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Kyrle gefunden und als charakteristisch hervorgehoben wurden. Die Haut ist allenthalben überempfindlich, und das Kitzelgefühl an den disponierten Stellen auffallend erhöht. Das Kind verlangt oft gekitzelt zu werden. Die Ängstlichkeit des Kindes übersteigt das normale Mass. — Als weiteres organisches Minderwertigkeitszeichen ist auch eine hervorstechende Schiefstellung der Schneidezähne anzusehen, die auf Minderwertigkeit des Magen-Darmtraktes hinweist. Der Rachenreflex ist deutlich erhöht.

Man gewinnt aus diesem Ensemble von Erscheinungen den Eindruck, dass auch die Reflextätigkeit des Magen-Darmtraktes erhöht ist. In der Tat hat das Kind in den ersten 3 Jahren häufig erbrochen. Die zahlreichen Dyspepsien weisen gleichfalls auf die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes hin. Vor einem Jahre stellte sich anschliessend an ein Ekzem des Afters, — Ende des minderwertigen Darmtraktes, — ein mehrere Monate anhaltendes Jucken im After ein, das von dem Hausarzte unter suggestiver Behandlung mit Zuhilfenahme einer indifferenten Salbe geheilt wurde.

Der schmerzhafte Druck im Magen erwies sich als ein psychischer Reflex, der jedesmal eintrat, wenn das Kind in der Schule oder im Haus eine Herabsetzung befürchtete.[1] Der Endzweck dieses auf dem Boden der Organminderwertigkeit vorgebildeten Reflexes lag in dem Bestreben, einer Strafe vorzubeugen und das Interesse der etwas barschen Mutter, die das jüngere Mädchen bevorzugte, auf sich zu lenken. Zur Fixierung und zur offensichtlichen Aggravation kam es offenbar nach inneren Wahrnehmungen dieser erhöhten Reflextätigkeit, sobald das Kind nach einer brauchbaren Leitidee ausschaute, um sein Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen. Spontane Äusserungen über spurweise Vorstellungen künftiger Gravidität, — als des zu erwartenden Schicksals einer weiblichen Rolle, konnte ich wegen der Kürze der Kur nicht wahrnehmen. Die Anfälle verschwanden nach kurzer Zeit, nachdem ich dem Kinde den Zusammenhang klargemacht hatte. Ein Traum nach einem dieser Anfälle deutet in die oben geschilderte Richtung. Sie träumte: „Meine Freundin war unten. Dann spielten wir miteinander.“

Ihre Freundin war bevorzugte Rivalin in der Schule. Es setzte oft Kämpfe mit ihr ab, ohne dass es zu Handgreiflichkeiten kam. Sie wohnte wohl ein Stockwerk höher, und der gemeinsame Spielplatz war stets die Wohnung unserer Patientin. Aber die Ausdrucksweise in der Traumerzählung war auffallend genug. Als ich das intelligente Kind fragte, ob man denn sage: „die Freundin war unten“, wenn die Erzählerin mit ihr spielte, besserte es sofort aus: „sie war bei mir“. Nehmen wir aber an, dass die Ausdrucksweise richtig und der Akzent auf dem „unten“ ruht, dann verbirgt sich dahinter der Gedanke, dass die Rivalin wie in einem Kampfe unserer ehrgeizigen Patientin unterlegen war. „Die Freundin war unten“ heisst demnach: „ich war oben“, eine Auffassung, durch die man dem Standpunkt der Redenden erst gerecht wird. Auch das „Dann“ zeigt in die gleiche Richtung. Es bekommt erst seinen


  1. R. Stern hat ähnliche Erscheinungen, von denen in diesem Buche mehrmals die Rede war, als „präaktive Spannungen“ beschrieben. Aus meinen Darlegungen geht hervor, dass es sich um die planvolle, wenn auch unbewusste Verwendung der Reflexerregbarkeit minderwertiger Organsysteme („Studie“ l. c.) handelt, um „intelligente Reflexe“.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/194&oldid=- (Version vom 31.7.2018)