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tauchen Tendenzen auf, wie die Sehnsucht allein zu sein, zuweilen auch begraben zu sein, oder Bilder: wie lebendig begraben, im Mutterleib geborgen zu sein (Grüner). Zuweilen habe ich als Erfüllung dieser Sehnsucht nach Herrschaft in Einsamkeit langes Verweilen am Klosett gefunden. — Ganz in die gleiche Richtung, Herrschaft zu gewinnen, führen den Nervösen seine übertriebene Nachgiebigkeit und weiblich gewertete Einfügung. Immer ist dabei der Patient auf der Lauer, obgleich er auf diese Weise auch den Stärkeren zu fesseln sucht, nach der männlicheren Linie abzuweichen und seinen offenen Triumph zu geniessen. —

Die gleiche Kampfbereitschaft gewährleistet dem Neurotiker sein Hang zum Wählerischen. Er kann dabei alle und alles entwerten, sich vor Entscheidungen sichern und seine Prärogative in Anspruch nehmen. Er wird dort wählerisch sein, wo es seinen Tendenzen am besten entspricht, und wo er die vorteihaftesten Griffe anbringen kann. Beim Essen, bei der Wahl von Freunden, von Liebesbeziehungen, im Umgang sichert er sich dadurch ein quälendes Übergewicht. Jeder muss mit ihm rechnen, denn er ist krank, nervös. Zu grossen Leistungen gelangt dieser Charakterzug, sobald sich die Furcht vor dem geschlechtlichen Partner, vor der Ehe seiner bedient. Kein Mädchen, kein Mann taugt dann etwas, und ein windiges Ideal gibt ihm bei dieser Entwertung aller den Stützpunkt. Zu anderen Zeiten, in anderer Beziehung zeigt sich dieser Zug als Arrangement, als die Vorsicht eines Menschen, der den schwachen Punkt seines Minderwertigkeitsgefühls noch nicht überwunden hat: er kann auch genügsam sein, „wenn der Wind von Nordnordwest bläst“, wenn sein Wille zur Macht es verlangt.

Eine der Beruhigungsmethoden, die wohl allenthalben zu finden sind, sobald Kinder sich irgendwie unzufrieden zeigen, sind die bekannten Vertröstungen auf die Zukunft, in der das Kind grösser sein, wachsen wird. Von Kindern selbst kann man häufig hören: „wenn ich gross sein werde,“ werde ich - - -. Das Problem des Wachstums beschäftigt das Kind ungemein, und es wird im Laufe seiner Entwickelung ununterbrochen daran erinnert. So bezüglich seiner Körpergrösse, bezüglich des Wachstums der Haare, der Zähne, und sobald es auf Spekulationen über den Sexualapparat gerät, bezüglich des Wachstums der Schamhaare und der Genitalien. Die Einstellung des Kindes in seine männliche Rolle, von der wir oft gesprochen haben, verlangt ein deutliches Grössenwachstum der eigenen Person und seiner Körperteile. Wo ihm dieses versagt bleibt, — und hier stossen wir wieder auf das Fundament der Organminderwertigkeit, insbesondere auf ursächliche Rhachitis (Thymusanomalien?), Anomalien der Thyreoidea, der Keimdrüsen, der Hypophysis etc., — gerät es durch seine Sehnsucht nach männlicher Geltung in die männliche Proteststellung. Dann erhält es den verstärkten Antrieb zu Neid, Missgunst, Prahlerei, Habsucht, Aktivität, bekommt ein verschärftes Massgefühl und vergleicht sich ständig mit anderen, insbesondere mit den geltenden Personen seiner Umgebung, schliesslich auch mit den Helden aus Märchen und Erzählungen. So kommt es zu sehnsüchtigen Zukunftsbetrachtungen, und die von der Sicherungstendenz aufgestachelte Phantasie erfüllt alle Wünsche.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/132&oldid=- (Version vom 31.7.2018)