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sie bieten entweder selbst Vorwände oder gleichgerichtete Vorbereitungen und Bereitschaften, Schmerzen und Schwerbeweglichkeit in den Händen in unserem Falle, und lenken den Blick von der Bedrohung des männlichen Protestes ab.

Aber auch in diesem Falle muss man die Kraft der männlichen Leitlinie anstaunen, die noch aus der Flucht der Patientin in die Krankheit eine männliche Kampfbereitschaft gestaltet. Dieses Mädchen hatte unter dem Druck der unnachgiebigen Mutter gegen den eigenen Willen die Virtuosenlaufbahn betreten.

Das Scheitern der ehrgeizigen mütterlichen Pläne bedeutete für die Tochter einen Sieg, der sie teilweise entschädigte. Was ihr Trotz, ihre männliche Auflehnung nicht zuwege brachte, gelang mit den Mitteln der Krankheit, sobald wie ein drohendes Memento Notenköpfe ihr zuriefen: du bist ein Weib, gib acht, lasse dich von der Mutter nicht in eine weibliche, fügsame Rolle bringen, — unterwirf die Mutter! —

Eine weitere Konstruktion, ein Vorwand, um die Operationsbasis gegen die Mutter zu gewinnen, lag in ihrem gesteigerten Gefühl der Zurückgesetztheit gegenüber einer jüngeren Schwester. Dieser Gedankengang, sowie ihr Ringen um den ausschliesslichen Besitz jeder Person, der Mutter, aller Familienglieder, aller Menschen in ihrer Umgebung, eines Hundes auch, spiegelt sich in dem verstärkten Zug ihrer Koketterie und kommt beispielsweise in einem ihrer letzten Träume dem Arzt gegenüber zu gutem Ausdruck. Der Traum lautet:

„Ich sitze Ihnen gegenüber und frage, ob Sie andere Patienten auch so gerne haben wie mich. Sie antworten: ja, alle, und meine 4 Kinder auch. Auf einmal verwandeln Sie sich in ein Weib und schlafen ein. Eine Frau gibt auf die schwarzen Noten acht.“

Die Liebesbereitschaft dieser Patientin verträgt keine Nebenbuhler. Sie braucht die Gewissheit ihres Sieges, um ihre Überlegenheit zu fühlen. Ich, der Arzt, der ihr zu verstehen gibt, dass er mit gleichem Interesse alle Patienten behandelt, der zudem seine Kinder liebt, wird dadurch zum Angriffspunkt ihrer Herrschsucht, wie früher die Mutter, ihr Mann, den sie kürzlich geheiratet hat, wie alle Personen ihrer Umgebung, Dienstboten, Geschäftsleute, Lieferanten, Lehrer usw. Ihr egozentrisches Wesen braucht nicht zu „übertragen“, da sie nur fertige, starre Bereitschaften in die Behandlung mitbringt und diese vom ersten Augenblick der Begegnung mit dem Arzte spielen lässt. Nur dass die neue Situation Erschwerungen und Hindernisse bringt, unter denen der Wille zur Beherrschung durch Liebe nicht voll zur Entfaltung kommt. Verständlicherweise fehlt meine Frau im Traume. Gerade diese Auslassung ist der Angelpunkt der Situation: meine Frau ist endgültig beseitigt. Bis hierher reichen die weiblichen Mittel und charakterisieren die weibliche Linie, auf der sich Patientin hält. Nun reckt sich deutlich der männliche Protest. Ich werde entmannt, die sichernde Illusion der Patientin, Noten als schützendes Symbol der männlichen Genitalien tritt in ihre Rechte, sie selbst „gibt acht“, sichert sich, um in ihrem männlichen Persönlichkeitsgefühl nicht zu sinken, keine Niederlage zu erleiden.

Dass ich im Traume einschlafe, weist mir eine ähnliche Stellung an, wie sie ihr Mann einnimmt. Patientin empfindet es als stärkste Herabsetzung, dass ihr Mann, ein stark überarbeiteter Fabrikant, häufig früher einschläft als sie selbst. Die Entmannung des Mannes ist die Antwort darauf, ebenso eine langwierige Schlaflosigkeit, deren

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/123&oldid=- (Version vom 31.7.2018)