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leiden, und sie benehmen sich bei Gefahren anderer genau so, wie wenn sie selbst etwa beim Fenster oder auf einem Felsen stehen. Sie weichen unter dem Gefühl der Angst zurück, legen eine Sicherungsdistanz zwischen sich und die meist gar nicht gefährliche Stelle, kurz sie haben eine Empfindung, die sie etwa hätten, wenn sie selbst in Gefahr wären. Hier springt die zuweit getriebene Vorsicht deutlich in die Augen, die bei Neurotikern so stark ist, dass sie nicht einmal über eine Brücke gehen, in der Angst, sie könnten ins Wasser fallen oder sich hineinstürzen. Ähnliche Mechanismen der Vorsicht habe ich in allen Fällen von Platzangst gefunden, und sie zeigen uns an, dass wir einen Patienten vor uns haben, der der Entscheidung ausweichen will, ob er auch irgend einer erst von uns aufzufindenden Situation, in der Regel dem geschlechtlichen Partner, gewachsen ist. Auch bei allen anderen Phobien macht, wie ich bei Besprechung der Syphilidophobie (Zeitschrift f. Ps. I. Bd., 1911, Heft 9) gezeigt habe, diese „Einfühlung“ (Lipps) in einen noch nicht vorhandenen, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit zu gewärtigenden Zustand die charakteristischen Symptome und zeigt sich als ein sehr geeignetes Mittel der Sicherungstendenz, ersetzt in vielen Fällen geradezu den nicht unbesieglichen Charakter der Moralität. Genau betrachtet liegt auch jedem Charakterzug eine derartige Einfühlung zu Sicherungszwecken zugrunde, wie die Formel in Kants kategorischem Imperativ für das gesamte Charakterbild deutlich zeigt, wenn dieser Philosoph das Handeln jedes einzelnen von dem Gesichtspunkte geleitet wissen will, als ob es zur allgemeinen Maxime erhoben werden sollte.[1]

Es gibt also entsprechend den sichernden Fiktionen des Simulanten bei allen Menschen, insbesondere aber bei den neurotisch disponierten Kindern Fiktionen, Maximen, Leitsätze, die bestimmt sind, eine stärkere Sicherung durchzuführen, entsprechend dem stärkeren Minderwertigkeitsgefühl dieser Kinder. Und auf ihren Kern reduziert lauten diese Formeln alle: Handle so, als ob du ein ganzer Mann wärst, oder sein wolltest! Der Inhalt dieses Handelns, der sich meist als ein Ersatzstück qualifiziert, ist durch Erfahrungen des Kindes, durch die Art seiner Organminderwertigkeit vorausbestimmt, erleidet aber durch die besonderen Umstände seiner neurotisch gewerteten Erlebnisse spezielle Abänderungen, die als Formenwandel erkannt werden müssen.

Die Organminderwertigkeit bestimmt durch die sie begleitenden psychischen Unlusterscheinungen die Richtung der Begehrungsvorstellungen und leitet dergestalt im psychischen Überbau die Kompensationsvorgänge ein. Auch hier sehen wir die Sicherungstendenz am Werk (Adler, Studie l. c.) und meist in der zweckdienlichen Weise, dass sie mit einem Sicherungskoeffizienten arbeitet und so zur Uberkompensation Anlass gibt. (J. Reich, Kunst und Auge, Öst. Rundschau 1909.) In der Entwicklung etwa des Stotterers Demosthenes zum grössten Redner Griechenlands, von Klara Schumann, die hörstumm war, zu einer vollendeten Musikerin, des kurzsichtigen G. Freytag, vieler Dichter und Maler mit Augenanomalien zu visuellen Talenten, und der vielen Musiker mit Gehörsanomalien sehen wir, wie sich die kompensatorische Sicherungstendenz durchsetzt. Ebenso auch in jedem schwächlichen Kind,


  1. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/147&oldid=- (Version vom 31.7.2018)