Karl der Große hob, sobald er des von seinen Vorfahren gemachten politischen Fehlers sich bewußt wurde, die Herzogthümer auf, deren territorialer Umfang schon übergroß geworden war, theilte die ausgedehntesten in mehrere Bezirke und stellte an die Spitze eines jeden einen Grafen. Von diesen haben einige den Grafentitel beibehalten; andere hießen Pfalzgrafen (comites palatini), d. h. Vorsteher einer königlichen Pfalz, die am Hofe des Königs Recht sprachen; andere Landgrafen, d. h. Vorsteher eines ganzen Gaues; wieder andere Markgrafen, d. h. Verwalter der Grenzgebiete oder Marken, beauftragt mit ihrer Vertheidigung gegen fremde Angriffe und zugleich mit der Rechtsprechung in ihnen; andere endlich Burggrafen, d. h. Befehlshaber einer königlichen Burg. Diese Aemter aber verlieh Karl nicht auf Lebenszeit, geschweige denn als vererbbare Würden, sondern er behielt sich das freie Ernennungs- und Abberufungsrecht vor.
Nach dem Tode Karls aber fiel man wieder in den alten Irrthum zurück; und es wurde nicht nur Brauch, daß in allen diesen Aemtern der Sohn dem Vater folgte, sondern die Nachkommen Karls ließen auch wieder die Vereinigung mehrerer Grafschaften zu ausgedehnten Herzogthümern zu oder schufen solche wohl gar selbst. Die Inhaber dieser Würden nun, ehrgeizig wie alle Menschen von Natur, ergriffen gern die günstige Gelegenheit, ihre Stellung zu befestigen, während das Ansehen der fränkischen Karolinger mehr und mehr sank und ihre Macht sich in Bruderkriegen verzehrte. Besonders Otto, der Herzog der Sachsen, des mächtigsten Stammes, der Vater Heinrich des Vogelstellers, erweiterte seine Macht so, daß ihm zur Königswürde nur der Name zu fehlen schien. Deshalb bewog Konrad I., der Heinrich, Otto’s Sohn, zu unterwerfen erfolglos sich bemüht hatte, vor seinem Tode die Großen, Heinrich die Königswürde zu übertragen, indem er es für klüger erachtete, freiwillig zu geben, was er doch nicht hätte behaupten können, und jedenfalls die Losreißung Sachsens vom Körper des deutschen Reichs hindern wollte.
Einige Fürsten verdanken auch ihre Macht der Freigebigkeit der Kaiser, von der besonders die Zeit der Ottonen viele Beispiele bietet. Ob eine solche Freigebigkeit mit monarchischen Grundsätzen sich verträgt, mag ich jetzt nicht untersuchen. Weiter wuchs die Macht der Fürsten durch Schenkungen, Kauf und durch Erbschaften, welche ihnen nicht bloß nach dem Rechte der Blutverwandtschaft, sondern auch durch Erbverträge und Verbrüderung zufielen. Ein solcher Vertrag besteht noch heute zwischen den mächtigen Häusern von Brandenburg, Sachsen und Hessen; aus solchen Verträgen fiel an Sachsen die Grafschaft Henneberg, an Brandenburg Pommern, obwohl der brandenburgisch-pommersche Vertrag nicht gegenseitig war. Weil aber, wie auf der Hand liegt, die oberlehnsherrlichen Rechte des Kaisers an den fürstlichen Territorien durch solche Verträge illusorisch gemacht werden, bedürfen dieselben, um gültig zu sein, der Genehmigung des Kaisers, die in ruhigen Zeiten schon aus Rücksicht auf die nicht betheiligten Stände, nicht leicht zu erwirken sein wird. – Endlich ist in stürmischen Zeiten manches von den Fürsten ohne Rechtstitel durch Gewalt erworben.
Samuel von Pufendorf: Ueber die Verfassung des deutschen Reiches. Berlin: L. Heimann, 1870, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_die_Verfassung_des_deutschen_Reiches.djvu/56&oldid=- (Version vom 1.8.2018)