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und ähnliche Bemerkungen hört man während der psychotherapeutischen Behandlung regelmässig, und man darf die darin verborgene Kritik als Bereitschaft der gegen Alle gerichteten Entwertungstendenz nicht übersehen. Der diesmalige massvolle Ausdruck derselben liess mich erwarten, dass die Heilung der Enuresis im Gange sei, da die heftigeren Reaktionen ausgeblieben waren. Früher hatte sie in ähnlichen Fällen mit Schärfe und Leidenschaft hervorgehoben, dass ich ganz unrecht habe, oder sie hätte solche Träume und Gedanken, die für mich sprachen, verschwiegen oder vergessen. In meiner Annahme wurde ich durch die weitere Mitteilung bestärkt, dass Patientin nach dem Traume sofort die von früher her nur wenig beschmutzte Bettwäsche abgenommen und heimlich gereinigt habe, was früher nie vorgekommen war, weil der Anblick der schmutzigen Wäsche für die Mutter bestimmt war.

Zur Erklärung des Traumes berichtet sie folgendes: sie sei fest überzeugt, dass die Mutter von der Enuresis allen Bekannten erzähle. Alle Verwandten scheinen von ihrem Leiden zu wissen. Einmal habe ihr ein Onkel, offenbar um sie zu trösten, mitgeteilt, er und noch ein anderer Bruder der Mutter hätten lange Zeit das Bett nass gemacht. Im Traum gibt sie vorwurfsvoll der Mutter zu verstehen: dieses Leiden liegt doch in deiner Familie, du bist schuld, wenn ich das Bett beschmutze, „die schmutzige Kappendecke ist von dir!“ — Weiter erzählt sie, dass sie beim Wäschewechsel oft einen Duchentüberzug statt einer Kappendecke nehme; der eine sei geschlossen, die andere offen, — fügt sie hinzu, — und man könne beide im Kasten leicht verwechseln.

Hinter diesen Gedanken liegt das Problem von „offen und zu“ als Ausdruck für den Gegensatz der Geschlechter deutlich zu erkennen. Sie gibt der Mutter die Schuld an ihrer Krankheit, schielt aber sozusagen gleich nach dem Urgrund und der Triebfeder ihres Leidens, der durch die Mutter verschuldeten Weiblichkeit, und verrät uns im männlichen Protest ihres Traumes, wie gering sie den Unterschied zwischen Mann und Frau veranschlage. Ähnlich[WS 1] erklärte George Sand, es gäbe nur ein Geschlecht. Das Streiten und Weinen ist die vorwiegendste Attitude ihrer Aggression gegen die Mutter, deren Überlegenheit sie dadurch, wie auch durch das Festhalten an der Enuresis aufzuheben sucht. Dass sie gegenwärtig mit der enuretischen Bereitschaft auch gegen den Mann operiert, einer Heirat und damit der „Herrschaft des Mannes“ auszuweichen sucht, geht aus anderen Perspektiven ihrer neurotischen Psyche hervor.

Ein Beispiel für den Formenwandel der leitenden männlichen Fiktion, die ursprünglich gelautet hat: ich will ein Mann sein, — im obigen Stadium der Kur: ich will der Mutter überlegen sein, so wie ein Mann, — ergab sich gegen Ende der Kur und kann ungefähr in die Worte gefasst werden: ich will die Mutter erniedrigen — mit weiblichen Mitteln. In einem Traum, einem Vorversuch also, einem probeweisen Anschlag, kommt diese Richtungslinie unserer Behauptung gemäss zu stärkerem Ausdruck. Er lautet:

„Ich liege in einem brennenden Bett. Um mich herum jammern alle. Ich lache laut.“


  1. Vorlage: hnlich
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/135&oldid=- (Version vom 31.7.2018)