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Anfang und das Ziel andeutungsweise verborgen.[1] Diese Feststellung ist das Fundament jeder individual-psychologischen Methode und deckt sich mit unseren übrigen Befunden. Man wird deshalb in der Analyse eines Symptoms oder eines Traumes jedesmal das „Unten“ — die Empfindung des Weiblichen, der Minderwertigkeit — und des „Oben“ — männlichen Protest, fiktives Endziel — in Spuren wiederfinden, in der Art einer nach aufwärts gerichteten psychischen Attitude, in einem stark gegensätzlich gefassten, „hermaphroditischen“ Bild, im neurotischen Umweg, der als solcher die Tendenz charakterisiert, gegen Widerstände durch Kunstgriffe aufzukommen, oder auseinandergelegt, so dass im Wechsel und Schwanken der psychischen Erscheinungen bald das „Unten“ bald das „Oben“ zutage tritt. — Oft ist dieses „Oben sein wollen“ stark bildlich ausgedrückt, insbesondere in Träumen, aber auch in Symptomen, setzt sich symbolisch als Wettlauf, als Aufflug, als Bergbesteigung, als Treppenbesteigung, als Auftauchen im Wasser etc. durch, während das „Unten“ durch Fallen, kurz durch eine Bewegung nach abwärts dargestellt wird. Ebenso häufig findet sich zu dem gleichen Ausdruck das Bild oder die Tatsache des Sexualverkehrs symbolisch verwendet. Ich will hier über die Träume eines Patienten berichten, der aus Erinnerungen an Schwäche und auffälliges weibliches Verhalten für seine männliche Zukunft fürchtete. Ein Traum aus seiner frühen Kindheit, der ihn lange mit Schrecken erfüllte, zeigte ihm das Bild, wie er von einem Stier verfolgt wurde. Als Bauernsohn verstand er frühzeitig, dass dieser männliche Verfolger einen Wettlauf gegen eine Kuh, die Pat. selbst vorstellte, aufnahm. Als er in die Schule gehen sollte, richtete er seine Schritte geradewegs auf die Mädchenschule, und musste unter Anwendung von Gewalt in die Knabenschule gebracht werden. Sein Leben fasste er unbewusst als Wettlauf auf, zu dem er unausgesetzt Vorbereitungen traf. Als er sich um ein Mädchen bewarb, stach ihn sein Freund aus. Als er vor einer Heirat stand, fürchtete er die Überlegenheit seiner zukünftigen Frau, verfiel in Zwangsmasturbation, hatte gehäufte Pollutionen und bekam einen Tremor, der ihn bei seinen Arbeiten und an der Vorrückung im Amte störte. Natürlich stellte er das Junktim auf, nur dann zu heiraten, wenn er gesund würde, ein Gedanke, der klug und berechtigt erscheint, dem Patienten aber gestattete, wie hinter einem Schleier heimlich gegen die Heirat zu operieren, von der er eine Herabsetzung seines Persönlichkeitsgefühls befürchtete. Der Tremor stellte dabei den vorausgefühlten Beginn einer Paralyse vor, die er wegen masturbatorischer Exzesse befürchtete. Nachdem er sich in dieser Art gesichert hatte, bedurfte er noch der Bestätigung seines unheilbaren Leidens, und so stellte er sich den Ärzten weinend vor. Unsere Besprechungen ergaben mir das Bild eines rastlos ehrgeizigen Menschen, der immer die Anderen herabsetzen wollte, aber vor einer ernsthaften Entscheidung zurückschreckte. Auch Liebesbeziehungen waren bei ihm in der Hauptsache Mittel, um den Beweis seiner überlegenen Männlichkeit zu erlangen. So stürmisch er sich auch um ein Mädchen bewerben konnte, in dem


  1. Mit Recht hebt Bergson das Gleiche von jeder Bewegung hervor. Bei genügendem Wissen und ausreichender Erfahrung kann man in jedem psychischen Phänomen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, aber auch das erstrebte Finale herausfinden. Und so darf jedes psychische Phänomen, auch jeder Charakterzug gleich dem minderwertigen körperlichen Organ als Symbol des Lebens aufgefasst werden, als Versuch des Aufstiegs, des männlichen Protestes.
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/163&oldid=- (Version vom 31.7.2018)