Das weite, von diesen Grenzen eingeschlossene Gebiet bewohnten nun einst viele Völkerschaften, denen die Zahl und Kraft der Stammesgenossen Bedeutung verlieh. Jede von diesen bildete einen eigenen Staat, und nur die Uebereinstimmung an Sitten und Sprache, und die gemeinschaftliche Abstammung verband sie alle. Die meisten von ihnen hatten eine demokratische Verfassung, einige hatten zwar Könige, aber diese waren weniger mit der Macht eines Herrschers, als mit dem Ansehen eines Rathgebers ausgestattet: denn volle Knechtschaft hat dies Volk nie ertragen können. So bildete denn das alte Germanien, wie Spanien, Gallien, Brittannien und Griechenland, bevor diese Länder von den Römern unterworfen wurden, kein einheitliches Reich: ein Zustand, dem noch deutliche Spuren des ersten Ursprungs der Staaten anhafteten, welche ja bekanntlich dadurch entstanden sind, daß einzelne früher getrennt lebende Familien sich zu einer socialen Einigung verbunden haben.
Diese Autonomie und Unabhängigkeit der einzelnen Staaten entsprach nun zwar den Wünschen der Germanen vollkommen: aber sie führte auch zu häufigen Kämpfen der germanischen Stämme untereinander, und zugleich waren die sonst so kräftigen Völkerschaften feindlichen Angriffen grade deshalb um so leichter ausgesetzt, weil kein einheitliches staatliches Band ihre Kräfte zusammenhielt. Denn man schloß auch nicht einmal zeitig genug Bündnisse ab: sondern dann erst erkannte man die Vortheile der Einheit, als alle im Einzelkampfe sich unterlegen sahen.
Die Veranlassung nun zur Veränderung dieser Verfassung rührt von den Franken[1] her. Man hat darüber gestritten, ob dieser Stamm zu den Galliern oder zu den Germanen zu zählen sei. Denn daß die Gallier und Germanen, die ja alle mit den Illyriern, Hispaniern und Brittanniern von den Griechen unter dem gemeinsamen Namen Celten zusammengefaßt wurden, wenn sie auch urverwandt waren, sich doch später durch Sitten und Sprache mannigfach unterschieden, wird kein Alterthumsforscher in Abrede stellen.
Die Schuld an dem erwähnten Streit ist nun ein thörichter Hochmuth der Franzosen, welche vergessen, daß einst nicht wenig gallische Völkerschaften stolz darauf gewesen wären, germanischer Abstammung zu sein und welche die Germanen als ihre Stammväter anzuerkennen für unwürdig halten. Sie behaupten also, einst sei eine große Menschenmenge aus Gallien über den Rhein nach Germanien gewandert und habe den Landstrich
- ↑ Es könnte befremden, daß P. weder die Volkerwanderung und den durch sie herbeigeführten Umschwung der deutschen Verhältnisse, noch die anderen germanischen Staatengründungen auf römischem Boden erwähnt, sondern sich allein auf die Franken beschränkt. Aber P. will keine Geschichte der Deutschen schreiben, sondern, dem Gange historischer Entwickelung folgend, die Bildung des deutschen Reiches darstellen. er berührt deshalb nur das, was für seinen Zweck unmittelbar in Betracht kommt. – Im Uebrigen braucht die Theorie von der gallischen Abstammung der Franken, mit deren Bekämpfung sich P. hier und im folgenden Paragraphen beschäftigt, heute nicht mehr widerlegt zu werden.
Samuel von Pufendorf: Ueber die Verfassung des deutschen Reiches. Berlin: L. Heimann, 1870, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_die_Verfassung_des_deutschen_Reiches.djvu/28&oldid=- (Version vom 1.8.2018)