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VIII. Kapitel.
Furcht vor dem Partner. — Das Ideal in der Neurose. — Schlaflosigkeit und Schlafzwang. — Neurotischer Vergleich von Mann und Frau. — Formen der Furcht vor der Frau.

In diesem Ringen der Nervösen um die Erfüllung des männlichen Leitzieles kann es niemals ausbleiben, wie wir hervorgehoben haben, dass sich die Furcht vor der Entscheidung als Furcht vor dem anderen Geschlecht, dem Prüfstein der eigenen Kraft, dem Erfüller der leitenden Idee in hervorragender Weise kundgibt. Die Vorbereitungen für den Kampf um die Überlegenheit werden von Mädchen und Knaben in der Familie, im Spiel, in der Ansammlung von Erfahrungen aller Art, in der Phantasie, in Tagträumen, im Miterleben von wirklichen Ereignissen und Dichtungen so frühzeitig, so reichlich und so einheitlich getroffen, dass in der Zeit der Pubertät sichere Bereitschaften für die Liebe und Ehe bestehen, und dadurch allein die Auswahl und die Richtung der Erotik in engen Grenzen vorbestimmt ist. Nun überlege man, welcher Art die Vorausbestimmung des Liebesobjektes bei Nervösen sein mag! Da ist die Herrschsucht, die Überempfindlichkeit, der Ehrgeiz, die Unzufriedenheit und alle die beschriebenen nervösen prinzipiellen Charakterzüge, die sichernden Bereitschaften des Misstrauens, der Vorsicht, der Eifersucht, die Entwertungstendenz, die überall nach Fehlern sucht, die neurotischen Abbiegungen und Umwege, die zuerst die eigene Hörigkeit anstreben, um von dieser Basis aus ihre Überlegenheit zu erweisen oder zu flüchten. Das neurotische Junktim mengt sich ein und verlangt zur Liebe noch eine schwer oder gar nicht zu erfüllende Eigenschaft, oder der Partner soll (Plato und viele neuere Sexualpsychologen) „das Fehlende ergänzen“, was nichts anderes heisst, als er soll die von dem Suchenden kompensatorisch konstruierte Persönlichkeitsidee erfüllen oder vorstellen. Auch das normale Kind erwartet von der Zukunft, und insbesondere von seiner Liebeswahl die Erfüllung seiner Ideale. Aber zur gegebenen Zeit ist es imstande, nachdem es sich von seiner Idee als Mittel hat treiben lassen, von ihr zur Wirklichkeit abzuspringen und mit dieser zu rechnen. Anders der Neurotiker. Er kann seine neurotische Perspektive aus eigener Kraft nicht verändern, seine starr gewordenen Prinzipien nicht aus dem Spiele lassen, seinen Charakterzügen nicht gebieten. An seine Idee gekettet, bringt er die alten Vorurteile und Voreingenommenheiten auch in die Liebesbeziehungen und handelt so, als ob sie ihm nicht Realität sondern die Sicherung seiner Idee, den Triumph seines überspannten männlichen Protestes gewährleisten müssten. Und bald ist die Enttäuschung da. Denn sie wird von dem Nervösen als Vorwand, als Sicherung gegen die

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/177&oldid=- (Version vom 31.7.2018)