekam ein kaltes, ungemütliches Aussehen. [291] Dann spann sich das ganze stille Leben des Hauses in der Wohnstube drunten ab, wo der alte schwere Ofen aus grünen Kacheln in der Ecke stand, mit der Ofenbank, wie zu Großväterzeiteu. Dort war es hübsch behaglich. Am Fenster, von wo man auf den winterlichen Markt hinaussah, stand Käthes Nähtisch, nahe beim Ofen Vaters großer Lehnstuhl mit dem grauen Leinenpolster, an der Wand ein altes ledernes Sofa, in der Mitte des Zimmers der kleine runde Tisch und ein paar Stühle.

Auch Hubert verbrachte seine Abende meist hier. Sie plauderten dann oder es wurde etwas vorgelesen. Nicht selten erzählte der Vater von den fernen Jahren seines Soldatenlebens, Episoden aus dem Kriege, vom Schlachtfeld. Er konnte sich ganz erwärmen dabei und seine Pfeife vergessen, so daß Hubert eine frische Kohle darauf legen mußte, denn eine türkische Pfeife, sagte der alte Herr oft, dürfe man nur auf solche Art in Brand setzen. Im Ofen summten die Kloben, oder die Aepfel, die Käthe auf die Platte gethan hatte, zischten vor Hitze und einer oder der andere, der es schon gar nicht mehr aushalten konnte, platzte schnaufend auseinander. Das Licht der Lampe floß gedämpft unter dem Schirm aus grünem Glanzpapier hervor und die ausgeschnittenen Rosen und Nelken von Papier waren fast so schön gefärbt wie ihre lebenden Schwestern in der Sommerszeit.

Manchmal blieb Hubert tagelang aus, wenn er auf der entfernten Försterei war. Dann wanderte Käthe in Gedanken stets mit ihm und diese Wanderungen, ihr unberührtes Eigenstes, waren mehr als ihr halbes Leben. Einmal, eines Nachmittags, als sie in der Wohnstube saß und dem Vater im Lehnstuhl die Pfeife langsam zwischen die Kniee hinabgeglitteu war, weil der alte Mann einen Augenblick eingenickt war, blieb ihr Blick länger als sonst auf ihm haften. Es war ganz still drinnen, nur das schwere langsame Ticken der alten Wanduhr tönte und das schlürfende Surren, das sie immer ausftieß, wenn der Pendel nach rechts schwang. Da fiel Käthe mit einem Male das Wort ein, das Hubert damals scherzend gesagt: „Wollt Ihr denn immer so einsam bleiben?“ Eine jähe Röte sprang auf ihre Schläfen und sie erhob sich so ungestüm vom Stuhle, daß der alte Mann darüber erwachte.

Doch Kaufmanns Gusti brachte ein ganz ungewohntes Leben in den kleinen Kreis. Anfangs machte es Käthe beinahe ein bißchen verlegen, die Freundin abends in ihrer einfachen Wohnstube zu sehen, weil sie es zu Hause so viel besser hatte. Aber Gustis Art half ihr bald darüber hinaus. Manchmal jedoch glaubte Käthe aus irgend einem Worte doch etwas wie Hochmut oder Stolz herauszuhören. Aber der Vater, dessen scharfem Auge es nicht entging, verwies es ihr, und dann bat sie Gusti im stillen ihr Unrecht ab. Der Vater und Hubert schienen den heiteren Gast gern zu sehen. Sie wußte immer etwas Neues zu erzählen, sie erspähte die kleinen Gewohnheiten des Alten, ja, sie kam bisweilen Käthe in irgend einem Dienst zuvor. Sie hatte eine einschmeichelnde Art, Hubert von seiner Jägerei erzählen zu machen, vom Jagdleben und vom Wald, den er sehr liebte.

„Die Gusti ist ein kluges Mädchen,“ sagte er einmal, als von ihr die Rede war und der Vater meinte, was die Mädchen heutzutage nicht alles lernen müssen – wie die Jungen! Käthe fühlte die Lücken in ihrem armen Wissen, als ob sie Risse und Löcher an dem Kleide entdeckte, das sie trug, und im geheimen las sie sich neue Kenntnisse zusammen aus den Schulbüchern, die der Bruder zurückgelassen und aus einem alten Konversationslexikon, das im Hause als ein Schatz betrachtet wurde. Denn manchmal kam etwas zur Sprache, wovon sie nichts wußte und wozu sie ehrlich schweigen mußte. Dann war sie froh, ihre Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu lenken, damit keine Seele ahnen konnte, was für eine Art von Unruhe ihr förmlich das Herz schneller pochen machte. Freilich war sie sich eigentlich nicht recht im klaren über den Wert dessen, was Gusti aus der Schule mitgebracht hatte. Das lebhafte junge Mädchen warf in ihrer beweglichen Art, zu fragen und zu antworten, die Gegenstände oft mutwillig durcheinander. Aber dennoch schien sie einen gewissen Eindruck damit zu erreichen, der sie ein ganz klein wenig selbstgefällig machte. Auch nannten sie die beiden Männer „Fräulein Gusti“.

Den Schnee von den Füßen stampfend, trat Hubert eines Nachmittags in den Flur, so recht mit warmem Behagen die Wohligkeit des Heims empfindend, das ja von Jugend auf so gut wie sein eigenes war. Er warf draußen den Mantel ab und trat ins Zimmer. Käthe war allein. Ueber ein Buch gebeugt, saß sie beim Tische, und der Schein der Lampe fiel auf ihr Haar und ihre Wangen, die ganz erhitzt waren, so sehr hatte sie sich vertieft gehabt in die Verschwörung Catilinas und andere römische Historien. Sie legte das Buch rasch fort.

„Was hast Du denn da?“ fragte Hubert, der hinter ihren Stuhl getreten war.

„Ach – nichts! man muß nur manchmal wieder etwas lesen. Man vergißt gar so bald, was man einmal gewußt hat.“

Hubert hatte den Arm um ihren Nacken gelegt, beugte sich zu ihr herab und küßte sie auf die Wange.

„Grüß Dich Gott, Käthe!“

Sie hatte sich im Stuhle zurückgelehnt und es kam über sie wie eine Art Lähmung. Er hatte sie so lange nicht mehr geküßt, und was ihr früher einfach und natürlich erschienen, hatte nun für ihr Herz einen so anderen Sinn. Fast bestürzt erhob sie sich, damit er nur ihre Bewegung nicht merke.

„Mach’ Dir’s bequem, Hubert! Das muß ja ein anstrengender Weg gewesen sein, heute! Ich muß in die Küche. Wir wußten nicht, daß Du kommst.“

Indessen streckte er sich behaglich in der Sofaecke. Herrlich war’s in der warmen Wohnstube. Dann nahm er Vaters Zeitung, schob Käthes Buch und Arbeit zur Seite und las, was man aus der Welt erzählte. Mitten im Lesen kam ihm die Empfindung seines tüchtigen Appetits. Einmal stand er auf und sah nach, ob keine Aepfel auf der Platte lägen, aber sie waren noch nicht da.

Gusti Meier trieb auch Musik. Wenn Käthe hinüberkam, spielte sie ihr öfter etwas vor, oder sie sang. Denn sie hatte keine üble Stimme.

„Sag’ mal, Käthe, ist das wahr, daß Hubert so nett singen kann? Der Lehrer meinte neulich, wie gerne er ihn Sonntags auf dem Chor haben möchte, er sei aber gar nicht zu bekommen.“

„Ja, ja! Er hat eine gute Stimme und wohl auch Begabung dazu. Nun muß er aber ganz heraus sein.“

„Wie schade! – Glaubst Du nicht, daß wir ihn überreden könnten?“

„Ich weiß nicht,“ sagte Käthe.

„Nun ja,“ fuhr Gusti fort. „In der Kirche, Sonntags, das ist schon etwas anderes. Es wird ihm gerade nicht passen. Aber hier – der Vater hätte sicher nichts dagegen. Denk’ Dir, wie hübsch! Wir könnten ’was einstudieren, und dann geben wir einmal ein förmliches Konzert – freilich! Paß auf, ich werd’ ihn schon bekommen!“

[303] Gusti ließ nicht mehr ab von dem Plane des gemeinsamen Musizierens. Hubert sträubte sich und sagte, er habe ja nie etwas Ordentliches gekonnt. Aber endlich mußte er wohl oder übel doch nachgeben, und so ging er einmal mit Käthe hinüber.

Im Anfang sangen sie bloß die alten Kinderlieder, die sie einst in der Schule gelernt hatten. Sie sangen: „Weißt Du, wie viel Sternlein stehen“, „Zu Mantua in Banden der treue Hofer war“ und „Die Lorelei“. Aber Gusti wollte höher hinaus und entwickelte einen wahren Kunsteifer. Hubert mußte ihr versprechen, daß er einmal etwas einstudieren komme, ganz ernstlich.

Eines Tages sah ihn Käthe über den Markt und drüben in Meiers Haus gehen. Es regte sich etwas in ihrem Herzen, das sie bisher nicht gekannt hatte, eine neidische Empfindung. Und gleich darauf überfiel sie ein Schamgefühl deswegen und dieses quälte sie noch ärger.

Abends war Hubert da, lachte und sagte, daß Gusti ganz des Teufels sei mit ihrer Musik.

Als Weihnachten herankam, wurde in Käthes Herz ein Gefühl lauter, das in den letzten Monaten unbewußt immer durch ihre Seele geflossen war, das Gefühl einer Erwartung. Aber es war nicht die süß unruhige Erwartung, die wir alle als Kinder gekannt haben, wenn wir wußten, daß der Christbaum schon im Hause war, wenn es förmlich schon ein wenig zu duften begann von Tannenharz und Weihnachtskerzlein, eine fröhliche Feststimmung sich vorbereitete und alles in und um uns wie von einem geheimnisvollen Lichte umgeben schien, von einem verheißenden Glanz der kommenden Weihnachtsfreude. Nicht das war es, vielmehr eine Spannung, die sie nicht in Worte zu kleiden wußte, eine heimliche Hoffnung und zugleich ein nagender Zweifel; die quälende Erwartung, es müsse doch einmal etwas antworten auf die Frage, die immer an ihr Herz pochte mit sehnsuchtsvollen Gedanken.

Wie jedes Jahr richtete Käthe in der Wohnstube ein kleines Bäumchen auf, und Hubert half ihr schon am Abend vorher ein paar Aepfel vergolden und die alten Nüsse in stand setzen, die immer von einer Weihnacht zur andern aufgehoben wurden. Sie scherzten und lachten dabei, und es waren selige Stunden für Käthe. Auch den alten Baumschmuck aus Flittergold und farbigem Papier holten sie hervor.

„Ja, Käthe! Da haben wir manches Stück wohl noch als Kinder zusammengekleistert! – Da! Erinnerst Du Dich an diesen kühnen Stern? Der ist von Dir – und da ist noch einer. Ein prachtvoller Komet! Der stammt von mir. Schau, schau – wie sie noch hübsch beisammen sind! Die Ketten – mir scheint, die hat Franz geschmiedet. Wir zwei aber gingen mehr aufs Kunstvolle. Die grünen Reiser an den Wänden dürfen heuer auch nicht fehlen. Morgen gehe ich und zwicke dem Garten ’was ab.“

Und so war es wieder einmal Weihnachten. Sie standen frohherzig vor dem kleinen Baum. Die Lichter knisterten und das Flittergold leuchtete. Hin und wieder rauchte es an einem Zweiglein, und ein träumerischer Weihnachtsduft erfüllte die kleine Stube. Der Vater saß in seinem Lehnstuhl und machte glückliche alte Augen.

„Daß der Franz nicht da ist! – Wie schade, daß er nicht da ist!“ wiederholte er öfter, nahm dann sein Mädchen beim Kopf und küßte es mit der schlichten Innigkeit, die für die Kinder von jeher etwas Heiliges gehabt hat an den Wendepunkten im Jahr, wenn der Vater sie ans Herz zog.

Die kleinen Bescherungen wurden immer wieder zur Hand genommen und betrachtet, und eines machte dem andern lachende und liebevolle Vorwürfe über die Unkosten, in die sich alle begeben hatten. Dann setzten sie sich an den Tisch, der ein festliches Ansehen hatte. Käthe hatte einen großen Weihnachtskuchen gebacken und Hubert mußte endlich den Glühwein mischen, wie er es immer gethan. Die Gläser dampften und sandten ihren aromatischen Duft empor. Nun plauderte man von der vergangenen Zeit. Es ist ja immer, als ob die Weihnachtskerzen alle ihr Licht anzünden würden an den süßen Erinnerungen der Vergangenheit. Und in der Erinnerung leuchten alle ihre Lichter wieder auf, und wo die rechte Weihnachtsstimmung ist, da sieht man sie alle wieder beisammen, die herrlichen lichtstrahlenden Christbäume der seligen Jugendzeit, und es ist uns, als ständen wir in einem Festsaal, unter dessen säulengetragenen Kuppeln ein ergreifender Chor erklingt, bald süß und leise wie ein Wiegenlied, bald brausend wie Gesang der Freude.

Die Lichtlein brannten still und flackernd herab. Hin und wieder mußte Käthe eines putzen. Manches brannte auch rascher nieder als die andern. Das suchte sie dann so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Aber endlich rann doch der letzte Wachstropfen davon herab und fiel auf die grünen Nadeln wie eine erstarrte Thräne; und der Lichter wurden immer weniger.

Käthe sah mit Angst darauf. Sie hätte sie so gerne fortbrennen lassen, noch lange, lange. Es war ihr, als ob sie sich nicht trennen könnte von dem brennenden Baume. Und als der letzte Docht heruntergefallen war, sagte sie: „Sollen wir nicht doch noch ein paar Kerzchen hinaufthun?“ Sie lächelte dabei und sagte es leichthin, als ob sie damit das Drängen des eigenen Wunsches verdecken wollte.

„Laß doch, Käthe,“ sagte der Vater. „Man darf nicht zwei Weihnachtsbäume machen wollen aus einem.“

„Uebers Jahr ist ja wieder Weihnacht,“ sagte Hubert.

Uebers Jahr! – Aber es gab ihr keine Ruhe. Sie suchte das längste Kerzchen aus, befestigte es ganz am Ende eines Zweiges und steckte es an. Dann setzte sie sich in das alte Sofa und sah zu, wie das Licht leise herunterbrannte. Der Docht wurde immer länger und die Flamme immer größer, je tiefer sie kam. Die Wachsthränen flossen herunten wie lebendig, und das Bäumchen flimmerte hinter der einsamen Kerze. Und Käthe blickte immer in die zuckende Flamme hinein, als hätte sie es ihr angethan.

„Vater, sieh doch zu, wie das arme kleine Stümpfchen brav ist! – Hubert, schau doch! Schau doch den Baum an, so lange es noch währt! Wie er hübsch ist, nicht wahr? – Sieh doch hin! Noch immer brennt es. – Schaut ihn doch noch einmal recht an!“

Und dann saßen sie eine Weile alle schweigend da und blickten auf das zitternde Licht und die fallenden Tropfen. Und wie es so beinahe feierlich still geworden war in ihrem kleinen Kreise, schwebte jene Mahnung von Ernst und Liebe und Rührung darüber, die uns alle einmal ergreift unter dem Weihnachtsbaum, wenn unser Herz noch nicht stumpf und eitel geworden ist im Getriebe des Lebens.

Das Kerzchen flackerte noch einmal hoch auf und erlosch.

Als Hubert fort war und sie zur Ruhe gingen, brach Käthe ein Tannenreis ab und nahm es mit sich in ihr Zimmer. Sie [304] that es jedes Jahr. Und dann nahm sie auch den Kometen mit, den Hubert als sein Werk wiedererkannt hatte. Sie befestigte ihn über ihrem Bette, am Rahmen des Bildes der Mutter, das dort hing.

Die Weihnachtsglocken klangen. Bei ihrem Schalle schlief sie ein und träumte, sie stünde wieder vor dem Christbaum und müßte ihn aufputzen. Sie suchte den goldenen Stern und konnte ihn gar nicht mehr finden, denn sie erinnerte sich nicht, daß sie ihn in ihr Zimmer genommen. So mußte sie fortgehen, ihn zu suchen; eine Angst kam über sie, und sie erwachte davon. Im Halbschlaf sagte sie sich, daß es ungeschickt war, den Stern heraufzunehmen – er hat so viele Jahre bei den andern Sachen gelegen. Aber der Schlaf verscheuchte die Gedanken. –

Sie wollte mit Gewalt alles aus sich verdrängen, was in der letzten Zeit an Wünschen und Erwartungen, an Träumen ohne sichere Umrisse von ihr Besitz ergriffen hatte, als ob sie in diese letzten Tage des scheidenden Jahres mit allem Aufgebot ihres Willens wieder den frohen Geist hineinbeschwören möchte, den sie sonst gekannt, und der ihr verloren gehen wollte, sie wußte nicht weshalb. Sie wollte sich hineinzwingen in harmlose Unbefangenheit, um die Stimme nicht zu hören, die jetzt in ihr tönte.

In manchen Augenblicken konnte sie sich selbst betrachten wie etwas Fremdes und beinahe sorglos lächeln.

„Ist es eine Krankheit, die wir Mädchen alle durchmachen müssen? – Der arme Hubert! Was kann er denn dafür? Er hat mich immer gern gehabt, von Kindheit an, der gute alte Kamerad. Wenn er mich einmal will zu seiner Försterin, dann wird er kommen und mir’s sagen!“

Dann wird er kommen!

Und ihr Herz klammerte sich doch wieder an das Wort, es allein blieb übrig von ihrer Betrachtung und wiederholte sich hundertmal und wies immer nur auf das eine, wie auf das einzige Ziel in der rollenden Zeit.

Am Sylvestertag war sie guter Dinge, scherzte und lachte. Sie las dem Vater zweimal den guten lustigen Brief vor, den Bruder Franz geschrieben hatte. Sie schwatzte ihm lauter lustige Dinge vor und freute sich auf den Abend.

„Vater, heute müssen wir recht heiter sein, wenn Hubert kommt. Ich will Euch einen famosen Punsch brauen, das sollst Du sehen! Und wenn Du auch nicht mitwillst, so müssen wir nach dem Abendessen doch auf einen Sprung zu Meiers; Gusti hat so darum gebeten. Wir bleiben aber nicht lange aus. Und dann erwarten wir hier das neue Jahr, wie wir’s sonst immer gethan. Wie es warm und gemütlich sein wird! Wenn Hubert nur einmal recht pünktlich ist! Heute darf mir nichts verkochen und verbraten.“

Aber Hubert war pünktlich, und sie saßen gut gelaunt beisammen um den kleinen Tisch. Im Ofen knackte und puffte das Holz mit lustigem Eifer, und oben zischten wieder ein paar Aepfel, weil der Vater sie so gerne mochte.

„Wenn alle Jäger so friedlich beim Ofen sitzen,“ sagte Hubert, „dann haben es die Kerle gut, die uns draußen Holz stehlen und in die Gehege gehen. Was uns das Volk für Plackereien macht!“

„Ist’s so arg jetzt?“ fragte der Vater.

„Ja, da ist besonders einer – aber wir können ihn gar nicht erwischen. Ich laure schon so, daß mich der Förster auslacht. Eine rechte Bande!“

„Weil sie keinen Heller in der Tasche haben und zu Hause frieren!“ meinte Käthe. „Heut’ wo wir’s hier gemütlich haben, sollst Du nicht an Euren Jägergroll denken.“

„Ja, ja! Aber ewig herumbalgen muß man sich doch deshalb. Du hast aber recht, Käthel, heute abend wollen wir lustig sein.“

„Geht dann nicht zu spät hinüber,“ sagte der Vater, „daß wir noch ruhig beisammensitzen können im alten Jahr und gemeinsam das neue erwarten.“

„Bei Meiers soll’s ja flott zugehen! Das Lehrerpaar ist wohl drüben und der Doktor mit seiner besseren Hälfte.“

„Wie es stürmt!“ sagte Käthe.

„Gieb nur acht, daß Du mir dann nicht fortgeblasen wirst!“ lachte Hubert.

„Ja, Du möchtest mich so leicht nicht wiederfinden. Es schneit noch immer.“

„Was wird Franz machen?“ fragte der Vater.

„Er sitzt auch wo in einer warmen Ecke und denkt hierher,“ entgegnete Hubert.

„Wie viele Jahre schon saßen wir immer so beisammen!“

„Aber immer um eins weniger,“ sagte der Vater.

Käthe stand auf und küßte ihn auf die Stirn und der Alte machte einen Scherz, als ob er nichts gemeint hätte.

Endlich nahm Käthe ihr großes Wolltuch um, Hubert seinen Wettermantel, und sich an den Händen haltend, liefen sie über den Markt hinüber. Der Wind pfiff und schlug ihnen die eisigen Flocken schneidend ins Gesicht. Sie lachten aber und waren in einem Augenblick drüben.

Die ganze Gesellschaft saß unten in der Eßstube. Man hörte schon auf dem Flur ihr lautes Sprechen und das derbe Lachen des Hausherrn.

Herr Meier war galant. Er saß neben der Lehrersfrau und erwies ihr kleine Aufmerksamkeiten. Hatte sie sich ein Stück zugelegt, so spießte er es von ihrem Teller fort und sagte: „Pardon, Pardon, schöne Nachbarin, aber ich muß darauf sehen, daß Sie ’was Besseres bekommen!“ Und bei jeder Speise erzählte er, auf welche Art zubereitet sie ihm am besten schmecke. Er sprach laut und viel, nur wenn er sich von einem Hühnerbein nicht trennen konnte, schwieg er. Dann hatte er den Kopf ein wenig vorgeneigt, und man hörte seine starken Kiefer arbeiten. Schon gleich nach dem Abendessen war der Punsch gebracht worden, und als Käthe und Hubert kamen, war Herrn Meiers Gesicht schon ganz rot und glänzend vor Vergnügen.

„Wissen Sie?“ sagte er zu Hubert, „jetzt werde ich Ihnen eine Cigarre geben, so eine haben Sie noch gar nicht geraucht!“

„Also aufgepaßt, Jägersmann!“ rief der Doktor vom Ende des Tisches herüber und zwinkerte mit seinen possierlichen Augen.

Ueber dem Tische, auf dem zwei Lampen standen, hing schon eine Wolke von Tabaksrauch und aus einer großen Terrine stieg der Dampf von dem heißen Punsch auf und vermischte sich damit. Gusti hatte für Käthe und Hubert links und rechts von sich Stühle herbeigerückt und war voll sprudelnder Laune.

„Wir müssen heute ein Vielliebchen mitsammen essen,“ rief sie und hielt Hubert mit ihrer kleinen rosigen Hand eine Krachmandel entgegen. Er griff danach, aber sie ging schwer entzwei, und sie mußten sich eine ganze Weile beide daran bemühen.

„Uff!“ sagte Gusti aufatmend. „Das war eine Arbeit, Käthe! Er hat mir dabei fast die Finger zerquetscht.“

Sie machte aber ein heiteres Gesicht und blitzte mit ihren Augen immer lachend zu ihm hinüber, so von der Seite, als ob sie ein übermütiges Wort auf den Lippen hätte. Sie plauderten und lachten, die Drei unter sich, und Gusti riß mit ihren spaßigen Geschichten Käthe mit fort, so daß auch diese beinnahe mutwillig wurde.

„Meinem Punsch müssen Sie ordentlich zusprechen,“ rief Herr Meier. „Ja, Kinder, da ist ein ganz besonderer Rum dabei! Da kosten ein paar Flaschen so viel wie ein paar Faß Bier, wissen Sie!“

Nach einiger Zeit glaubte er, er müßte seinen Gästen einen Trinkspruch sagen.

Er klopfte also laut an seinn Glas und sah mit einem Blick, der fast etwas Herausforderndes und Tadelndes hatte, im Kreise herum, bis alle schwiegen.

„Ich werde Ihnen was sagen,“ begann er dann.

„Hört! Hört!“ rief der Lehrer leise dazwischen und sah so angelegentlich nach Herrn Meiers Mund, als ob nun gleich die Weisheit selbst davon herunterfließen sollte.

„Der Sylvesterabend,“ sagte Herr Meier, „ist eine ganz prächtige Einrichtung. Seh’n Sie, ich genieß’ ihn immer sehr. Ein Jahr ist wieder abgetreten. Aber was macht denn das? – Wenn es schlecht war, seien wir froh, daß es fertig ist“ – hier stach er mit der Gabel, die er noch immer in der Hand hielt, ins Tischtuch, als ob es ein schlechtes Jahr wäre, dem er den Garaus machen möchte – „und wenn es gut war, kommt ein noch besseres nach. Ich kann Ihnen sagen, daß ich aus langer Erfahrung spreche. – Seh’n Sie, meine Herrschaften, ich habe mir das so eingerichtet, daß ich meine Jahresbilanz immer ein paar Tage vor Sylvester mache. Warum? werden Sie natürlich fragen. – Nun, deshalb, damit ich meiner Sache sicher bin, und damit ich nicht vielleicht nach einem lustigen Sylvesterabend einen moralischen Katzenjammer zu haben brauche.“

„Sehr gut!“ sagte der Lehrer halblaut und blickte nachdenklich auf seinen leeren Teller.

„Und damit ich weiß,“ fuhr Herr Meier fort, „daß ich es [306] verdiene, wenn einer mich angratulieren will. – Das Verdienen ist die Hauptsache im Leben, meine Herrschaften! – Ich bin in der glücklichen Lage,“ schloß er mit einem Lächeln, das beinahe bescheiden aussah, „daß ich mir mit ruhigem Gewissen kann gratulieren lassen. – Dieses nun wünsche ich Ihnen allen auch aufs beste und erhebe mein Glas auf Ihr besonderes Wohl. Dreimal Hoch, wenn ich bitten darf!“

Während er sprach, war Gusti ganz verlegen geworden. Es hatte fast den Anschein, als ob sie ihren beiden Nachbarn den Genuß des väterlichen Trinkspruches verkürzen wollte, denn sie lenkte Käthes Aufmerksamkeit ab, indem sie ihr fortwährend etwas zuflüsterte, und dann wieder Hubert, indem sie ihm das Glas vollschenkte, ihm den Teller mit den Bäckereien zuschob oder ihn durch Gebärden um einen möglichen Wunsch fragte. Zuletzt war sie ganz rot geworden, zerzupfte ein Stückchen Brot in kleine Kügelchen und sah starr vor sich hin, beinahe, als ob sie sich schämte, daß ihr Vater ein so glücklicher Mann war.

Endlich mußte Käthe Hubert an den Heimweg mahnen, und sie gingen. Unablässig wirbelte der Schnee herab. Sie nahmen sich wieder an den Händen wie vorher.

„Komm,“ sagte Käthe. „Mir ist heute ganz übermütig zu Sinn. Wir wollen einmal um den alten Brunnen herumlaufen; es ist ja keine Seele auf dem Markte.“

Sie thaten es, bis beide ganz außer Atem waren. Sie hielten sich immer fest an der Hand.

„Was für Kinder wir sind!“ rief Käthe dann. „Und doch war es schön, Hubert, als wir wirklich noch Kinder waren!“

„Versteht sich, Käthe! Nur finde ich’s jetzt nicht minder schön,“ entgegnete er.

Im Flur klopften sie sich den Schnee von den Kleidern, und als Käthe zum Vater in die Stube trat, atmete sie auf.

„Wie es da still und gemütlich ist! Weißt Du, ich glaubte es gar nicht mehr aushalten zu können, drüben. Es ging gar so laut her, und dieser Tabaksqualm!“

Dann verbrachten sie ihren ruhigen Sylvesterabend, bis die Uhr aushob und zwölf schlug. Da reichten sie sich alle Drei die Hand und sagten sich ein freundliches Wort zum Neuen Jahr.

Als aber Käthe dann oben in ihr Zimmer kam und die Thür hinter sich geschlossen hatte, brach sie plötzlich heftig schluchzend in Thränen aus, so plötzlich, als hätte sie nur den Augenblick erwartet, wo sie allein war, so heftig, als gelangte ein geheimer Sturm in ihrem Herzen zum Ausbruch. Sie saß zusammengesunken auf ihrem Bette und vergrub das Gesicht in den Händen. Und immer und immer fort liefen die heißen Tropfen über ihre Wangen herab.

Und am Erker heulte der Sturm der Sylvesternacht und rüttelte an den alten Fenstern, daß die kleinen Scheiben zitterten.




4.

Eines Abends war Gusti da, und als sie ging, verabschiedete sich auch Hubert und geleitete sie hinüber. Sie klagte scherzend über die Kälte und hing sich fest in seinen Arm.

„Wie groß Sie sind,“ sagte sie, „ich muß mich recken.“

Und sie streckte sich, während sie neben ihm ging, und er fühlte ihre Gestalt an seiner Seite lehnen. Drüben angekommen, hielt sie seine Hand fest.

„Ich gebe Sie nicht frei,“ lachte sie, „bis Sie nicht versprechen, daß wir bald wieder singen. Ich hab’ so etwas Hübsches – ein Duett!“

Er sagte zu, sie schüttelte ihm die Hand mit einer komischen Gebärde, nach Männerart, und als sie sich getrennt hatten, wandten sie sich gleichzeitig wieder um, sie unter dem Thore, im Lichte der Lampe, die am Flur brannte, und er im Schatten draußen. Dann ging er nachdenklich heim.

Das nächste Mal brachte er eine besondere Nachricht. Er kam wegmüde aus der Försterei zurück. Die Dämmerung war angebrochen und von der Kirche klangen die Vesperglocken.

„Nur im Vorübergehen,“ sagte er, in die Stube tretend, wo Käthe und der Vater saßen. „Ich muß gleich weiter, aufs Amt. Aber ich wollte Euch zuerst ’was Rechtes erzählen. Heut’ habe ich mir die Sporen verdient!“

„Was war denn los?“

„Den Stoser haben wir endlich erwischt! Mehr als ein Jahr lang haben sie ihm aufgepaßt, und immer umsonst. Die schönsten Böcke hat er uns abgeschossen, das meiste Holz hat er gestohlen, und nie hat man ihm ankönnen. Nun sitzt er fest!“

Hast Du’s gemacht? fragte Käthe und sah mit Stolz auf ihn.

„Ja – so aus blindem Glück, der reinste Zufall. Wir waren zwei, der Forstwart und ich. Marx war etwas zurückgeblieben. Da fiel der Schuß. Ich bin wie eine Katze geschlichen. Aber es galt Eile. Keine dreihundert Schritt weit traf ich ihn. Er war gerade beim Ausweiden. Was der Lump behend ist! – Er merkte nichts, bis ich knapp hinter ihm stand. – Dann aber, Herrgott, das hättet Ihr sehen sollen. Er machte einen Satz in die Luft, wie ein Wiesel, auf seine Büchse los. Aber ich hatte ihn schon am Kragen. Wir balgten uns im Schnee. Wer weiß, wie schließlich es gegangen wäre! Aber Marx war da, es war alles nur ein Augenblick. Der Marx, der hat eine Faust! – Er nahm ihn nur so, riß ihn von mir los und hieb ihn nieder. Dann war er im Handumdrehen gefesselt und unschädlich. Aber wie eine wilde Bestie hieb er noch um sich, mit dem Kopf und mit den Füßen. Der Kerl ist wie ein Tier. Mit den blutrünstigen Augen hat er mich förnnlich aufgefressen, und fortwährend schrie er! „Jetzt könnt Ihr mich ins Loch werfen! Ich komm’ schon wieder heraus. Dann hüt’ Dich, Du Milchbart. Sollt Deine Pille kriegen!“

„Wie schrecklich!“ rief Käthe.

„Ach, es ist ja imnner das gleiche Geflunker!“ sagte Hubert. „Alle, die wir fassen, schwören uns Mord und Totschlag. Freilich, länger sitzen sollten sie. Aber so, was hilft’s? In ein paar Monaten sind sie wieder heraus und die Geschichte geht von vorn an.“

Käthe hatte regungslos zugehörck, aber ihr Herz pochte angstvoll.

„Nun muß ich gehen,“ sagte Hubert. „Der Forstmeister wird sich freuen! Abends komm’ ich wohl wieder!“

Als er im Flur war, kam Käthe ihm nach. Er hatte eben die Hand nach der Klinke gestreckt und wandte sich auf ihren Ruf noch einmal um.

Sie kam ganz nahe heran und sah ihm wie bittend in die Augen, während das Blut ihr plötzlich in die Wangen trat.

„O Hubert – ich habe Angst um Dich!“

Er lachte gutmütig.

„Deswegen? – Sei kein Kind, Käthe!“

„Nimm Dich in acht!“ bat sie.

„Ja, ja, natürlich!“ Und als ob er nun erst in dem Halbdunkel den feuchten Schimmer in ihren Augen gewahr würde und nach der ganzen Aufregung ein weicher Ton ihm ins Herz fiele, nahm er sie an der Schulter, zog sie so zu sich, und sie mit seinen hellen Augen musternd, sagte er beruhigend: „Sieh’ mal, altes Käthel! Mir scheint, Du fürchtest Dich wahrhaftig!“

„Ich hab’ Angst um Dich!“ sagte sie wieder, und plötzlich schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mehrmals und innig, und er fühlte an seiner Wange die Thräne, die verstohlen über die ihrige rann. Sie hielt ihn so umschlungen, eine ganze Weile. Dannn machte sie sich los und schob ihn zurück.

„Geh – geh nun! – Und lach’ nicht über mich –“ und damit drehte sie sich um und lief die Stiege hinauf.

Bei Meiers drüben erzählte der Doktor von Huberts tüchtiger Aufführung, denn der Fall war ihm bald bekannt geworden und wurde in drastischer Wiedergabe besprochen.

„Ja, sehen Sie, Fräulein Gusti,“ sagte der alte spaßige Herr, „dieser Hubert, das ist ein braver Mensch und ein hübscher Bursch dazu. Schau’n Sie ihn sich nur recht gut an! Sie werden sehen, Sie entdecken so etwas an ihm – so etwas Heldenhaftes. Oder haben Sie das vielleicht ohnehin schon entdeckt?“

Worauf Gusti ihm ein Schnippchen schlug und aus dem Zimmer tanzte. Sie hatte aber das Heldenhafte wirklich schon ohne ihn entdeckt. –

Das besprochene Duett kam zustande. Käthe und Hubert wurden in aller Form dazu eingeladen.

„Wir werden es uns sehr gemütlich machen,“ sagte Gusti. „Wir Drei werden ganz allein sein. Zuerst wollen wir spielen und singen und dann werden wir ein Schälchen Kaffee trinken.“

Sie waren in Meiers guter Stube beisammen. Und diese hatte ein fast kokettes Aussehen.

Auf den weißgebohnten Dielen waren Streifen aus dunklem Eichenholz eingelegt, die im Kreuz darüberliefen. An der Wand, [307] den beiden Fenstern gegenüber, stand das Sofa aus großblumigem Zitz, und darüber hingen in zwei ovalen, vergoldeten Rahmen die Bilder des Ehepaares, in Oel gemalt. Auf jedem der beiden Rahmen saß oben ein geschnitzter Vogel, der einer Taube ähnlich sah. Der Tisch war mit einer gehäkelten weißen Decke belegt; darauf stand in der Mitte eine hohe Vase aus grünem Glas mit einem Fuß aus Nickel. Sie sah wie ein großer Champagnerkelch aus. Außerdem standen ein paar Körbchen aus Laubsägearbeit da, mit kleinen Schleifen aus roter Seide, die aber schon etwas verblaßt waren, und darin lagen etliche Photographien, von der Zeit und von der Sonne vergilbt. Auf jeder Stuhllehne lag ein gehäkeltes Deckchen mit langen Fransen, und auch die Vorhänge an den Fenstern waren so. In einer Ecke stand ein Glasschrank mit vielen porzellanenen Figuren, Hunde, Kätzchen, Schäferinnen und Chinesen, mitten drin ein ausgestopfter Kanarienvogel, dessen Gefieder leider schon ein wenig gelichtet war, und der mit einem Auge ins Zimmer sah, als ob er anfangen wollte zu singen. Aus dem andern Auge war die Glasperle herausgefallen. Zwischen den Fenstern stand ein kleines altes Klavier aus hellem Holze. Dort hing ein Spiegel in einem vergoldeten und gemalten Rahmen, und unter diesem war eine Stickereiarbeit, die Gusti in der Schule gemacht hatte, wie ein Fries an die Wand genagelt. In der Mitte des Zimmers hing von der Decke herab an einer blauen Schnur ein Straußenei und drehte sich immer eine Weile erst nach einer Richtung und dann nach der andern. Dazwischen aber machte es eine Pause, als ob es eigentlich doch schon gelangweilt oder schwindlig wäre. Neben dem Glaskasten hing eine geschnitzte Schwarzwälder Uhr, und jedesmal wenn sie eine Stunde schlug, sprang oben ein Aeffchen heraus und machte einen Diener.

Zuerst spielte ihnen Gusti etwas vor, das „Gebet der Jungfrau“ und die Gavotte „Louis Treize“. Dann sang sie ein paar kurze Lieder von Kücken.

Ihr blonder Kopf wiegte sich ein bißchen, während sie spielte, und wenn sie sang, erhob sie ihn. Ihr schelmisches Gesicht setzte beinahe eine ernste Miene auf; sie spitzte den kleinen Mund wie zu einem Kusse, und ihr Profil mit dem geraden Näschen und dem feinen Kinn sah in dem hellen Fensterrahmen reizend aus.

Und endlich sangen sie das Duett.

Hubert stand etwas hinter ihrem Stuhle und Gusti wurde beinahe feierlich. Käthe, die im Sofa saß, sah gerade hin auf das Fenster, von dem sich beider Gestalten abhoben, in jeder Linie scharf wie Silhouetten. Und sie sangen:

„Ich wollt’ meine Liebe ergösse sich
All’ in ein einzig Wort –“

Es ging ganz gut; sie sangen es noch einmal. Dann stand Gusti ganz errötet vor Freude und Stolz auf und rief:

„Siehst Du, Käthe, er hat es doch gelernt!“

Und es war beinahe, als ob die Freundin ein wenig verlegen sei und Gusti um ihre Fertigkeit beneidete. Sie blieb auch so, während sie den Kaffee tranken aus den geblumten Schalen mit dem Goldrande, die nur für Gäste genommen wurden.

Gusti machte sich geschäftig. Sie schnitt ihnen den Kuchen vor und zuckerte Huberts Tasse.

„Ich muß mich um Sie bemühen,“ lachte sie, „denn Sie waren sehr brav!“

Der alte Doktor hätte entdecken können, daß Hubert nicht nur etwas Heldenhaftes an sich hatte, sondern daß sich auch ein poetisches Licht um ihn zu breiten begann.

[319] Die Wochen verrannen.

In Käthes Seele that sich ein Zwiespalt auf. Es war ein Widerstreit dessen, was sich ihr eigenes Herz langsam aufgebaut hatte, und der neuen Eindrücke, die sich in dieses drängten. In ihre Seele, die früher klar und ruhig und wirklich eins mit sich selber gewesen, rannen so verschiedenhaltige Empfindungen zusammen, daß sie fast feindlich aufeinander stießen.

Langsam wurde aus ahnungsvoller Sorge ein fühlbarer Gegensatz und aus dem Gegensatz oft ein Ringen, wie von zwei Gegnern, die sich auf einem Pfade begegnen, der nur für Einen Raum hat. Und manchmal wurde es ein wilder Kampf, in dem ihr Herz blutete.

Es ahnte niemand, daß sie solchen Kampf in sich trug. Es wußte niemand, wie sie sich innerlich beugte vor dem Sturmwind, der an sie prallte, der die Blüten zerpflückte, die sie mit liebevoller Hand gepflegt, und sie forttrug, weg von ihr. Ihr Herz haschte nach jeder, als greife sie sehnsüchtig danach, wie der Sturm sie wirbelnd wegtrug über ihren Scheitel, die süßen geheimnisvollen Blumen ihrer Träume.

Und dann wieder wollte sie mit aller Macht die fremde Sorge hinausdrängen aus ihren Gedanken. Jene alten, freudewarmen Träume mußten ja die stärkeren sein. Sie hatten ihr ja so viel gegeben, so viel Vertrauen, so viel Zuversicht, so viel Glück. Sie waren ja das Leben, und das andere war der Tod.

Aber der Tod ist stärker als das Leben.

In seiner Angst kam ihr Herz bis dahin, sich selber zu täuschen, und sie sagte sich vor, daß sie an die Täuschung glaube. Dann waren hundert Stimmen laut in ihr und geschäftig, sie zu beruhigen, und so lange sie klangen, gab sie sich dem Irrtum hin, als könnte er sie betäuben.

Weit dahinter aber, ganz in der Ferne, ahnte sie einen Ton der lauter war als die andern alle. Und dann kam er näher, immer näher, bis die tröstlichen Stimmen schwiegen, eine nach der andern, bis der einzige Ton ganz allein, alles übertönend, an ihr Ohr schlug, ein einziges Wort, das alles versagte, alles verwischte, alles verneinte, ein riesengroßes Nein, das überall lebendig wurde, in jedem Atemzug, in jedem Blutstropfen, der in ihrer Schläfe pochte, in ihr und um sie – überall.

Und es war eine Lüge, daß die Liebe blind macht. Wurde sie denn nicht sehend? Hörte und sah sie nicht mehr als früher? – Es war, als ob ihre Sinne verschärft und verdoppelt würden, als käme ein neuer hinzu, der auf geheimnisvolle, wunderbare Art die Eindrücke aufnahm, wo sie sonst niemals zu erlangen sind, aus ahnungsvollen, fast hellseherischen Empfindungen, die über ihre Seele huschten wie der Widerschein einer unsichtbaren zitternden Lichtquelle.

Sie wurde ernster und wortkarger. Sie konnte manchmal das heitere lustige Plaudern von Hubert und Gusti schwer ertragen. Sie wurde fast empfindlich und konnte manchmal die beiden nicht lachen hören.

Sie tadelte sich selbst und litt darunter. Aber ändern konnte sie es doch nicht.

Aus ihren Stimmen hörte sie immer einen andern Klang heraus, der nebenher ging, so, als läge der Gedanke nicht mehr in den Worten allein, als schwebte er im Ton, im Hauch.

Und in ihren Augen sah sie dann nur mehr das Fremde, das, was der neue Sinn sah, was sich verbergen wollte, was mehr sprach als alle Worte; was die andern selbst vielleicht noch nicht verstanden und was sie doch schon erkennen mußte, mit dem grausamen Klarblick, der in ihrem Herzen erwacht war.

*     *     *     

Der Schnee schmolz und warme Regen wuschen den Winter hinweg. Die Tropfen von den Dächern gaben ein lustiges Konzert. Lange Tage standen die Wassertümpel wieder auf dem Markte, und in den Gossen rauschte es wie Bächlein. Wie im Herbst die fröstlichen Winde angekündigt hatten, daß der Winter näher ziehe, weckte nun eine laue Luft allenthalben die wohlige Ahnung vom kommenden Lenz, und der Himmel wurde klar und sonnig.

Nun trat auch Herr Meier drüben ab und zu wieder unter die Hausthüre, mit den Händen in den Taschen seiner Beinkleider. Und während er ein wenig auf den Platz hinaussah, hatte er die Gewohnheit, die Geldstücke aneinander zu reiben, die seinen dicken Fingern in der Tasche begegneten.

Sah er Hubert zufällig daherkommen, so rief er ihn von weitem an. „N’tag, Herr Förster, N’tag!“ Denn er gab ihm diesen Titel höflich im voraus. Gelegentlich unterhielt er sich auch mit ihm über die Jagd, über den Wildbretmarkt, über Streu- und Holzpreise.

„Mir scheint, der junge Mann gefällt Ihnen nicht übel, Herr Gevatter!“ sagte der alte Doktor eines Tages und zwinkerte mit den kleinen Augen, wie er zu thun pflegte, wenn er eine Neckerei im Sinne hatte. „Wär’s am Ende ein Eidam?“

„Hm!“ machte Herr Meier. „Uebrigens – es ist dafür gesorgt, daß die Gusti sich ihren Mann wird aussuchen können, Herr Doktor, wenn er nur ein braver und ordentlicher Kerl ist!“

Ueberall streckten sich nun grüne Blättchen in die Höhe, auch an den Rainweiden in Krügers Garten. Und am Waldrand draußen machten sich die Palmkätzchen schön, und darunter wurde es gelb von den aufgehenden Primelsternen. Hubert brachte einmal einen ganze Strauß davon mit, der dann tagelang im Fenster stand, der erste Frühlingsgruß. Der Vater arbeitete wieder an den Beeten draußen herum, und Käthe fing an, ihre Gemüse für die Küche zu besorgen.

Es schien alles wieder wie es immer gewesen, so viele Jahre daher.

Und doch war etwas anders geworden nicht für Käthe allein; auch für Hubert schien sich etwas Fremdes eingeschlichen zu haben [320] in ihren kleinen Kreis. Etwas, das namenlos war, aber doch dastand, und wovon manchmal ein Schatten über sie fiel.

Wenn Käthe allein war mit dem Vater und Hubert, schien sie die Alte; aber der alte heitere Ton war es nicht, wenn Gusti hinzukam, und dann hatte Hubert das Gefühl, als stocke irgend etwas und als trete ein Ernst in ihr Gesicht, den sie früher nicht gekannt. Sie konnten zuweilen beinahe schweigsam werden.

Aber keines fühlte es so wie Käthe, und keines kannte wie sie die Sehnsucht nach dem alten Frieden, denn ihr nagte ein Vorwurf und ein Tadel immer still am Herzen und bleichte ihre Wangen, als ob sie selbst die Schuld an dem Wechsel trüge.




5.

Die Wochen verrannen.

Der alte Kirschbaum draußen stand da wie ein riesengroßer Blütenstrauß, wie angethan mit einem weißen Festkleide. Und wenn die Mailuft durch die Aeste wehte, dann schauerten die weißen Blättchen herab, daß darunter der Tisch und die Bank davon bedeckt wurden, und der ganze Weg war bestreut mit Blüten.

Auf der Bank saßen die beiden Mädchen, arbeitend und plaudernd.

„Was bringst Du für ein hübsches Sträußchen mit!“ rief Käthe Hubert entgegen, der den Weg heraufkam.

„Gelt? – Sieh’s ’mal an,“ und er reichte es ihr hin.

Es waren die ersten Gentianen, Primeln und Leberblümchen. Ein paar zarte Farnblätter waren dabei, und ein Tannenreislein.

„Wer es wohl bekommen soll?“ fragte Käthe.

„Wart’,“ lachte Gusti. „Wir wollen uns darum bemühen! Die Wahl muß ihm ja schwer werden.“

Er drehte das Sträußchen lachend in der Hand.

„Ihr macht mir’s wirklich sauer!“

„Er hat recht,“ sagte Käthe nach einer Weile, und fast als ob ihr der Scherz zu lang währte, setzte sie hinzu „Wir müssen ihm doch freie Wahl lassen, wenn ich am Ende dabei auch den kürzeren ziehe. Du bist so geschickt, Gusti!“

Sie ging nach einiger Zeit ins Haus, um ein Garn zu holen, das sie zu ihrer Arbeit brauchte, und als sie zurückkam, hatte Gusti das Sträußchen vorne an die Brust gesteckt.

Käthe schlug die Augen nieder, als wollte sie ihre Gedanken verbergen. „O Gusti!“ sagte sie so unbefangen sie konnte, „Du hast ihm gewiß keine Ruhe gelassen!“

Die andere lachte fröhlich. „Nein, nein! – Es war seine freie Wahl!“

Käthe aber musterte ihre Arbeit und die Farben flimmerten vor ihren Blicken.

Die Sperlinge jagten sich und schwätzten oben in dem alten Baume.

„Welch ein Geschrei sie machen!“ sagte Gusti.

„Das müssen die Männchen sein,“ meinte Hubert. „Es sind ja ganz rauhe Stimmen.“

„O!“ rief Gusti. „Wenn sie kein anderes Liebeslied zu singen wissen.“ – –

Und Käthe begann das Elend, das auf ihrem Herzen lastete, wie eine Prüfung zu tragen, die ihr Gott beschieden und vor der sie sich beugen mußte. Alles war doch noch nicht entschwunden. Sie kannte noch die stille Freude, ihn zu erwarten, wenn er kommen sollte; sie fand noch oft den alten glücklichen Ton, wenn er dasaß und mit ihr und dem Vater plauderte.

Ab und zu sprach er im Vorübergehen drüben bei Meiers vor. Käthe sah ihn öfter, wie er aus dem Hause trat und über den Platz herüberkam. Dann pflegte er von seinem Besuche zu erzählen, und man sprach über dies und jenes, das darauf Bezug hatte.

Später aber kam er manchmal von drüben und erwähnte nichts mehr davon. Und einmal sah ihn Käthe das Haus verlassen und über den Markt hinab fortgehen. Das erste Mal gab sie nichts darauf. Aber dann wurde es öfter so.

Meiers Gusti lag dem jungen Jägersmann im Sinn. Sie hatte es ihm angethan mit ihren helleu Augen, mit ihrem blonden Kopfe, mit ihrem ganzen fröhlichen Wesen. Ihre zierliche, etwas untersetzte Gestalt stand ihm fortwährend vor Augen, sogar auf seinen einsamen Wegen über das Moor, im Forst. Und wenn die Lerchen sich trillernd erhoben gegen den blauen Sommerhimmel, dachte er an ihren Gesang und summte selber vergnüglich ein Liedchen.

Bald kam er vorwärts in seinen Gedanken. Er dachte an sein Amt, an seine Beförderung, an die Möglichkeit eines künftigen Hausstandes, und daß dann das bisherige Leben sich verändern würde – wie es sich ändern wird!

Daran blieben seine Gedanken zuweilen haften.

Eigentlich hätte er Käthe am liebsten haarklein erzählt, wie es um ihn stand. Er dachte es sich selig, ihr so davon sprechen zu können, und er hatte es mehr als einmal vor, auf dem ganzen Wege. Wenn er aber unter die Hausthüre trat, ließ er die Absicht fallen, es war etwas in ihr Wesen gekommen, das ihn schweigend davon zurückhielt. Sie war so sonderbar ernst und still geworden, und bei ihr wollte ihm die Anknüpfung an alles, was er dachte und erwog, verloren gehen. So fühlte er mehr als einmal, wenn er aus Meiers Haus trat und Käthe am Fenster erblickte. Und einmal gedachte er auch seiner ersten knabenhaften Neigung, die ganz weit zurücklag und seine Brüderlichkeit zu ihr einen Augenblick bedroht hatte, damals, als Käthe angefangen hatte, sich um seine kleinen persönlichen Angelegenheiten in mädchenhafter Sorglichkeit zu kümmern, und er sie seine „Frau Försterin“ genannt hatte; als sie um die losen Knöpfe an seinem Rock sorgte und seine verschlissenen Halstücher wieder in stand setzte, wie sie es treulich immer gethan bis hierher.

Aber sein Herz war anderswo gebunden und alles übrige verbleichte in der einen Empfindung, die vergeßlich macht und kalt auch gegen das, was eine lange Lebensstrecke ausgefüllt hat.

Er kam eines Tages wieder, gerade als die Mittagsglocken ausgeklungen. Es war ein heißer Sommertag. Die Mücken tanzten in der Luft über den Beeten und kein Blättchen regte sich an den Zweigen.

Käthe saß draußen unter dem Kirschbaum und wollte eben die Aepfel, die sie geschält, in das Körbchen vor sich zusammennehmen.

„Hör’, Käthel,“ sagte Hubert, nachdem er sich zu ihr auf die Bank gesetzt hatte. „Ich muß Dir heule ’was Ernstes sagen!“

„Ernstes?“ – Sie sah ihm in die Augen und merkte wohl, daß eine zurückgehaltene Erregung darin lag. Ein lebhafter Glanz, wie von freudiger Unruhe, schimmerte in ihnen und seine Wangen waren gerötet. Ihr aber war plötzlich, als legte sich der schwüle Mittag unmittelbar auf ihr Herz.

Einen kurzen Augenblick war’s, als griffe eine unsichtbare Hand in sein Wort, und er zögerte.

„Ich muß Dir doch etwas sagen – von mir!“ sprach er dann. „Weißt Du, Käthel, ich habe mich verlobt!“

Ihre Arme sanken unwillkürlich etwas zurück, mit den Ellbogen an die schlanken Hüften. Es schoß ihr heiß in die Augen wie hervorbrechende Thränen. Sie sah ihn stumm an und ihre feinen Lippen zuckten in jähem Schmerz.

Er schlug die Augen bestürzt nieder vor einer Erkenntnis, die wie ein greller Schein über sein Herz flog.

Und sie schwiegen beide, als forderte eine heilige Stimme in ihrer Brust, daß ihre Lippen stumm verharrten vor dem ungesprochenen Wort. –

Mechanisch zupfte Hubert an den Hirschhornknöpfen seines Rockes und starrte auf den Kies hinab, den er mit der Fußspitze langsam hin und widerstrich.

Und leise sagte er endlich: „Ich weiß jetzt, was Du mir gabst, Käthel. – Wenn ich Dir aber nicht das Gleiche geben kann?“

Die Worte wurden ihm schwer, wie etwas Unnatürliches, dagegen sich ihr Schweigen sträubte, bis es über ihn kam, als müßte er ihr sagen, wie sein Gedächtnis alles Liebe und Gemeinsame treu bewahre. Seine Gedanken flogen zurück in die vergangenen Jahre. Da und dort an den Schätzen ihrer armen schlichten Jugendzeit blieben sie haften, wie der Schmetterling wieder einmal zurückfliegt auf die Blumen, aus denen er süßen Seim geküßt.

„Du warst mir immer teuer,“ sagte er. „Ich hab’ Dich ja geliebt von Kindheit auf, wie ein Bruder die Schwester. – Weißt Du noch – als Franz und ich so wilde Jungen waren und Du ein scheues Ding in kurzem Röckchen? Als wir zusammen Kirschen pflückten und so wenige davon in das Körbchen kamen, weil wir so viel gegessen! Du standest unter dem Baum und warst so gewissenhaft und so hilflos gegen uns . . . ich werde nichts vergessen können – und die Zeit, da wir Dein Gärtchen drüben pflegen mußten, im Tagelohn für die Aepfel – und als wir Krieg spielten und Du die Marketenderin warst. – Du warst immer die treue Schwester! – Auch als ich mich mit dem Beil in die Hand schlug und Du mich verbandest und mich pflegtest, da, auf der Bank –“

[322] „O, schweig – schweig!“ rief Käthe leise und zitternd, und ein kurzes Schluchzen brach ihr Wort ab.

Ein tiefes, verwirrendes Mitleid erfaßte ihn.

„In dieser Stunde ist mir, als komme das alles auf mich,“ sagte er. „Alles wie ein Vorwurf! – Du sagst es nicht, Käthe; aber so steht sie jetzt vor mir, die ganze Zeit – sie klagt mich an, daß ich gefehlt habe an Dir. Großer Gott, wie gefehlt! – Wie soll ich Dir den Schmerz nennen, der größer ist, als ich je auszusprechen vermag –?“

Auch in seinen Augen brannte es, und seine starken Hände zitterten.

„Willst Du mir kein Wort sagen, Käthe? Schau, mir möchte sonst immer dünken, es liegt kein Segen auf uns, auf Gusti und mir!“

Sie bebte zusammen.

„O, laß mich, Hubert, laß mich! – Kein Vorwurf! Nur schweigen laß mich – und allein sein!“

Sie erhob sich langsam, und auch er stand auf. Er sah zu ihr in schmerzlich gespannter Erwartung. Aber er suchte vergebens ihrem Blick zu begegnen, der ihm unter den langen Wimpern scheu auswich, um die Qual ihres Herzens zu verbergen.

„Geh’ nicht so!“ bat er flehend und griff nach ihrer Hand. „Laß sie mir ein wenig – und hör’, Käthe – küß’ mich eimal noch!“

Sie zog ihre Hand aus der seinigen und machte einen Schritt von ihm fort auf den Weg. Sie hielt den Kopf immer tief gesenkt, und ihre Arme hingen schlaff herab.

„Nur noch einmal!“ sagte Hubert wieder. „Damit ich weiß, daß Du mir vergiebst! Wie in der alten Zeit – so, wie Bruder und Schwester. – O, küß’ mich noch einmal, Käthe!“

Sie wandte sich auf den Weg.

„Nein – ich kann es nicht –“ sagte sie leise und stockend. „Ich hatt’ es anders gemeint - der Kuß ist heilig -“

Und langsam ging sie dem Hause zu, ganz knapp an den Johannisbeersträuchern, die ihr Kleid streiften, und fuhr ab und zu mechanisch mit der Hand über die feinen Zweiglein. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, als prüfte sie die Beeren, die wie Blutstropfen zwischen den Blättern schimmerten.

Er stand regungslos, und seine Blicke hingen an ihrer schlanken Gestalt, als müßte er sie für ewig so im Gedächtnisse festhalten, die schwarzen, um den Kopf gelegten Zöpfe, das verschossene Sammetbändchen am Nacken, das verwaschene, rosagestreifte Leinenkleid, unter dessen Saume der Fuß bei jedem Schritte sichtbar wurde. Die Sonne lag auf ihrem Scheitel, daß ihr Haar glänzte. Und noch nie war ihm ihre ganze Gestalt, ihre Haltung so ruhig, so einfach und so edel erschienen. Es war, als ob auch in der Schlichtheit ihres Gewandes etwas läge, das ihn rührte. Heiße Thränen stiegen in ihm auf.

„Käthe!“ rief er noch einmal.

Sie wandte sich nicht um. Nur laugsamer wurde ihr Schritt, als zögerte ihr Fuß, sie fortzuführen von einem Stück ihres Lebens. Und so trat sie aus dem Sonnenschein in den Schatten des Hauses und entschwand unter der Thüre seinem feuchten Blick.

Er stand noch eine Weile wie verloren und strich mit der Hand über die Runzeln der verwitterten alten Tischplatte.

Und dann ging auch er langsam den Weg hinunter und mit gesenkten Blicken durch den Flur aus dem Hause, als ob er sich scheute, den Abschied zu denken. –

Noch eine schwere Stunde schlug für Käthe, als Gusti kam. Sie weinten beide. Die eine vor seliger Freude und die andere, weil ihr das Herz brach.

Und eine unsägliche Trauer bemächtigte sich Käthes, ein bodenloser Schmerz, daß sie es war, die einen Schatten warf über die beiden, daß sie es war, die einen Wermutstropfen in ihr Glück mischen sollte. In Augenblicken sehnte sie sich, Hubert ein Wort sagen zu können, und gleichzeitig schnitt ihr Elend schon das bloß gedachte Wort entzwei.

Sie beugte sich tiefer unter dem Griff des Schicksals. Ihr Wesen ward ein völlig andres. In kalte Nacht begraben fiel alles, was sie Teures geträumt, und wie mechanisch stand und ging und schaffte sie an den Arbeiten des Tages.

Sie sah ihn auch wieder, er mußte ja kommen. Sie sprachen mitsammen, fast als ob nichts ihre Wege getrennt hätte, die so lange nebeneinander gegangen waren. Sie zwang sich zum Gleichmut und zur Rühe, ja zu einer freundlichen Rede, die fast so klang, wie sie früher zu ihm gesprochen. Aber etwas Eisiges kam in ihr Wesen, etwas Verloschenes, Totes.

Mit aller Kraft ihrer Seele mühte sie sich ab, zu verdecken, wie ihr Leben zusammenbrach. Niemaud sollte es erfahren.

Einer aber kannte sie ganz genau und wußte alles, auch ohne daß sie ein Wort gesprochen: ihr alter Vater. Er sah, wie verkümmert sein Herzblatt aussah, und wußte, was sie stumm in sich trug.

Und so begann ein Spiel der Täuschung zwischen den beiden. Keines wollte dem andern seine Gedanken verraten, keines sich schwach zeigen.

Manchmal war es der süßeste Trost für sie, dieses stumme Verständnis des Vaters. Und dann wieder wurde ihr Schmerz nur größer daran, zehnfach und hundertfach.

Sie konnte den stillen traurigen Blick in seinen Augen oft nicht vertragen. Dann bemühte sie sich in ihrem Wesen, ihm Unrecht zu geben, ihn irrezuführen. Aber eine unendliche Müdigkeit kam damit über sie, in welcher ihr Herz erstarrte.

Und ein Gefühl trostloser Einsamkeit spannte sich über ihr Leben aus.

Sie suchte ihm zu entfliehen. Sie machte weite Wege über die Heide, durch die Felder. Aber der blitzende Sonnenschein vertiefte bloß die Schatten in ihr und das tausendfältige Leben der Natur machte ihr die regungslose Leere im eigenen Herzen bewußt.

Viel mehr Frieden fand sie in der nahen Kirche. Dort saß sie eines Abends lange still in einer der leeren Bänke hinter der Säule. Kein Laut regte sich. Das Abendlicht fiel durch die hohen schmalen Fenster herein, und dämmernd lag das Kirchenschiff da. Die Ruhe that ihr wohl. Sie saß regungslos da, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte vor sich hin auf die Mutter Gottes, die sich vom Altar zu neigen schien. Ein Rest von Tageslicht schwebte um das schöne milde Frauenantlitz wie eine Aureole. Das bleiche Angesicht übte einen seltsamen Zauber auf Käthe aus und bannte ihren Blick.

Seither kam sie öfter dorthin, gegen Abend, wenn die Kirche leer und still war. Sie saß manchmal lange da, am äußersten Ende der Bank. Und wenn sie nach Hause kehrte, nahm sie eine gewisse Beruhigung mit sich, als wären ihre Gedanken in etwas Großem und Allgemeinem aufgegangen und hätten darin einen Halt gefunden.

So kam ihr äußeres Wesen beinahe wieder in die frühere Haltung, und es gelang ihr, die Erschütterung, die sie bis in die Tiefe ergriffen hatte, wie etwas der Welt Fremdes zu verdecken. Als hätte sich eine verborgene glimmende Lohe nur das eine Mal in aufbrechenden Flammen verraten müssen und wäre nun wieder von der Kraft ihres Herzens niedergehalten und von dem Staub am Alltagswege erstickt.

Gegen die schmerzliche Empfindung, die Hubert mitten in seinem Glückstraum heimgesucht hatte, stritt die andere an, die er selig im Herzen trug, und die Sorge um Käthe, die ihm manche Stunde schwer und nachdenklich gemacht hatte, beruhigte sich daran.

Es war ja nicht möglich, daß zum Abschluß eines ganzen Jugendlebens voll schlichten Glückes sich der Kreis lösen sollte, den so viele Jahre mit ihren tausenderlei treulich geteilten Empfindungen um sie geschlossen hatten. Er konnte ja doch nicht mit einem Male verzichten auf das Bewußtsein, an Käthe eine liebevolle Schwester zu haben.

Vor der Zuversicht, mit der er lebensfroh seine Gedanken an die Zukunft spann, schwand wohl mit der Zeit, wenn er an sie dachte, das Schmerzliche, das ihre Begegnung damals zurückgelassen. Aber ein bitterer Bodensatz war dennoch geblieben, und manchmal stieg ein Nachklang jener Stunde plötzlich vor ihm auf, wie man in freudiger Zeit oft einen Mangel klarer sieht und gegen eine Lücke empfindlicher wird.

Einmal, im Wald, flog ihn der Gedanke an: es war ja doch ein Abschied an jenem Mittag unter dem Kirschbaum – ein Abschied von einem Herzen, im Augenblick, wo er es erkannt hatte. Wider Willen suchte sein Gedächtnis da und dort ein Licht aus der verblassenden Vergangenheit. Welch ein verborgenes Leben liegt in uns allen! Sie hat ihn geliebt, vielleicht jahrelang, hat jahrelang die aufkeimende Neigung still geborgen, ihm ihr Sinnen und [323] Sorgen, ihr stilles Hoffen und ihre Zärtlichkeit zugewendet, ihn umgeben mit ihren geheimsten Träumen, ihn geliebt, wie ihr treues warmes Herz lieben muß. Und erst so spät mußte das alles vor ihm stehen, aufleuchtend in einem Augenblick und in kurzem grellen Erglühen wie ein fallender Stern vor seinen geblendeten Blicken niederziehen; – erst damals, da ihre Wege sich schieden. –

Trocken und heiß verlief der Sommer.

In wolkenlosem Blau spannte sich der Septemberhimmel über Wald und Heide. Nur auf den fernen Höhenrücken lag ein dünner, silberweißer Schleier. Das dürre Gras am Heidesaum dunstete vor Hitze, und am Waldrand leuchteten die roten Stämme der Föhren, als ob sie glühend geworden wären in den heißen Sonnenstrahlen. Vom Waldboden strömte eine schwere, harzgetränkte Luft auf wie ein warmer Hauch, in den die regungslosen Zweige ihren duftenden Schweiß hinuntertropften.

Der Jäger lag an Grase an einer einsamen Stelle, wohin nur ein wohlvertrauter Fuß durch die Farne und das Heidekraut den Weg fand.

Aus dem Ried erhoben sich die Kiebitze und schrieen und zankten in der Sonnenluft. Abseits, an einem Stamme, hämmerte ein Specht. Durch das Schilf blitzte der kleine Wasserspiegel des Weihers regungslos.

Und wie er es von Kind auf so gern gethan, musterte Hubert die nächsten Gegenstände, die braunen Halme, um welche die Mücken tanzten; die feinen Moosballen, die sich dazwischen durchzogen. Gerade über seinem Kopfe, als wenn er gar nicht da wäre, schlug eine Spinne in geschäftiger Eile ihren Faden zwischen zwei Berberitzenzweigen. Ein paar kleine Heuschrecken stelzten sorglos umher, rieben die Beine aneinander und erregten ihr schwirrendes, scharf klingendes Sonnenlied. Und rings umher gab es Antwort, daß die Luft zu zittern schien von der Tausendfältigkeit des Geräusches.

Dann sah Hubert wieder sinnend in das weißliche Blau über den Baumkronen hinauf.

Und plötzlich drückte ihn diese luftlose Stille. Er sprang auf, so daß er die fleißige Arbeit der Spinne zerriß und die kleinen Schreier am Boden erschrocken durch das heiße Gras wegschnellten.

Unwillig, als ob der stille Sonnenschein auf dem verlassenen Fleck ein Unheil brüte, warf er die Büchse über die Achsel und schlug sich durch die knackenden Büsche.

[336] Gerade als Herr Meier unter die Hausthüre treten wollte, weil sich der Schatten des Nachmittags über den Markt neigte und er um diese Stunde immer einmal aus dem Glasverschlag des Ladens heraustrat, wo sein Pult stand, kam der Doktor mit eiligen Schritten, wie es sonst gar nicht seine Gewohnheit war, quer über den Platz herüber und machte von weitem ein Zeichen mit der Hand.

Herr Meier fuhr mit der Hand nach seinem bloßen Kopf, als ob er die Mütze lüften wollte, die er wegen der Schwüle abgelegt hatte, und lächelte dem Doktor entgegen.

Der aber faßte ihn, ohne vorerst ein Wort zu sagen, an der Rockklappe und drängte ihn etwas in den Flur hinein.

Und beim ersten Worte, das der Doktor sprach, mit einem seltsam pfeifenden Ton, als ob ihm der Atem fehle, fuhr Herr Meier zurück, als hätte er einen Schlag vor die Stirne bekommen.

Käthe sah vom Fenster gegenüber, wie beide mit den Armen in der Luft gestikulierten und heftig aufeinander einsprachen. Dann liefen sie beide in den Flur zurück und verschwanden im Hause. Gleich darauf schlug man oben in Gustis Zimmer die Fenster zu.

Was mochte nur geschehen sein?

Käthe trat hinaus. Der Vater stand im Gange und putzte die dürren Blättchen von den Pflanzen fort, die dort auf einem langen Brette in die Kühle gestellt waren.

„Was mag es bei Meiers drüben geben?“

„Ich habe auch so eine Bewegung gemerkt,“ sagte der Vater.

Käthe sah auf den Markt hinaus.

„Sieh) da kommt er nun herübergelaufen!“

Herr Meier kam hastigen Schrittes über den Platz geeilt. Er war barhaupt wie früher und sein Gesicht war dunkelrot.

Kaum unter der Thüre, rief er keuchend: „Herr Krüger – wissen Sie –“

„Was giebt es denn?“

„Vom Hubert –“

„Wir wissen nichts –“

„Er ist tot!“ schrie Herr Meier und fuhr mit den Armen in die Luft. „Mausetot!“

„Großer Gott, was sagen Sie?“ rief der alte Mann erbleichend, und ein kurzer Aufschrei brach von Käthens Lippen.

„Heut’ mittag – im Wald. Sie haben ihn erschossen aufgefunden. Der Lump hat es gethan, der Stoser, der erst vor ein paar Tagen losgekommen. Herrgott! Herrgott!“

Herr Meier lief im Flur auf und ab und fuhr sich mit den Händen durch das triefende kurze Haar.

„Er hat sich gerühmt, im Wirtshaus, die Kanaille, daß er’s dem Jäger heimgezahlt! Herrgott, mein armes Kind! Meine Gusti! Sie bringen ihn eben herein. Herr Krüger, Fräulein Käthe – können Sie ’s nur fassen, so ’was Gräßliches?“

Der alte Mann stand wortlos da. Sein grauer magerer Kopf zitterte, wie er Herrn Meier unverwandt ansah in hilfloser Bestürzung, mit schwimmenden Augen. Seine entfärbten Lippen thaten sich immer wieder auf, als ob er nach Luft ringe, oder nach einem Wort – aber er brachte keines hervor.

Käthe lehnte an der Thür der Wohnstube, mit den Armen hinter dem Rücken. Eine Eiseskälte schauerte durch ihre Brust und über ihre Glieder. Ihr war, als ob ihr Herz stillstehe, selber starr und tot werde. Sie hatte den Kopf gesenkt, und alles Leben schien von ihren Wangen gewichen. Wie versteinert ruhte ihr Blick immer auf dem gleichen Punkt – auf dem häßlichen braunen Fleck auf der Diele gerade vor ihr, als ob sie gar nichts anderes mehr sähe. Der Fleck tanzte und drehte sich vor ihren Augen. Sie blickte immer hin auf seinen zerflossenen Rand. Ihr Herz zuckte wie ein verwundeter Muskel. Und der Fleck brannte vor ihren Blicken wie Feuer, wie Blut.

Herr Meier blieb vor ihr stehen. Er wischte sich mit der Faust über die Augen und sagte kläglich: „Fräulein Käthe, gehen Sie doch hinüber zur Gusti! Mein armes Kind, es möchte selber am liebsten sterben! Ach, geh’n Sie doch zu ihr, Fräulein Käthe! Herrgott, was für ein Grausen!“

Sie löste sich gewaltsam aus ihrer Erstarrung.

„Ja, ich gehe, jetzt gleich. Sei nur ruhig, Vater, sei nur ruhig! Wir müssen uns in alles fügen. Gott hat es gewollt!“

Der alte Mann legte die bebenden Arme um ihren Nacken und küßte sie weinend.

„Käthel! Käthel!“ wiederholte er leise schluchzend, und seine erloschene Stimme zerriß ihr das Herz.




6.

Käthe hatte sich sanft von der Umarmung des Vaters losgemacht und war hinausgeschritten. Auf dem Wege erwuchs in ihr eine übermenschliche Kraft. Sie strich das Haar aus den Schläfen, als wollte sie jede Schwäche beiseite schieben. Ihre festgeschlossenen Lippen regten sich nicht, und sie ging raschen und sicheren Schrittes den Markt hinab, als schritte sie einer heiligen Pflicht entgegen. – –

Als sie dann heimkehrte, war der Vater nicht da. Sie nahm einen Korb und ging in den Garten hinaus. Es dämmerte schon an der Hecke, wo sie Zweige abschnitt von den Fichtenbäumchen und von der Stechpalme. Dann ging sie durch die Beete und brach Astern und Levkojen. Der Abend sank nieder, als sie den Korb ins Haus trug.

Sie wollte die Arbeit machen, bevor der Vater kam. Mechanisch banden ihre Finger die Zweige zusammen, und der Kranz rundete sich unter ihren Händen. Sie sah darauf nieder und band die Blumen mit dem Draht fest. Einmal stach sie sich, und als ein Tröpfchen Blut auf das Blatt fiel, schauderten ihre Hände.

Mitten in der Arbeit erhob sie sich und ließ den Kranz raschelnd zu Boden gleiten. Sie ging durch den dunklen Flur hinaus, über den Kiesweg, unter den alten Baum und setzte sich auf die Bank.

Kein Laut regte sich; die Nacht brach an. Sie unterschied die Beete und Sträucher nicht mehr; nur an den hochstengeligen Lilien leuchteten die weißen Kelche wie bleiche Sterne und sahen beinahe gespenstisch durch die Finsternis.

Wo bist du, du anderer, du friedlicher weicher Sommerabend mit deinem Blütentraum? Wo bist du hin mit deinem Klang, du süßes, wortloses Lied des Herzens? Ihr seligen, geheimen Gedanken, wo seid ihr an das Ziel gelangt?

Wohin ist alles?

Und aus der Dunkelheit streckte sich ein beklommenes Angstgefühl nach Käthe aus, als griffe etwas Gestaltloses nach ihr. Sie fuhr vor der Kälte ihrer eigenen Hände zurück, und die Einsamkeit des Gartens wurde ihr unerträglich, so daß sie sich wieder erhob und ins Haus ging.

Als der Vater kam, schoben sie gleichgültige Reden vor die eigenen Gedanken. Sie beide wußten, daß sie keine Worte fänden für das unaussprechliche Leid.

Er war noch nie so spät ausgeblieben. Aber nicht einmal darum fragte Käthe. Sie wußte ja, woher er kam.

Der alte Mann berührte die Speisen kaum, erhob sich dann langsam vom Tische und setzte sich müde in seinen Lehnstuhl. Er vergaß seine Pfeife und ließ sie sich dann von Käthe stopfen.

„Ei! Ei!“ sagte er trübe lächelnd, „mir scheint, das kannst Du doch nicht gut, Käthel.“

Die Pfeife zog nicht, und er stellte sie neben den Stuhl hin.

„Soll ich es nochmals versuchen, Vater?“

„Ach nein, laß nur! – es schmeckt mir nicht so recht,“ und dann legte er die mageren Hände wieder ineinander und blickte schweigend vor sich hin.

Es war eine große Stille in der niederen Stube. Nur die Wanduhr tickte, und eine dicke Fliege, die das Lampenlicht wach erhalten hatte, klappte zuweilen summend an die Decke an.

„Ich bin recht müde,“ sagte der alte Mann nach einer Weile. „Laß uns zu Bette gehen!“

Sie trat zu ihm, und als sie sich bückte, um ihn zu küssen, wie sie es jeden Abend that, sank sie leise auf die Kniee und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Er hielt sie fest umschlungen, und so blieben sie lange und regten sich nicht. Eine Frage aber drängte sich der Tochter immer wieder auf die Lippen. Ganz leise sagte sie endlich:

„Vater – wie sieht er aus?“

Er seufzte tief.

[338] „Wie lebend, mein Kind!“ Dann brach die arme alte Stimme und schluchzend setzte er hinzu: „Und doch ist er tot – mein armer, armer Junge!“

Und wieder war es still und die beiden lehnten stumm aneinander, der alte Mann, vornüber gebeugt, und die Augen fest schließend unter den weißen Brauen, als wollte er die Thränen zurückhalten in seinem Herzen, und das Mädchen, ihr Gesicht in die Arme drückend, die sie über des Vaters Kniee gestreckt.

Ein einziger Gedanke erfüllte Käthe, ein einziger Wunsch, in den sich ihre ganze Empfindung zusammendrängte. Sie wollte noch einmal ihre Lippen auf Huberts Stirne legen, ihn noch einmal küssen. In diesem Kuß sollte alles liegen, was ihre Seele ihm zu geben vermochte: der Abschied für ewig, Vergessen und Friede. Ihr schien, sie könnte ihn nicht hinübergehen lassen ohne diesen Gruß. Und alle Zärtlichkeit ihres Herzens erwachte wieder in diesem Wunsch.

O, warum hatte sie es damals nicht thun können, damals, als er darum bat – als sie beide noch dagestanden in des Tages Sonnenlicht? Und jetzt –

Sie wollte mit ihrem Kusse alles hingeben, was ihr Herz zur eigenen Sühne wußte. Zur Sühne für den eitlen Glückstraum, den es gewoben, und weil es vermessen das eigene Schicksal in sich zu tragen geglaubt hatte.

Nun wollte es sich beugen in Demut. Und er selbst sollte fortgehen mit dem Zeichen ihrer Sühne. Nicht ruhelos zitternd sollte seine Seele im Jenseits ihrer Härte gedenken und ihr selbst damit eine ewige Schuld zur Last legen.

Wie eine heilige Mahnung hörte sie es in sich, daß der Tote ihrer harre. Der Gedauke hielt sie fest, durchdrang und erfüllte sie. Er wich keinen Augenblick von ihr; er hatte sie angerufen im ersten Worte, das ihr die schwere Kunde brachte, er war laut in ihrem Herzen in der schlummerlosen Nacht, er leuchtete vor ihren Augen mit dem ersten Sonnenstrahl des neuen Tages und klang durch die Lüfte in jedem Glockenton, der an ihr Ohr schlug.

Am Nachmittag machte sie sich zu dem Gange auf. Sie hatte sich nicht früher dazu entschließen können, aus Angst, nicht allein dort zu sein.

Der Vater sah, wie sie fort wollte.

„Ja, ja, Käthe; Du mußt nun hingehen!“

Sie hielt sich knapp an den Häusern und scheute sich, aufzublicken.

Und immer mußte sie an die Worte des Vaters denken: „Er sieht aus wie lebend.“

Unten im offenen Flur des alten Hauses, wo er gewohnt hatte, hinter dem Thorflügel an die Wand gelehnt, stand der schwarze Sargdeckel.

Es gab ihr einen Stich ins Herz.

So ist es also wahr – wirklich wahr und unabänderlich!

Ihr Schritt wurde langsamer auf jeder der knarrenden ausgetretenen Stufen der Holztreppe. Und sie mußte sich fest auf das Geländer stützen. Niemand begegnete ihr, und sie sah sich mit einer Art gedankenloser Neugierde um.

Hier ist er auf und ab gegangen, jahrelang, mit dem eiligen, elastischen Schritte, der ihm eigen war, immer drei Stufen auf einmal und nun wird er zum letztenmal herabkommen, von den Leichenmännern getragen.

Oben auf dem Vorplatze stand die alte Hauswirtin mit rotgeweinten Augen. „Ach, Fräulein Käthe, der arme Herr Hubert! Er war immer so gut zu mir!“

Schweigend drückte sie der Alten die knochige Hand; sprechen konnte sie nicht.

„Sie wollen zu ihm? – Da liegt er,“ sagte die Frau und wies rechts hin nach der Thüre.

Mit der Hand an der Klinke, blieb Käthe einen Augenblick tief aufatmend stehen, da das Herz ihr in der Kehle klopfte. Dann trat sie hinein.

Ihr erster Blick fiel geradeaus, gegen die beiden Fenster, die weit offen standen. Man sah über den kleinen Hof auf die Felder hinaus und die sonnigen Wiesen. Ueber die Heide, in der Ferne, wie ein dunkles Band, zog der Forst sich hin. Wolkenlos spannte sich der blaue Himmel über der Sommerlandschaft.

Sie zögerte, ihre Augen davon abzuwenden. Aber sie wußte, dort war’s, an der Wand links in der Tiefe des leergeräumten Zimmers. Noch sah sie nichts als den Kerzenschimmer, der blaß aus dem Schatten leuchtend ihr Auge streifte. Und endlich wandte sie sich hin und sah ihn vor sich.

Das ist er!

Er lag auf einem niedrigen Feldbette, in seiner Uniform, die bleichen Hände auf der Brust ineinander gelegt.

Wie sie schmal und dünn aussahen! Das war nicht seine Hand! Kränze aus Tannenreis und Blumen lehnten an ihm und über ihm.

O du bitterer, trauriger Liebesschmuck! Nur die Toten tragen ihn so!

Das Kinn auf den Rockkragen mit dem goldenen Eichenlaub starr herabgeneigt, ruhte das wachsbleiche Gesicht mit den geschlossenen Augen auf dem Kissen.

Das ist er!

Nein, nein! – So war er lebend nicht! Etwas Kaltes und Fremdes, etwas Schreckliches hat sich über die vertrauten Züge gebreitet. Eine harte, grausame Hand hat die Linien des Lebens in Starrheit gestreckt und verwischt. – Vergeblich denkt sich die Sehnsucht den warmen Pulsschlag in die eingesunkenen Schläfen; vergeblich wartet der Blick, daß die farblosen Lippen sich bewegen – nur einmal noch, nur ein einziges Mal!

Und wenn sie seine Stirn berührt, wird sie kalt sein wie ein Steinbild in frostiger Nacht. Und seine Hände hart und leblos! Und kein Atemzug wird über seine Lippen gehen; nur der Hauch des Todes. Ein Schauer legte sich um ihr eigenes Herz, als zöge eine unsichtbare Hand auch sie in Grabeskälte.

Langsam schritt sie zu ihm, kniete zu seinen Füßen nieder und neigte das Haupt betend auf die gefalteten Hände.

Und dann klang es in ihrem Ohr: „Küß’ mich noch einmal, Käthe – nur noch einmal!“

Sie erhob den Kopf und schaute auf seine bleiche Stirn. Leise flackerten die zwei Kerzen im Luftzuge, und in dicken Tropfen spann sich das abfließende Wachs daran herunter.

„Küß’ mich noch einmal, Käthe!“

War es nicht, als hätten seine Lider gezuckt – war es nicht, als hätten sich seine fahlen Lippen bewegt? –

Und nein! Und nein! – Denn das ist er nicht. Er ist es ja nicht mehr! Er selbst ist hinweg, fort – in die Ewigkeit. Ohne Abschied gegangen, wohin kein Ruf, keine Klage, keine Bitte reicht; wohin kein Flehen dringt und kein Jammer unseres Herzens. Er ist es nicht mehr. Es ist kein Licht in seinen Augen, kein Schlag in seinem Herzen, kein Ton auf seinen Lippen. Das ist nicht er – es ist der Tod.

Und leise bebend senkte sie den Kopf wieder auf die Hände. Sie regte sich nicht. Sie lag wie versteinert auf den Knieen, wie ohne Leben, ohne Gedanken.

Nur eine gräßliche Empfindung, unklar und doch durch alle ihre Nerven greifend, überkam sie. Ein Schauder ging durch ihre Fingerspitzen und legte sich auf ihre Lippen; ein kaltes Grauen umflorte ihre Sinne.

Kein Laut regte sich.

Ein Vöglein flatterte auf das Fensterkreuz, drehte den Kopf, lugte in den stillen Raum und schoß dann laut schreiend wieder von dannen, als wäre ihm unheimlich zu Mute geworden.

*               *
*

Herr Krüger wurde unruhig über Käthens langes Ausbleiben. Endlich machte er sich auf den Weg. Sie konnte doch nirgends anders sein. Er fand sie auf den Knieen am Fußende des Totenlagers hingestreckt. Sie richtete sich auf, als er sie an der Schulter faßte, und sah ihn verwirrt an, wie aus einem ohnmächtigen Schlummer erwachend.

„Komm jetzt, mein Kind! Du bist so lange ausgeblieben!“

Sie sah zu Boden, als hörte sie ihn nicht.

„Ich wollte Abschied nehmen,“ sagte sie tonlos.

Den alten Mann beschlich ein ängstliches Gefühl.

Er legte den Arm um sie.

„Ja, Käthe, wir nehmen Abschied. Komm!“

Sie wollte sich losmachen, sie wollte ein Wort sagen – aber die Zunge klebte ihr am Gaumen. Willenlos ließ sie sich wegführen. Die Thüre schloß sich hinter ihr, und wie im Traum ging sie wieder hinab über die Treppe, neben dem Vater, der ihre Hand fest in der seinen hielt und ab und zu etwas sprach, das sie nicht hörte.

*               *
*

Der Sommer verlief, und es kam der Herbst. In dem kleinen Hause an der Ecke des Marktes wurde es recht still und einsam.

Der Vater wurde ganz wortkarg und in sich gekehrt. Sein [339] Kopf war müde, und sein altes Herz fand nicht mehr die Kraft, sich nach dem schweren Leid, das es betroffen, noch einmal aufzurichten.

Käthe konnte ihm so wenig helfen wie sich selbst. Das Letzte, das Bitterste, hatte ihnen beiden den Mut gebrochen. Sie standen nebeneinander wie früher, aber sie hielten sich nicht mehr im Geiste stets an der Hand; sie fanden kein frohgemutes Wort, kein Lächeln mehr, sich selbst zu täuschen und eines dem andern auf dem Wege fortzuhelfen, der so rauh und steinig geworden war.

Dann machten die Herbststürme den alten Mann verdrießlich und kränklich. Er hüstelte immer, die Pfeife schmeckte ihm nicht, und endlich hatte er gar kein Verlangen mehr, den Lehnstuhl am Ofen einmal zu verlassen.

Käthens bemächtigte sich eine dumpfe Ergebung in die Trauer des Lebens. Sie dachte nie mehr weiter als von einem Tage zum andern und schien in den häuslichen Beschäftigungen aufzugehen.

Daß Gusti wieder fortgegangen war, gereichte ihr zur Beruhigung. Ein lebendiges Zeugnis des vergangenen Jammers, das sonst immer vor ihr gestanden hätte, war damit ihr entrückt.

Der alte Doktor kam zeitweise ins Haus und schüttelte den Köpf, wenn er es verließ. Endlich konnte er nicht anders, als Käthe sagen, daß ihn des Vaters Zustand sehr besorgt mache, daß er sehr ernst sei.

Sie fügte sich auch in das, als gäbe es gegen nichts mehr eine Hoffnung, eine Abwehr, und wurde seine Krankenpflegerin.

Wenn sie ausging, war es stets derselbe Gang, durch die schmalen Gassen zur Kirche, wo sie sich still in einen Winkel setzte und lange dablieb, am liebsten gegen Abend, wenn die Kirche fast leer war und die Dämmerung zwischen den Pfeilern aufwuchs.

Mit dem Vater wurde es immer schlechter, er wurde schwach und hilflos wie ein Kind und konnte das Bett nicht mehr verlassen. Weihnachten rückte trostlos heran; der alte Mann keuchte und fieberte und fand keinen Schlaf.

„Fräulein Käthe,“ sagte der Arzt, dem ihre bleichen Wangen und ihre steinerne Ruhe nicht recht waren, „so können wir’s nicht fortmachen. Wenigstens für die Nächte muß eine ‚Schwester‘ ins Haus. Und es wäre doch wohl gut, wenn Sie Ihren Bruder benachrichtigen würden.“

Die Schwester kam dann jeden Abend, eine stille erfahrene Person, deren freundliches Wesen Käthe im Herzen wohl that. Manchmal heftete sie ihren Blick mit einer Art Verwunderung auf sie. Diese opfern ihr ganzes Leben, alle ihre Gedanken, alle ihre Kraft. Ihnen selbst bleibt nichts. Und doch sind sie zufrieden. So muß also das Opfer ein ganzes sein, damit das Herz ruhig wird.

Der Vater sah sie zuweilen fragend an, wenn sie an seinem Bette saß. Aber er sprach es nicht aus, an was er dachte, und dann wendete er sich plötzlich gegen die Wand um, wie um ihr seinen Blick zu verbergen.

Dann kam der Bruder, und so waren sie wieder beisammen zur Weihnacht, aber keiner sagte ein Wort von seinem Empfinden.

Am Christabend, als Käthe im Bette lag, irrte ein Lichtschimmer durchs Fenster, und gerade über sich sah sie den goldenen Papierstern an der Wand flimmern, den sie im vergangenen Jahre dort hinaufgehängt hatte. Sie kniete auf, machte ihn mit zitternden Händcn los, erhob sich und verschloß ihn in ihre Tischlade.

Und über Neujahr hatte sie zwei Gräber draußen auf dem kleinen Friedhof, und ihr war, als hätte man ihr eigenes Leben begraben und es wehte der Schnee darüber und die Winterstürme, die kein Grün und keine Blüten dulden. Der Bruder blieb ein paar Wochen da, und sie sprachen über die veränderte Lage. Er erzählte ihr, daß er einen eigenen Hausstand gründen wolle. Am liebsten möchte er dann hierher ziehen ins Haus. Käthe machte ihm die Zweifel leichter. Sie wollte nichts für sich. Ein lange gehegter Gedanke war zum festen Entschluß geworden und sie sagte dem Bruder, daß sie ihr Leben der Krankenpflege widmen wolle als barmherzige Schwester.

Er war sehr erschrocken und versuchte liebevoll, ihr es auszureden. Aber sie blieb dabei, und er merkte wohl, daß er nichts ändern könne. Und nachdem sie es ausgesprochen hatte, kam eine Art Beruhigung in ihr Herz.

Manchmal ja zuckte eine flüchtige Erregung darüber hin, als sie ihre kleinen Angelegenheiten zu ordnen begann, wie jemand, der auf eine lange Reise geht, oder einer, der für immer Abschied nimmt. Aber ihr Wille blieb stark und aufrecht. Sie wollte werden wie jene, die namenlosen Samariter, die um des einen Gebotes der Liebe willen das eigene Leben von allem entkleiden, was von dieser Welt ist, und um des Einen willen alles hingeben. Sie wollte das Entsagen lernen, als ein Opfer und ein Trost zugleich. Und wollte es hineinstellen in die unendliche Leere ihres Herzens. Dann wird wieder etwas da sein als Inhalt ihres Lebens, ein Sinn, ein Zweck, ein Ziel. Dann wird sie der furchtbaren Einsamkeit entrinnen, in der sie schmachtet. Und von ihrem Opfer soll der Rauch emporsteigen mit dem der andern. Ins Ewige begraben die Beter, was sie vom Ewigen empfangen, namenloses Hoffen und namenloses Elend.

Und so schied sie.

Fast wunderte ihr Entschluß niemand von den wenigen Bekannten: als ob ihr Wesen, das so still durchs Leben gegangen war, ein natürliches Ziel damit gefunden.

Ganz allein, auch in ihrem Herzen, knüpfte sie langsam einen nach dem andern von den Fäden los, die sie noch an die Vergangenheit banden. Ihr Herz war wie ein Fahrzeug, das im Port gelegen. Eins nach dem andern kappte sie die Taue ah, die es gehalten hatten, bis der Kiel sich hob und die Wellen es schaukelten, und dann trugen sie es hinaus in die offene See, so weit, daß das Gestade der Heimat am Horizont verblaßte und im zitternden Sonnenlicht verging wie ein Nebelstreif.

[352]
7.

Auf Schwester Brigittes Seele lagen die Lichter und die Schatten der Vergangenheit. Sie schlossen ihren Gedankenkreis ein. Aus den rückwärts liegenden Jahren griff das alte Leid nach ihr und zog sie wieder zu sich. Und das Leid ist stärker als der Wille. Es war ihr ältester und auch ihr treuester Bekannter. Sie konnte es nicht von sich weisen wie einen Fremdling.

Scheu, wie vorüberhuschend an sündiger Pforte, die sie ewig trennen sollte vom Vergangenen, doch drängend und ruhelos wiesen ihre Gedanken dahin.

Und seit sie dem fernen Lebenspfade in Gedanken wieder gefolgt, stand sie gefaßter an dem Bette des fremden, schwerverwundeten Offiziers und nahm das grausame Spiel des Zufalls in sich auf, daß er die Züge des Toten trug bis zur unglaublichsten Aehnlichkeit.

Die Empfindung erfüllte sie, daß ihr jener nahe sei, und in der Nacht, die den Blick nach innen kehrt, im Halbschlummer, im Traum bemächtigte sie sich ihrer mit übernatürlicher, unwiderstehlicher Kraft. Selbst mitten im Gebet zuckte die Täuschung auf, so daß ihre Sammlung von den Worten der Andacht absprang und eine starre Betroffenheit einen Augenblick Herr ward über sie.

Vom Kissen ihres Bettes war die Ruhe verscheucht, wie sehr ihr müder Körper auch danach verlangte. Während sie schlummerlos dalag, wanderten ihre Blicke auf der Wand gegenüber hin und her und verfolgten das langsame Vorrücken des Mondlichtstreifens, der durch die Spalten der Fensterläden schien und langsam über die bleichen Glieder des Gekreuzigten glitt, der groß, in Holz geschnitten, dort hing.

Dann wurde sie ängstlich, unruhig erhob sie sich und stieß die Läden auf. Einsam lag der Garten da in der stillen Sommernacht. Nichts regte sich unter den Büschen und in den Zweigen; die Blätter flimmerten im bleichen Licht. Schwester Brigitte stand unbeweglich an der Fensterbrüstung und sah hinaus. Die Nachtluft legte sich frostig an ihren Körper.

Und dann schritt sie in dem kleinen Zimmer auf und ab, die Arme auf der Brust, die Stirn gesenkt. Kaum, daß ihr bloßer Fuß auf dem dünnen Leinenteppich ein Geräusch verursachte.

Im Spiegel an der Wand tauchte ihr weißes Bild auf, jedesmal, da sie vorüberging. Sie blieb davor stehen und sah sich an, mit Neugierde, fast forschend und doch ohne Befremdung vor dem Ungewöhnlichen, das nicht mehr zu ihr paßte und zu dem Gewand, das sie trug. Ihre dunklen Augen blickten sie glänzend aus dem Glase an, und ihre Wangen waren bleich wie Marmor.

Sie strich sich das kurze Haar aus den Schläfen und halblaut fiel ein Wort von ihren Lippen – „Bin ich’s? – die Käthe –?“ … … … Das Fenster blieb offen stehen. Die kalte Morgenluft erfüllte das Zimmer. Vom Mondlicht übergossen lag Schwester Brigitte auf den Knieen. Sie suchte Ruhe im Gebet.

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Der Schlummer, der ihr Lager floh, forderte sein Recht in dem großen Lehnstuhl am Fenster des Krankenzimmers. Die Lampe brannte müde dem Morgen entgegen, der durch die Ritzen der geschlossenen Fenster drang. Der Kranke schlief, und eine große Müdigkeit drückte Schwester Brigittes Lider zu. So, zwischen Wachen und Schlaf, lehnte sie da, und Traumbilder spannen ihre Gedanken fort und wirrten Leben und Tod ineinander.

Der Kranke war er, der Tote. Er war nicht tot, er war nur krank. Dort liegt er schlummernd. Ab und zu im Schlafe nennt er halblaut ihren Namen. Er ruft. Er fordert ihren Gruß, den letzten. Nur einmal noch! – Sie soll zu ihm treten – seine Stirne berühren mit ihren Lippen. – Eine unsichtbare Macht treibt sie auf. Ihre Augen brennen und irrend sucht ihr müder Blick die altvertrauten Züge zu erkennen.

Zitternd beugte sich die Schwester über den Schlafenden, den Fremden.

Nun erst erwachend, strich sie das quälende Traumbild von ihrer Stirne; eine tiefe Erschütterung pochte in schweren Schlägen an ihr Herz. So stand sie an seinem Bette, die Hände hilflos ineinander ringend, in ohnmächtigem Schmerze.

Sie verdoppelte ihren Eifer in der Pflege. Sie sah ihm jeden Wunsch, jede Frage an den unruhigen Augen ab, und jeder dankbare Blick erfüllte sie mit einer seligen Genugthuung. In den ersten Tagen hatte er öfter gesprochen, irgend eine Frage, irgend ein Wort, oft nur so zum Zeitvertreib, in der traurigen Langenweile des Krankenbettes. Nun sprach er fast gar nicht mehr. Und dies Verstummen machte sie betroffen, trotz der Hoffnung, die sich in ihr rührte und von der sie sich täuschen ließ, die ihr wie ein Licht aus der Dunkelheit entgegenschien und ihr über die eigene Abspannung hinweg half.

Warum soll er nicht genesen, dem Leben erhalten bleiben – warum sollen wir immer die Besiegten sein im Kampfe mit dem grausamen Feind, der alles in die Nacht des Todes beugt? – Und sie flehte um sein Leben in inbrünstigen Gebeten.

Aber mit dem kranken Manne wurde es schlechter. Seine Kraft schwand und die Gedanken, die unheimlich regsam sein Hirn durchzogen, gehörten nicht mehr ihm. Eine unbekannte Macht weckte und führte sie, zog sie in fremdes, flimmerndes Traumbereich und verwischte die Gegenstände um ihn her und die Laute, die sein Ohr trafen.

Der Regimentsarzt, der bisher zu dem Verwundeten gekommen, mußte abrücken und die Pflege einem jüngeren Kollegen übergeben. Den Abschied des alten Arztes nahm der junge Offizier mit apathischem Händedruck auf; dann folgte sein fiebernder Blick den zwei Männern und Schwester Brigitte, die jene mit einem Zeichen des Kopfes mit hinauswinkten.

„Es sieht schlecht aus,“ sagte der Arzt. „Wie die Sache äußerlich steht, haben Sie nun gesehen, Herr Kollege. Der Verlauf bisher [354] war kurz folgender: der Patient wurde am Fünften eingebracht, Konturschuß mit Frakturierung der fünften rechten Rippe. Kein Ausgang am Schußkanal. Das Allgemeinbefinden war ziemlich gut, afebril. Die erste Sondierung blieb resultatlos. Ich weiß nicht, was drinsteckt, ein Granatsplitter oder Tuchfetzen.“

„Sie haben die Wunde erweitert?“ fragte der andere.

„Wie Sie sahen. – Ich habe Rippenfragmente extrahiert, sonst nichts gefunden. Es kam rasch zunehmendes Fieber, Schüttelfröste und Erhöhung der Schmerzen. Die Zunge ist trocken –“

„Starkes Durstgefühl, und so weiter –“

„Ja; das Infiltrat verhärtete sich. Das Sensorium blieb frei. – Ich machte Incisionen, konnte aber den Eiterherd nicht finden. Delirien und steigendes Fieber. Es hält seit gestern hochgradig an, und die zunehmende Schwäche läßt mich befürchten –“

„Pneumothorax –?“

„Jawohl,“ nickte der Alte. „Ich habe ihm Chinin gegeben, Milch mit Cognac, Eier, Champagner. – Regelmäßige Essigwaschungen. Wir können nichts anderes machen –“

„Vollkommen Ihrer Ansicht,“ sagte der Jüngere. „Und die Pflege hier?“

„Vorzüglich.“

„Ich danke also. Ich glaube, wir könnten gehen?“

In der Thür drückte der alte Arzt Schwester Brigitte die Hand. „Leben Sie wohl, liebe Schwester. – Ein verlorener Posten. – Es ist nichts zu machen.“

Sie stand und starrte vor sich hin. Jedes Wort, das sie gehört hatte, war wie ein Schlag auf sie gefallen. Sie hatte so gut verstanden, daß die menschliche Kunst zu Ende sei. Ein verlorener Posten!

Dann aber klammerte sich ihr ratloses Herz an den einen Glauben: es kann doch ein Wunder geschehen und ihm das Leben schenken! – Ein Wunder – ein Wunder! – Das Wort wich nicht mehr von ihr, als liege darin die Urkraft und die Wurzel von allem, als sei das ganze Leben selbst nur ein Wunder.

„Ich weiß nicht,“ sagte die alte Landrätin, „die arme Schwester scheint nun auch am Ende ihrer Kraft. Wenn man doch für eine Ablösung Sorge tragen könnte –“

„Ach, so meinen Sie wohl, Frau Landrat,“ entgegnete Frau Stübel, „aber die sind es gewöhnt. Unsereinem geht der fremde Jammer in die Glieder und auf die Nerven. daß einem das Herz ganz schwach wird. Aber die Schwestern – lieber Gott! Die müssen es wohl gewöhnt sein so nach ein paar Jahren, und da thun sie es denn, wie jeder andre seinem Beruf nachkommt. Die sind von Eisen. Eine einzige ist stärker in ihrem barmherzigen Thun als wir alle mitsammen.“

Sie täuschte sich. Die stille Schwester war sterbensmüde, als hätte sie die ganze eigne Kraft dem fremden Elend zugesetzt. Sie wandelte wie im Traum, in einer Art harrender Ergebung ....

Und wieder, wie in allen den Tagen, spannte sich der Sommerhimmel so klar und durchsichtig über das Land, daß die Natur doppelt schön und ihr Friede doppelt groß erschien. Ein kosender Windhauch strich gegen Abend über den Wald und die Weide, als die Sonne langsam tiefer glitt nach dem fernen Horizont, wo die dunklen Waldstreifen hinausverliefen in dem flimmernden blassen Blau.

Die alte Frau hatte diesmal Schwester Brigitte nicht ausweichen lassen; sie mußte wieder einmal hinab ins Freie. Frau Stübel hatte gut reden; aber was zu viel ist, ist zu viel! Sah die arme Schwester nicht selbst schon aus, als wäre sie krank: mit den schmalen Wangen, von denen die Zimmerluft alle Farbe weggenommen hatte, mit den fieberisch müden Augen, die aussahen, als hätten viele Thränen das Licht daraus verlöscht, und mit der müden dünnen Gestalt, an der die festgemute Haltung verschwunden war, mit der sie damals ins Haus getreten! Es wollte der Landrätin nicht in den Sinn, daß solche Hingabe ein wohlgefälliges Opfer sei. Diesmal wies sie allen Widerspruch wohlwollend zurück, und Schwester Brigitte mußte hinaus in die Luft.

Sie schritt gedankenlos durch den Garten hinab, auf die Weide hinaus und setzte sich auf die Bank unter dem großen Baume.

In der Ferne schlenderte der kleine Hirtenbub’ neben seinen Kühen durch das Gras und stieß unharmonische Töne aus seiner selbstgefertigten Schwegelpfeife hervor. Sein streifender Blick entdeckte aber gleich die Gestalt auf der Bank. Da war sie wieder, die schwarze Frau aus dem Landhaus! Er stand still, ließ die Pfeife ruhen und lugte verwundert zu ihr hinüber, denn sie war mehrere Tage nicht hergekommen, das wußte er genau, er hatte ja gehörig aufgepaßt. Eine große Neugierde erfaßte ihn, sie einmal in der Nähe zu besehen. Und sein Plan war gleich fertig. Er machte langsam einen weiten Bogen über die Wiese, bis er ihrem Gesichtskreis entschwunden war. Dann schlüpfte er pochenden Herzens durchs Gebüsch. Wenn er die große Haselstaude erreichen könnte! Dort war er ihr ganz nahe, so nahe, daß er sie ganz genau sehen konnte. Ein solcher Eifer kam über ihn, daß er der Brennesseln nicht achtete, die seine kleinen braunen Waden verbrannten, als er, bald aufrecht, bald auf allen Vieren, sich heranschlich wie ein Jäger ans Wild. Und endlich war er bei der großen Haselstaude. Wenn ein Zweiglein knackte, zitterte er vor Angst, als sei das ganze großartige Unternehmen mißglückt und er auf dem strafbaren Wege ergriffen. Aber alles blieb ruhig, die schwarze Frau rührte sich nicht, und so kauerte er nun da, hielt den Atem an und lugte mit weitaufgerissenen, verwunderten Augen zu ihr hinüber.

Sie regte sich gar nicht und blickte nur immer gerade aus, auf seine Kühe. Der Lauscher im Busch fand das sehr absonderlich, aber er hätte doch gerne etwas Neues gesehen, etwas Ungewöhnliches entdeckt, und wie sie eine ganze Weile so still blieb, ward er beinahe ungeduldig.

Plötzlich aber geschah doch etwas sehr Merkwürdiges. Die schwarze Frau schlug auf einmal beide Hände vors Gesicht und brach in Schluchzen aus.

Das Herz des kleinen Jungen packte eine heillose Angst, ein drängendes Rettungsbedürfnis aus einer dunklen Gefahr. Er schob sich eiligst nach rückwärts und hatte keinen andern Gedanken mehr als schleunige Entfernung aus der unheimlichen Nähe. Anfangs achtete er noch ein wenig darauf, daß es nicht zu arg in den Zweigen raschle, dann aber zwängte er sich, unbekümmert darum, durchs Dickicht, und als er den Wiesenrand glücklich wieder erreicht hatte, fing er an zu laufen, als ob die schwarze Frau hinter ihm drein wäre, ihn am Kragen zu packen. Erst bei seinen Kühen angekommen, hielt er an, und eine schwere Sorge fiel von seinem Herzen, als er, verstohlen hinblickend, die Gestalt noch immer wie früher auf der Bank sitzen sah.

Schwester Brigitte schaute wieder vor sich hin, über die Wiese hinaus, über die Weide, auf der hin und wieder ein mageres Bäumchen stand, vor den herumschlendernden Kühen durch Latten geschützt. Sie blickte darüber weg und gegen das Wäldchen, über welchem die Spitze des Kirchturms aufragte, und gegen den blauen Himmel. Sie blickte in die Weite, als ob sie etwas suchte, etwas Fernes, Verblaßtes, Unsicheres. Ihr Blick wanderte langsam, als suchte er, wie ihre Gedanken, ein bestimmtes Ziel, einen bestimmten Punkt auf einer weiten Bildfläche. Was Schwester Brigitte suchte mit den wandernden Blicken und den wandernden Gedanken, war sie selbst. Es litt sie nicht lange da; dann erhob sie sich und kehrte wieder gegen das Haus zurück. Zwischen ihren Brauen zog sich eine feine scharfe Falte hinauf und kreuzte Schmerz und Strenge auf ihrer Stirn ....

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Der Kranke lag in großer Unruhe; keine Lage behagte ihm mehr. Kurz und schwer ging sein Atem, und über seine bläulichen Lippen drang oft ein schmerzlicher Seufzer. Er begehrte beständig zu trinken und hatte alle Aufmerksamkeit für die Umgebung verloren, aus der ihn abgerissene Phantasien weit fort führten.

Sie stand unablässig an seiner Seite, als könnte sie dem schwer bedrängten kranken Körper von der eigenen Kraft etwas geben. Der Arzt kam spät; gerade heute hatte sie ihn so sehnlich herbeigewünscht. Er verdoppelte ihre Sorge.

„Was können wir machen mit einem Leben, das unserer Hand entflieht –?“

Aus seinem Blick, als er wieder ging, schöpfte sie eine ahnungsvolle Angst.

Die Nacht brach an. Der Kranke wälzte sich ruhelos hin und her; seine Schläfen pochten und seine Stirne war schweißbedeckt. Zwischen den kurzen stöhnenden Atemzügen stieß er wirre Phantasiegespräche mit eilenden Worten hervor, und dann lag er zeitweise wieder ruhig und müde in den Kissen.

Schwester Brigitte saß beim Tische, auf den der Lampenschein gedämpft unter dem grünen Zeugschirme niederquoll. Als steckte [355] der grause Fieberwahn sie selber an, kam eine Verwirrung über sie und eine unaussprechliche Ermüdung senkte sich in ihre Glieder.

O, wenn er gesund würde und wieder ins Leben schritte, der Fremdling, der ihr Herz in friedlose Unruhe gestürzt! – Wenn sie wieder fort könnte, fort auf den einsamen Weg, den sie betreten, und der sie erlösen sollte von dem Schmerz, an dem sie zusammengebrochen war! – O, wenn es zu Ende wäre mit dieser Qual, die ihre Sinne verwirrte und alle Kraft ihrer Seele und ihres Leibes zu Tode hetzte! Zu Ende – zu Ende!

– Großer Gott, habe Erbarmen mit mir! Erlöse mich von dieser Prüfung! – Kläre meinen Geist und schütze ihn vor dem Wahnsinn! Schirme meine weinenden Augen, daß sie nicht immer, immer jenes Antlitz vor sich sehen, das Du im Tode vergehen ließest! – Vergieb meinen dürstenden Lippen, daß sie den Gruß nicht vergessen können, den er von mir gewollt und den ich ihm versagte! – Wie konnt’ ich ihn versagen – dem Scheidenden – dem Sterbenden! – Gieb mir Frieden, Allmächtiger, Frieden – Frieden! –

Sie fürchtete sich, hinüberzusehen und eine stumme Bangigkeit zitterte durch die Stille des Krankenzimmers. Sie wurde größer an dem Schatten um sie her, an dem Stöhnen des Kranken, sie wuchs an dem bleichen Lichtschimmer, der über die Wand floß, an der großen Stille der Nacht, in der sie alles umher entschlafen wußte. Wie ein Flor senkte es sich über sie herab, ein Flor, den die Atemzüge der Nacht hoben und senkten, der um sie wallte und schwebte durch das stille Zimmer, an die Decke und hinaus über Feld und Wald, hinaus über den langen Weg ihres Lebens.

Am Bette des Kranken stand der Tod. Er legte seine eisige Hand mit hartem Griff auf die schwer atmende Brust und drückte den besiegten Leib in die Kissen nieder. In schwankenden Delirien wollte der Geist durch unermeßliche Räume fliegen und stieß mit dem schwachen Rest verbleichenden Bewußtseins an Decke und Wände, wie ein gehetzter Vogel, der im Kerker nach Freiheit flattert.

Und dann wieder schwebten sonnige Bilder auf sein Lager herab, goldflimmernde Träume und seliger Friede. Sein Dasein wollte sich auflösen in die Unendlichkeit. Ein tiefer Seufzer, ein abgerissenes Wort, wie eine Bitte, ein Ruf brach von seinen zuckenden Lippen.

Die Schwester fuhr betäubt empor. Mit frostigem Angstgefühl umschloß die Einsamkeit der Nacht ihre Brust. Der flackernde Blick des Kranken zog sie an seine Seite.

Und der Blick glänzte und leuchtete unter den weit aufgeschlagenen Lidern. Die Lippen öffneten sich ein wenig, es flog über das bleiche Angesicht fast wie ein freudiger Schimmer, der Widerschein von der Lichtgestalt, die er vor sich sah. Er sah ihn wieder, den Boten des Trostes, den namenlosen Engel der Ruhe und Rettung. In einer Lichtwolke stand, hochaufgerichtet, die silberweiße Gestalt. Ein wogender Schleier schwamm um sie, über ihren Kopf und von ihrem Nacken. Das schöne Antlitz war nach ihm gerichtet und die großen göttlichen Augen tauchten mit ihrem Glanz tief in seine Seele. Und sie lächelte sanft mit den himmlischen Augen und nickte mit der blendend weißen Stirne, und streckte den glänzenden Arm nach ihm und winkte ihm. Er richtete sich langsam auf, als hätte sie ihn berührt mit einem Zauberstabe. Eine namenlose Sehnsucht quoll durch seine Brust. Er streckte die zitternden Hände nach ihr und breitete schwer atmend die Arme aus – –

Ihrer selbst nicht mehr mächtig, beugte sich Schwester Brigitte zu ihm nieder. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, verwirrt, betäubt, drückte seinen Kopf an ihre Brust und rückte seine Stirne zurück. Durch den Schleier hervorstürzender Thränen suchte ihr Auge seinen bleichen Mund, und ihre Lippen berührten die seinen.

Ein Schauer rieselte durch ihre Glieder, als tropfte Eis in ihren Adern. Gelähmt, halb ohnmächtig ließ sie ihn aus ihren Armen gleiten und sank neben dem Bette zu Boden. –

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Die Nacht rann weiter.

Als Frau Stübel kam, fand sie die Schwester in schwerer Sorge. Die Kräfte des Verwundeten verfielen unter ihren Augen. Sein Atem pfiff über die fahlen Lippen. Die Wangen waren eingesunken, und ihre Blässe schimmerte bläulich. Sie tastete mit unsicheren Fingern nach dem schwachen Pulsschlage und schüttelte den Kopf auf Frau Stübels Frage, wie es gehe.

„Es geht zu Ende,“ sagte sie leise.

„Nicht doch, lieber Gott! – Nicht doch! Es wird wieder besser werden.“ Und als machte sie Schwester Brigittes eigenes Wesen plötzlich betroffen, setzte sie hinzu: „Sie sind so müde, so angegriffen. Ich kenne mich ja soweit aus. Sie müssen sich etwas Ruhe gönnen. Lassen Sie mich nun hier, nur eine kurze Zeit!“

„Nein, nein – nicht mehr!“

„Nur eine kurze Stunde!“

Schwester Brigitte antwortete nicht gleich. Sie atmete tief auf und sagte dann: „Keine Stunde – nur wenige Minuten. Ich kehre sofort wieder!“

Sie ging in ihr Zimmer, wandte sich zum Fenster, stieß die Läden zurück und beugte sich hinaus.

Tausend Sterne flimmerten im tiefen Blau des Nachthimmels. Sie schaute zu ihnen empor und in ihren Augen leuchtete es wie Verklärung. Ihre schlanke Gestalt reckte sich hoch auf, als sei sie gehoben vom Schwunge der Seele, in ihrer Sehnsucht nach himmlischer Höhe. So stand ihr Bild da wie von geheimnisvoller Weihe umflossen, und durch die schimmernde Nacht hauchte ein heiliger Friede zu ihr.

Es pochte hastig an die Thüre.

„Ich komme!“ rief Schwester Brigitte. Sie stand im Augenblicke draußen.

Frau Stübel trat ihr bestürzt entgegen.

„Es geht ihm so schlecht – ich kenne mich nun doch nicht recht aus –“

Die Schwester war ihr schon vorangeeilt.

Sie hörte schon im Vorsaale das schwere, laute Röcheln des Sterbenden.

Als sie auf die Schwelle trat, stieß er einen Seufzer aus, so tief und schmerzlich, als hätte seine Brust den Rest all ihrer Kraft darin gesammelt. Sein Kopf sank nach rückwärts in die Kissen und sein Kinn fiel kraftlos herab. Leise wischte die Schwester den kalten Schweiß von den verfallenen Wangen. Dann hielt sie eine Weile die Rechte über seine Augen und richtete sich endlich auf.

„Er hat ausgelitteu –“

Im Osten graute der Tag. Durch das offene Fenster wehte die Morgenluft und spielte mit den zitternden Kerzenflammen. Im Zimmer regte sich kein Laut. Frau Stübel fuhr sich ab und zu leise schluchzend über die Augen, während sie neben der Schwester stand, die gesenkten Hauptes ein stummes Gebet sprach.

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Wenige Tage darauf wurde Schwester Brigitte abgerufen. Eine lange Fahrt stand ihr bevor, erst im Wagen, dann mit der Bahn, soweit diese noch befahren werden konnte, hinüber an die Grenze.

An einem kühlen Morgen, ehe die Sonne noch heraufgekommen hinter den Waldhügeln, verließ sie mit einer älteren Schwester im offenen Wagen die Stadt. Sie hatten das Wagendach der schneidenden Morgenluft wegen aufgeschlagen, und müde und schweigend saßen die beiden Frauen in die Ecken gedrückt.

Die Chaussee hinaus ging es vorbei an dem Landhaus, in welchem sie den Verstorbenen gepflegt und das mit geschlossenen Läden dalag, schlummernd in der friedlichen Morgenfrühe. Schwester Brigitte drückte die Hand aufs Gesicht und schloß die Augen.

Weiter draußen ermunterte sich ihre Reisegefährtin. Es war eine ältliche, untersetzte Person, deren freundliches Gesicht rosig unter der schneeweißen Haube hervorsah und in deren hellgrauen Augen ein resoluter Lebensmut blitzte.

Sie fuhreu entlang der verwüsteten Felder, draußen wo der Kampf getobt.

„Lieber Gott – wie es hier aussieht!“ sagte die Aeltere. „Der ganze Erntesegen vernichtet, in Boden gestampft! Warum können die Menschen nicht Frieden halten?“

Und als Schwester Brigitte nichts erwiderte, führte sie verstohlen ein Prischen zur Nase und sagte tröstlich:

„Unser Herr, der es gegeben, wird ja die Halme wieder sprießen lassen. Gras wächst über alles. Aber die Menschen, die Menschen! – Wie soll der gnädige Herrgott die vielen Wunden heilen!“

Die andere, ihre junge Schwester, preßte im Schutz des faltigen Gewandes die Hand fest aufs Herz und senkte schweigend ihr bleiches Antlitz tief auf die Brust herab.