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Unter den übrigen Autoren, die kein primum movens, sondern ein Zusammen- und Aufeinanderwirken mehrfacher Organminderwertigkeiten zur Grundlage ihrer Anschauung genommen haben, ist vor allem Martius zu nennen. Ebenso erscheint in meiner Darlegung „über Minderwertigkeit von Organen (1907)“ die Koordination der gleichzeitigen Minderwertigkeiten in den Vordergrund gerückt. Die Tatsache ist nicht gering zu veranschlagen, „dass die gleichzeitig minderwertigen Organe wie in einem geheimen Bunde zu einander stehen.“ Auch Bartel hat seine Anschauungen über den Status thymico-lymphaticus, die eine erhebliche Bereicherung der Wissenschaft darstellen, bereits soweit ausgedehnt, dass ihre Grenzen die der Systeme anderer Autoren längst überkreuzen. Und Kyrle ist auf selbständigen Bahnen unter Anführung völlig neuer pathologischer Befunde zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie ich, als ich auf Grund meiner Beobachtungen erklärte, dass die Koordination von Minderwertigkeiten des Sexualapparates und anderer Organe — oft nur wenig ausgeprägt, aber so häufig vorzufinden ist, „dass ich behaupten muss, es gibt keine Organminderwertigkeit ohne begleitende Minderwertigkeit des Sexualapparates.“

Späterer Erörterungen wegen muss ich noch die Anschauung Freuds erwähnen, der die Bedeutung einer „sexuellen Konstitution“ für die Neurose und Psychose hervorhebt und darunter eine nach Qualität und Quantität verschiedene Anordnung von sexuellen Partialtrieben versteht. Diese Auffassung entspricht bloss einem Postulat seiner sonstigen Anschauungen. Die Ausbildung perverser Triebe und ihre „missglückte Verdrängung“ ins Unbewusste soll das Bild der Neurose ergeben, und stellt selbst ein primum movens für die neurotische Psyche dar. Es wird sich aus unseren Ausführungen ergeben, dass die Perversion, sofern und soweit sie in der Neurose und Psychose zur Ausbildung gelangt, nicht von einer angeborenen Triebkraft, sondern durch einen fiktiven Endzweck konstituiert wird, wobei sich die Verdrängung als Nebenprodukt unter dem Druck des Persönlichkeitsgefühls ergibt. Was aber biologisch an einem ursprünglich abnormen sexuellen Verhalten in Betracht kommt, die grössere oder geringere Sensibilität, Erhöhung oder Verminderung der Reflexaktion, die funktionelle Wertigkeit sowie der kompensatorische psychische Überbau, führt direkt, wie ich in der „Studie“ gezeigt habe, auf angeborene Minderwertigkeit des Sexualorgans zurück.

Über die Art der Krankheitsbereitschaft bei Organminderwertigkeit herrscht Einigkeit. Der von mir eingenommene Standpunkt („Studie“ l. c.) hebt mehr wie der anderer Autoren die Sicherung eines Ausgleiches durch Kompensation hervor. „Mit der Loslösung vom mütterlichen Organismus beginnt für diese minderwertigen Organe und Organsysteme der Kampf mit der Aussenwelt, der notwendigerweise entbrennen muss und mit grösserer Heftigkeit einsetzt als bei normal entwickeltem Apparat. Diesen Kampf begleiten die höheren Krankheits- und Sterbeziffern. Doch verleiht der fötale Charakter zugleich die erhöhte Möglichkeit der Kompensation und Überkompensation, steigert die Anpassungsfähigkeit an gewöhnliche und ungewöhnliche Widerstände und sichert die Bildung von neuen und höheren Formen, von neuen und höheren Leistungen. So stellen die minderwertigen Organe das unerschöpfliche Versuchsmaterial dar, durch dessen fortwährende

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/19&oldid=- (Version vom 31.7.2018)