auch die Mechanik zu umspannen. Es wäre so die Möglichkeit gegeben, die Mechanik elektromagnetisch zu begründen, nachdem Lorentz eine Auffassung des Gravitationsgesetzes entwickelt hat, nach welcher dasselbe den elektrostatischen Kräften nahe verwandt wäre. Man hätte dann die Materie anzunehmen als lediglich aus positiven und negativen sehr kleinen Ladungen zusammengesetzt, die in einem gewissen Abstände voneinander liegen. Unter dieser Voraussetzung ist die ponderable Masse nicht konstant, sondern von der Geschwindigkeit abhängig, und zwar bekommt man noch Glieder, welche von geraden Potenzen des Verhältnisses der Geschwindigkeit zur Lichtgeschwindigkeit abhängen. Der Zahlenfaktor, mit welchem das zweite Glied multipliziert ist, hängt von der Krümmung der Bahn ab, ausserdem aber auch von der Gestalt der elektrischen Ladung. Je nachdem man die Form der elektrisierten Molekeln etwas anders wählt, kommt man zu anderen Zahlenfaktoren. Bei den gewöhnlichen irdischen Bewegungen fällt das heraus, weil die Geschwindigkeit sehr klein ist. Bei den planetarischen Bewegungen aber kann man vielleicht etwas herausbekommen; denn da kommt man zu Geschwindigkeiten, bei denen die Glieder zweiter Ordnung zu berücksichtigen sind. Bei der Annahme einer bestimmten Form der Ladung, die zu dem einfachsten elektromagnetischen Felde führt, machen sich diese Glieder in der Weise geltend, dass die Beschleunigungen zweier Körper durch die Gravitation bis auf einen um ein geringes verschiedenen Zahlenfaktor dieselben sind, als ob sich die Körper bei konstanter Masse nach dem Weberschen Gesetze anziehen. Die elektromagnetisch definierte Masse kommt so ins Spiel, als ob nicht das Newtonsche, sondern das Webersche Gesetz gilt.
Lorentz. Im wesentlichen sind wir einverstanden; nur will Wien schon jetzt weiter gehen als ich. Jedenfalls schien es mir von Interesse, dass man sich nach Mitteln umsieht, wodurch man zur Entscheidung über die angeregte Frage kommen kann. Noch eines möchte ich hinzufügen: Ich habe die Annahme gemacht, dass die Kugel, welche ein Ion bildet, starr sei. Aber man könnte vielleicht vermuten, dass bei der Bewegung die Kugel sich in ein Ellipsoid transformieren würde. Das hat einige Ähnlichkeit mit der Verschiedenheit, auf die Wien hinwies.
Voigt. Ich möchte die Frage an den Vortragenden richten, wie es sich mit der Reflektion von Kathodenstrahlen verhält; sollte da nicht ein rotierendes Ion anders reflektirt werden, wie ein nichtrotierendes?
Lorentz. Gewiss, wenn man sich die Reflektion vorstellt als vorsichgehend an einer Fläche. Aber wenn man sich die Reflektion vorstellt, wie es mir näher liegt, als veranlasst durch Kräfte, die bei einiger Entfernung des Ions von der Fläche auftreten, so wirken diese doch wohl auf den Mittelpunkt, und dann fallt der Einfluss der Rotation fort.
Warburg. Was lehrt denn die Theorie über die Geschwindigkeit der Ionen bei der Reflektion? Bleibt sie dieselbe?
Lorentz. Soviel ich weiss, ja. Ich habe nicht darüber gearbeitet.
Warburg. Merritt hat gefunden, dass die Geschwindigkeit bei der Reflektion nicht geändert wird. Aber die Experimente von Cady über die Energie der Kathodenstrahlen stehen hierzu in Widerspruch, so dass ich schon daran gedacht habe, dass die Versuche von Merritt nicht ganz richtig sein könnten, und man vielleicht doch eine Geschwindigkeitsänderung bekommen könnte. Ich wollte fragen, ob die Theorie in dieser Beziehung etwas aussagt.
Lorentz. Das kann ich im Augenblick nicht sagen.
Hendrik Antoon Lorentz: Über die scheinbare Masse der Ionen. Leipzig: S. Hirzel, 1900/1, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_die_scheinbare_Masse_der_Ionen.djvu/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)