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Diese Tendenz gegen weibliche Funktionen, — und Patientin wehrt sich ja auch bewusst gegen die Ehe, — ist aber noch älter, stammt aus der frühesten Kindheit und war damals in dem Wunsch verkörpert, oben, gesund, kräftig zu sein wie der Vater. Sie wurde dann zur fiktiven Leitlinie erhoben und füllte sich mit logischem Inhalt, der sich um ein leitendens männliches Persönlichkeitsideal gruppiert, und mit der gleichgerichteten Furcht vor einer weiblichen Rolle. Nun konnte ich der Patientin auch den Sinn ihrer Magenneurose allmählich klarlegen: es waren halluzinatorische Erregungen, die Beschwerden einer Schwangerschaft vorspiegeln sollten, damit sich die Patientin von dieser fernhalten sollte. Im wachen Zustand, im Traum, in der Halluzination und in der Neurose bestand demnach der Einklang der Sicherungstendenz: sei keine Frau, unterwirf dich nicht, sei ein Mann! Dieses Mädchen zeigte in ihrem Auftreten barsche, resolute Züge und kam mit allen Menschen in Streit. Ihr Ehrgeiz flammte lichterloh und machte sie unduldsam. Von ihrem Bräutigam, den sie sehr schlecht behandelte, verlangte sie unbedingte Unterwerfung und löste auch öfters jede Beziehung. Als er sich aber einst einem anderen Mädchen zuwandte, bot sie alles auf, um ihn festzuhalten. Einer von ihren Kindheitstagträumen bestand in der Phantasie, dass die ganze Menschheit zugrunde gegangen, und sie allein übrig geblieben sei, eine Analogie zum Mythus der Sintflut, aus der das egozentrische, feindselige Wesen der Patientin deutlich hervorblickt.

Bei vielen Patienten, welche Züge des „Alles-Haben-Wollens“ mit grosser Deutlichkeit aufweisen, wie auch bei dem zuletzt beschriebenen Mädchen, findet man auch Charakterzüge gegenteiliger Art. Sie sind oft von so aufdringlicher Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Genügsamkeit, dass die besondere Akzentuierung schon den Verdacht eines Arrangements erweckt. Überall spricht ihr „Gewissen“ mit, und leicht rege sitzt ihnen das Schuldgefühl[1], bereit auf alle möglichen Anlässe zu reagieren. Die Lösung dieser alten Rätsel der Menschheit ergibt sich aus dem Verständnis der Sicherungstendenz, welche die geradlinigen, aggressiven Leitlinien unterbricht, den Regungen strafbarer Habgier und Masslosigkeit ein Ende macht, sobald dem Persönlichkeitsideal durch sie eine Gefahr droht. Sie stellt dann sozusagen eine intermediäre leitende Fiktion auf, das Gewissen, und seine antizipierende Steigerung, das abstrakte Schuldgefühl, — Instanzen, durch die alle angesponnenen Handlungen und Vorbereitungen derart umgewandelt werden, dass sie dem Willen zur Macht und zum Schein nicht abträglich werden, dass sie auch die Selbsteinschätzung hoch zu halten gestatten. Wir gewahren an diesem Punkte den Widerpart des ursprünglichen Minderwertigkeitsgefühls als eine zu moralischem Ausdruck kommende Kompensation des Gefühls der Unsicherheit. Nun kann der Nervöse eine Anzahl von Möglichkeiten sicher ausschliessen, die ihn erniedrigen könnten.

Auch in anderen Beziehungen lässt sich die Wirkung der Sicherungstendenz in der Moral, in der Religion, im Aberglauben, in den Regungen des Gewissens und des Schuldgefühls erkennen. Sie alle schaffen starre Formeln und Leitsätze, wie sie der unsichere Nervöse liebt. Und er kann sich im Kleinen bereits üben, oft an Nichtigem seine


  1. Adler, Über neurotische Disposition (l. c.) und Furtmüller (l. c.)
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/129&oldid=- (Version vom 31.7.2018)