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Rolle spielen werden. Dabei kommen sie auf dem Wege fortschreitender Entwertung der Frau zu misstrauischen Gedankengängen, durch welche sie sich vor Liebesbeziehungen sichern. Bald ist die Frau ein Rätsel, bald ein verbrecherisches Wesen, stets auf Putz und Ausgaben bedacht und sexuell nie zu befriedigen. Immer drängen sich Vermutungen ein, das Mädchen wolle nur die Versorgung, habe es darauf angelegt, den Mann zu kapern, sei listig und verschlagen, und stets zum Bösen gewandt. Diese Gedankengänge sind universell und finden sich zu allen Zeiten. Sie tauchen in den erhabensten und niedrigsten Kunstschöpfungen auf, treiben im Sinnen und Trachten der Weisesten ihr Spiel, und schaffen beim Manne wie bei der Gesellschaft eine stete Bereitschaft, die misstrauische und vorsichtige Züge entwickelt, um immer in Fühlung mit dem Feind zu bleiben und seine tückischen Angriffe rechtzeitig abzuwehren. Man irrt, wenn man meint, dass nur der Mann Misstrauen gegen den geschlechtlichen Partner hegt. Die gleichen Züge finden sich bei der Frau, oft weniger deutlich, wenn Fiktionen von der eigenen Stärke dem Zweifel an der eigenen Wertigkeit steuern, aber um so heftiger auflodernd, wenn das Gefühl der Herabsetzung übermächtig wird.

In den Disputationen frommer Gelehrter des Mittelalters tauchten Fragen auf, ob das Weib eine Seele habe, ob es überhaupt ein Mensch sei, und die allgemeine Ergriffenheit von dem gleichen Gedanken loderte empor in den wahnsinnigen Hexenverbrennungen der darauffolgenden Jahrhunderte, bei denen sich Regierung, Kirche und das verblendete Volk die Hände boten. Diese gehässigen, wie auch die liebenswürdigeren Entwertungen der Frau, die sich in christlichen, jüdischen und mohammedanischen Religionsgebräuchen wiederfinden, brechen unwiderstehlich aus der Seele des fürchtenden, unsicheren Mannes, und erfüllen die Gedankenwelt des Neurotikers so vollständig, dass man die Entwertungstendenz des Partners als hervorspringendsten Charakterzug in der neurotischen Psyche wiederfindet. Nun sind die vorgeschobenen Posten zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls festgelegt, und das eigenartige Spiel der neurotischen Charakterzüge beginnt. Fortwährendes Prüfen, Abtasten, Unterwerfenwollen, eine Sucht, Fehler zu finden und den Partner herabzuwürdigen, setzen nun ein, immer begünstigt durch die einseitig gerichtete Aufmerksamkeit und das tendenziöse Interesse, mit dem Feind in Fühlung zu bleiben, einer Überrumpelung vorzubeugen. Solange diese Entwertungstendenz mit ihren peripheren Ausläufern, Misstrauen, Furcht, Eifersucht, Herrschsucht besteht, kann von einer Heilung der Neurose nicht die Rede sein. Grosse, vielfach anerkannte Leistungen der Kunst und Literatur danken dieser Tendenz, wie wir gesehen haben, ihren Ursprung. Von der „Lysistrata“ zu den „Kreuzelschreibern“ führt die gleiche Linie wie von der Gorgo Medusa zu der Syphilisfratze, die vor Lenaus oder Ganghofers Augen aufstieg. Die Leitlinie, die in Tolstois Kreuzersonate nachschwingt und die Herabsetzung der Frau anstrebt, war schon in den Knabenjahren sichtbar, als er seine künftige Braut aus dem Fenster stiess. Zur Syphilidophobie wird eine alte Leitlinie durch Formenwandel, die im Mythus vom Giftmädchen[1] im Altertum, im Mittelalter und


  1. Wilhelm Hertz, Die Sage vom Giftmädchen. Abh. d. bayer. Akademie d. Wissenschaften 1897.
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/187&oldid=- (Version vom 31.7.2018)