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Charakterzüge eingesprengte Inseln im weiten Gebiete eines weiblichen Seelenlebens. Man muss sich vielmehr zur Annahme entschliessen, dass diese männlichen Züge unter dem Zwange einer beherrschenden Tendenz zustande kamen, einem Lebensplan entstammen und deutlich in Erscheinung traten, weil sie es konnten, während rings um diese Züge herum ein undeutliches, nur gelegentlich hervortretendes, männliches Wollen besteht, das mehr auf Verhinderung und Umarbeitung weiblich scheinender Regungen verwendet wird, ehe es sich selbständig macht. In diesem Kampfe männlicher gegen weibliche Regungen wirft sich das Persönlichkeitsgefühl ganz auf Seite der Männlichkeit und nutzt etwa vordringlich auftauchende weibliche Regungen, darunter auch den Sexualtrieb des Weibes, dazu aus, um sie als erniedrigend, gefahrbringend zu sammeln,[1] zu gruppieren, zu vergrössern und zu unterstreichen, sie aber sogleich mit Wachposten zu umstellen, damit sie ihres Einflusses beraubt seien. Diese Wachposten — Sicherungen — reichen meist weit über die Sphäre der weiblichen Regung hinaus. Man findet immer, dass diese Sicherungen und wachenden Bereitschaften, unter ihnen unsere Krankheitssymptome, — nicht bloss ihren Zweck erfüllen, eine Niederlage zu verhindern, sondern dass sie die Patienten mit einer überaus vorsichtigen Art so sehr erfüllen, dass diese schliesslich zu allem unfähig werden. Dann erst ist die primäre Unsicherheit aufgehoben, die der Furcht vor einer weiblichen Rolle gleichzusetzen ist, doch ist sie auf das ganze Leben verschoben und drängt den Erkrankten aus allen sozialen Banden. Auf dieser Rückzugslinie finden wir alle unsere Patienten, und ihre Symptome bilden die Sicherung, auf dass sie nicht ins Gewühl des Lebens zurückkehren. Daraus entwickelt sich nun ein Bild des Neurotikers, das oft eine Zurückschraubung auf einfachere, kindlichere Verhältnisse und Beziehungen erkennen lässt, sei es, dass diese erst nach anfänglicher Entwickelung vollzogen wurde, sei es, dass sie diese Entwickelung überhaupt verhinderte. Dabei wird manches wieder wie in der Kinderstube. Die Beziehungen zur Familie werden ungemein verstärkt, oder statt der kindlichen Liebe zu den Eltern entwickelt sich der alte Kindertrotz, und beide Einstellungen werden als Leitbilder verwendet, als ob der Patient in allen Personen Vater oder Mutter aufsuchte. Trotzdem er durch diese Fiktion mit der Realität in Widerspruch kommt, hält er daran fest, weil er in dem Verhältnis seiner Kinderstube Sicherheit hatte. Kipling erzählt von einem im Todeskampf Liegenden, den er solange beobachtete, bis sich der erwartete Schrei nach der Mutter von seinen Lippen rang. Man braucht, um diese Sehnsucht nach Sicherheit zu begreifen, nur kleinen Gassenjungen zuzuhören, wie sie sofort, wenn sie in Bedrängnis geraten, nach der Mutter rufen. Die gleiche Sehnsucht nach Sicherung hat sich auch in die Verehrung der Mutter Gottes eingeschlichen. Bei Mädchen findet man in der Regel die Sehnsucht nach Sicherung analog der Beziehung zum Vater ausgesprochener. Die von G. Grüner in den Vordergrund gerückte Mutterleibsphanthasie habe ich gleichfalls bloss in Anwendung bei Neurotikern gefunden, wenn sie damit ausdrücken wollten, nur bei der Mutter ist Ruhe, oder wenn sie Suizidgedanken,


  1. Diese Affektverstärkung wird immer aus einem tendenziösen Junktim geholt. Weibliche Rolle und Abgrund, Ertrinken, Sterben, Überfahrenwerden oder Erdrüktwerden.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/145&oldid=- (Version vom 31.7.2018)